Heute könnte ein großer Tag werden. Am Nachmittag ist das Vorstellungsgespräch beim Chef meines Exkollegen. Ich wache voller Energie auf und bin gespannt, wie es laufen wird. Doch erst mal kommt ein Brief von der Arbeitsagentur. Was mag das wohl wieder sein? Ich reiße den Umschlag auf. Es ist ein Schreiben meiner Jobberaterin Frau Mayer. Der Betreff lautet »1. Einladung«.
»Sehr geehrte Frau Berger«, schreibt sie. »Ich möchte mit Ihnen über Ihr Bewerberangebot bzw. Ihre berufliche Situation sprechen. Das ist eine Einladung nach § 309 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in Verbindung mit § 144 SGB III. Bitte beachten Sie unbedingt die nachfolgenden Rechtsfolgenbelehrungen« und so weiter und so fort. Die Rechtsfolgenbelehrung kenne ich ja schon. Wenn ich »ohne wichtigen Grund« nicht erscheine, wird mir eine Sperrzeit beim Arbeitslosengeld verpasst. Es liegt ein Formular bei. Hier kann ich ankreuzen und ausfüllen, warum ich der Einladung möglicherweise nicht folgen werde.
Ich versuche ruhig zu bleiben, es nicht persönlich zu nehmen. Ich weiß, es ist ein Standardbrief. Er trägt nicht einmal eine Unterschrift. Wer weiß, ob ihn Frau Mayer überhaupt selbst ausgedruckt hat.
Ich überlege kurz, ob ich mit dem Hinweis auf die laufende Bewerbung und meine Vorbereitungen für den Gründungszuschuss absagen soll. Ich kann das nicht schnell mit Frau Mayer direkt besprechen, da ich weder ihre Durchwahl noch ihre E-Mail-Adresse habe. Auf den Schreiben sind immer nur die Hotline und eine zentrale E-Mail-Adresse angegeben. Ich könnte also nur bei der Hotline anrufen und um einen Rückruf bitten, aber das ist mir jetzt zu kompliziert. Ich beschließe, erst einmal abzuwarten. Der Termin ist in drei Wochen. Wer weiß, was bis dahin passiert. Absagen kann ich dann immer noch.
Inzwischen erkläre ich mir diese Briefe voller Belehrungen und Drohungen so: Es ist unmöglich, bei Millionen Arbeitslosen ständig zu kontrollieren, ob jeder seine gesetzlich festgelegten »Pflichten« erfüllt, ob zum Beispiel wirklich jeder jeden Tag gesund ist, nicht einen Tag nicht gemeldeten Urlaub bei der Schwiegermama macht und auch brav Bewerbungen auf jeden zumutbaren Job schreibt, selbst wenn das 30 Prozent Einkommensverlust bedeutet. Das ist schlimmer, als einen Sack Flöhe zu hüten. Deswegen versuchen die Arbeitsagenturen, eine Autorität aufzubauen wie ein böser Lehrer alter Schule, der mit dem Stock droht, falls die Kinder nicht spuren. Dahinter steht das Bild des unmündigen Arbeitslosen, der geführt werden muss, weil er nicht von sich aus alles dafür tut, aus der Phase der Joblosigkeit zu kommen. Dem entsprechen die Briefe: Sie sind von vorneherein serienmäßig in einer Sprache der Drohung verfasst. »Tu bloß nichts Unrechtes! Wir erwischen dich und die Strafe wird dich hart treffen«, wird jedem Empfänger auf diese Weise vorsorglich gedroht, als hätte der arbeitslose Mensch per se eine Tendenz zum Faulsein und Regelbrechen.
Am Nachmittag mache ich mich auf den Weg zu dem Bewerbungsgespräch. Ich kämpfe mich in einem wahren Schneesturm zu der Firma. Es hat erst heute angefangen zu schneien, aber alle Straßen sind mit Schnee bedeckt, es ist rutschig und die Sicht ist schlecht. Schneeflocken fliegen mir ins Gesicht. »Warum musst du auch immer mit dem Fahrrad fahren?«, schimpfe ich mich. »Andere Bewerber nehmen doch auch das Auto oder die U-Bahn!« Ich stelle mir vor, wie ich in eleganten und sauberen Bewerberschuhen aus dem Auto steige, das ich direkt vor dem Eingang abgestellt habe. Stattdessen habe ich dicke Stiefel an und Wäscheklammern an den Hosenbeinen, damit sie nicht in die Speichen geraten. Gestern bin ich den Weg schon einmal gefahren, um zu sehen, wie lange ich brauche und wo genau das Büro liegt. Darüber bin ich heute froh, denn wegen des Schneegestöbers dauert alles länger. Ich wäre in Stress geraten, wenn ich mich erst heute hätte orientieren müssen.
Nachdem ich mein Rad geparkt habe, muss ich mich erst einmal abklopfen und mich von den Wäscheklammern und der Extralage Schal und Mütze befreien, damit ich überhaupt erkennbar bin. Weitgehend in Ordnung gebracht, spreche ich bei der Sekretärin vor. Sie macht einen sehr netten Eindruck. Das freut mich. Es spricht für die Stelle. Sie führt mich in einen Besprechungsraum, der etwas chaotisch aussieht. Auf dem Boden stapeln sich Broschüren, auch auf den Fensterbrettern steht Krimskrams. Es ist unendlich heiß. Ich reiße das Fenster auf. Ich will abkühlen, bevor mein möglicher neuer Vorgesetzter kommt. Auf keinen Fall will ich ihm eine schwitzige Hand entgegenstrecken müssen.
Da steckt die Sekretärin den Kopf zur Tür herein. »Setzen Sie sich doch schon mal, Frau Berger. Herr Schrader kommt gleich«, sagt sie.
Ich setze mich nach einigem Zögern tatsächlich, stehe aber gleich wieder auf. Mir ist jetzt nicht nach Sitzen zumute. Ich bin zu unruhig und ich möchte auch nicht, dass mich Herr Schrader sitzend antrifft. Ich bilde mir ein, der Eindruck wäre besser, energischer, wenn ich stehe und ihm gleich zur Begrüßung entgegengehen kann.
Aber es kommt erst einer seiner Mitarbeiter. Ich erkenne ihn sofort, weil ich sein Foto gestern auf der Webseite des Unternehmens gesehen habe. Er trägt keinen Anzug und ich überlege kurz, ob ich overdressed bin, verwerfe aber den Gedanken gleich wieder und beschließe: Als Bewerberin bin ich genau richtig angezogen.
Wir setzen uns gegenüber, einen kurzen Moment herrscht ein seltsames Schweigen. Ich versuche es zu brechen, um die Stimmung zu verbessern.
»Sie haben bestimmt viel zu tun. Die Stelle ist ja schon seit ein paar Wochen unbesetzt«, sage ich also, um das Gespräch zu eröffnen. Das in der Stellenanzeige angegebene Eintrittsdatum liegt schon zwei Wochen zurück, mein Exkollege hat sogar früher aufgehört, weil er Resturlaub hatte.
Das war ein guter Einfall. So kommt er ins Erzählen, spricht viel über die Position und redet sich in Schwung. Allerdings halte ich seinen Redefluss mit ein paar Zwischenfragen auch bewusst am Laufen. Aus seinen Erklärungen wird mir klar, dass er mein direkter Kollege wäre, mit dem ich das Zimmer teilen würde. Er wirkt sympathisch. Es vergehen bestimmt zehn Minuten, bis der Vorgesetzte auf einmal ins Zimmer kommt. Er rauscht einfach herein.
Ich stehe auf, um ihn zu begrüßen und – bilde ich es mir ein? – habe den Eindruck, dass er kurz erschrocken aussieht. Erinnere ich ihn vielleicht an jemanden? Komisch.
Auch er erzählt gleich drauflos. Ich werfe hin und wieder eine Frage ein und bin froh über die Schonfrist. Zwar wiederholt er nur, was der Kollege erzählt hat und was ich im Groben aufgrund meiner Vorbereitung schon alles weiß, aber ich kann mich dadurch akklimatisieren, bevor ich mit den typischen Bewerbungsgesprächsfragen konfrontiert werde. Denn sie kommen unweigerlich: die Fragen zu meinem Lebenslauf, zu meiner letzten Position, zu meinen Vorstellungen. Ich beantworte alles brav und meine Antworten genügen, denke ich, auch den Erwartungen. Allerdings halte ich mich für zu zurückhaltend, komme aber irgendwie nicht aus mir heraus. So plätschert das Gespräch über eine Stunde dahin. Es ist angenehm und sympathisch, ohne Hochs und Tiefs, ohne Auffälligkeiten oder Besonderheiten. Ist das womöglich ein Manko? Müsste ich mehr Begeisterung zeigen? »Leidenschaft«, wie der eine Abteilungsleiter in der Exarbeit forderte?
Während es damals der Chef war, der fragte, ist es hier der Mitarbeiter, der die Fragen stellt und das Gespräch führt. Kann ich daraus schließen, dass der Chef nicht sehr autoritär ist? Oder ist das abgesprochen, damit der Vorgesetzte besser beobachten und zuhören kann? Es ist auch der Mitarbeiter, der schließlich das Gespräch mit einem »Ja, gut« beendet. Wir stehen auf und ich bin kurz unschlüssig, ob ich mir meinen Mantel selbst holen kann – tue das aber einfach, nachdem keiner der beiden Anstalten dazu macht. Es war die richtige Entscheidung. Sie bleiben auch stehen, als ich ihn anziehe, helfen mir nicht hinein. Plötzlich kommen wir wieder ins Gespräch, ich schon gehbereit in Mantel und Schal. Es ist ein belangloser Small Talk, der sich unangenehm in die Länge zieht. Der Chef redet über die »Ja, gut« des Mitarbeiters mehrmals hinweg. Das macht es schwierig für mich, den passenden Zeitpunkt zum Gehen zu finden. Endlich schaffe ich den Absprung und verabschiede mich.
Sie bleiben beide im Besprechungszimmer zurück. Da fällt nun unweigerlich das Urteil über mich, während ich die Treppe hinuntereile. Eineinhalb Stunden war ich insgesamt dort.
»Ist das eine Arbeit, die du machen willst?«, frage ich mich, als ich nach Hause fahre. »Siehst du dich dort? Ist es besser als selbstständig zu sein?« Es ist eine Arbeit, die ich machen kann, so viel steht fest. Es ist nicht mein Traumjob, aber ich kann es mir vorstellen. Einen Haken hat die Stelle: Sie ist auf ein Jahr befristet. Oder könnte das vielleicht sogar ein Vorteil sein? »Nach dem einen Jahr kannst du dich immer noch selbstständig machen«, sage ich mir.
»Und wie war’s?«, fragt Johannes, als ich zur Tür hereinkomme.
»Gut. Glaube ich. Sie haben noch vier weitere Bewerber zum Vorstellungsgespräch eingeladen.«
»Und willst du das machen?«
»Ich weiß nicht«, antworte ich zögernd und sage dann schnell: »Du musst es auch entscheiden. Es würde bedeuten, dass ich wieder jeden Abend so spät wie heute, eher noch später nach Hause komme, wenn der Kleine schon schläft.«
»Meinetwegen musst du das nicht machen«, sagt da Johannes sofort. Er hat offensichtlich auf einmal Panik davor, wieder ganztags allein für die Kinder zuständig zu sein.
Nach ein paar Minuten fragt er: »Ab wann wäre das denn?«
»Ab nächsten Monat.«
»Also in zwei Wochen.«
Da erschrecke ich. Das scheint so bald! Wird sich so schnell alles ändern? Sitze ich tatsächlich in 14 Tagen im Büro neben Herrn Schrader? Ich kann es nicht glauben.
Später ruft mein Bruder an. Er ist gerade auf Kur.
»Der Arzt hat gesagt, dass manche Krebskranke hohe Kredite aufnehmen und zu sehr für die Zukunft planen …«
Ich bin alarmiert. Ich will, dass es meinem Bruder gut geht, dass er jetzt gesund bleibt. Es kann doch nicht sein, dass er sich von diesem Kurarzt eine kürzere Lebenserwartung einreden und sich frustrieren lässt. Und das jetzt, wo er alles so tapfer durchgestanden hat!
»Was soll das denn?«, unterbreche ich deswegen etwas kritisch.
»Er meint, dass man nicht so weit vorausdenken soll, sondern lieber das Leben im Moment genießen.«
»Na ja, das gilt doch für jeden. Für mich auch.«
»Ja, aber es ist schon so, dass die Lebenserwartung nach einer Krebserkrankung kürzer ist.«
»Ich kann auch morgen vom Auto überfahren werden«, werfe ich ein.
»Klar, das sagt er auch«, verteidigt mein Bruder den Arzt, der ihn offenbar mit seinem Spruch beeindruckt hat. »Aber trotzdem ist das Risiko bei Krebskranken höher. Er hat recht, was soll man denn immer an das Rentenalter denken.«
»Ja, stimmt«, lenke ich ein. Dann erzähle ich ihm von meinem Vorstellungsgespräch. »Wie würdest du denn in meinem Fall bei einer Zusage entscheiden? Die einigermaßen gut bezahlte Festanstellung nehmen oder dich selbstständig machen?«, frage ich ihn.
»Das kommt darauf an, was du machen willst«, spielt er den Ball wieder an mich zurück.
»Ja, wollen – selbstständig sein.«
»Wenn du weißt, dass du davon leben kannst.«
»Das weiß ich eben nicht!«, gebe ich zu und wechsle das Thema. Als hätte ich es nicht vorher gewusst: Ich kann fragen, wen ich will – ich bin danach so schlau wie zuvor. Es scheint kein Argument zu geben, auf das ich nicht schon selbst gekommen wäre. Wenn ich nach dem Motto dieses Kurarztes leben wollte, würde ich mich natürlich selbstständig machen. Aber gilt das Motto auch, wenn man Verantwortung für eine Familie hat? Weil ich nicht weiterweiß, schiebe ich die Entscheidung auf das Unternehmen. Das scheint mir gerade am einfachsten. »Vielleicht sagen sie mir ja ab«, denke ich mir. »Und wenn sie dir zusagen?«, piekst mich eine Stimme, die keine Ruhe geben will.
Wenn sie mir zusagen, dann mache ich es, glaube ich.