Die Kündigung

Die folgenden Tage warte ich auf die Kündigung. Es macht mich unruhig zu wissen, dass sie kommen wird. Ich will es hinter mich bringen. Jedes Mal, wenn ich den Postboten sehe, denke ich: »Jetzt ist es so weit.« Aber das ist es nicht. Herr Roth lässt sich Zeit. Das hat etwas von Folter. Ich wundere mich, wo die Kündigung bleibt, nachdem der Firma jetzt die Genehmigung vom Gewerbeaufsichtsamt vorliegt.

Diese Warterei weckt unrealistische Hoffnungen in mir. Ich weiß das, kann die Gedankenspielerei aber dennoch nicht abstellen: »Wollen sie mich etwa doch behalten? Tut sich irgendetwas im Unternehmen?«, frage ich mich.

Als ich tatsächlich schon überlege, anzurufen und nachzuhaken, kommt mir Herr Roth zuvor. Er klingelt wieder um die Mittagszeit. Diesmal habe ich schon gegessen. Ich bin gerade dabei, den Tisch abzuräumen.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir Ihnen die Kündigung zustellen. Das Gewerbeaufsichtsamt hat ja jetzt zugestimmt.«

»Mhmh.« Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll, und beschließe, wenigstens einen Laut von mir zu geben.

»Sie müssen aber nicht zu Hause warten. Wir schicken extra einen Kurier, der ist gleich da.«

Na, das ist ja mal ein Service, denke ich. Ich hatte auch nicht vor, stundenlang zu Hause zu warten, um die Kündigung entgegennehmen zu dürfen! Im Gegenteil, jetzt wo ich weiß, dass sie kommt, will ich am liebsten ganz weit weg sein.

Tatsächlich klingelt es wenig später. Ein hochsommerlich gekleideter Kurier mit Schnauzer steht vor der Tür. Er trägt gelbe Shorts, die untrainierte Oberschenkel frei lassen. Ella ist auf das Klingeln hin in den Gang gerast und staunt ihn verwundert an.

Da steht er mit beigen Strümpfen in braunen Sandalen, etwas verlegen, und wartet darauf, dass der Empfang des Briefes bestätigt wird. Ich schreibe meinen Namen bemüht deutlich, was ich sonst nie mache. Will ich der besonderen Bedeutung dieses Moments gerecht werden? Ich halte meine erste Kündigung in der Hand. So unspektakulär gehen 15 Arbeitsjahre zu Ende.

Ich reiße das Kuvert gleich auf. Früher oder später muss ich den Brief ja sowieso lesen und ich will jetzt wissen, was genau drinsteht, wie so etwas formuliert wird. Johannes sieht mir neugierig über die Schulter, wendet sich aber schnell wieder ab. Das ist ihm jetzt zu viel Text. Er will raus an die Sonne und verabschiedet sich zusammen mit Ella, um ins Schwimmbad zu gehen.

Da stehe ich nun mit meiner Kündigung allein im Gang. Ich hatte sie mir anders vorgestellt. Nirgendwo steht das Wort »Kündigung«. Es steht auch nirgendwo ein Wort des Dankes für die gute langjährige Zusammenarbeit. Ein Satz stößt mir besonders auf. Im zweiten Absatz wird auf die Stellungnahme des Betriebsrats verwiesen und dann heißt es: »Das Gewerbeaufsichtsamt hat der Kündigung ebenfalls zugestimmt.« Das Wort »ebenfalls« stimmt nicht, stelle ich spitzfindig fest. Zwar hat das Amt zugestimmt, der Betriebsrat aber widersprochen, denn Herr Roth hat den Widerspruch sogar beigelegt. Nur hilft es mir leider gar nichts, diese Ungenauigkeit entdeckt zu haben.

Ich schaue mir den Widerspruch des Betriebsrats an. Es ist mir so unglaublich unangenehm und peinlich, nun lesen zu müssen, dass meine Kündigung eine »besondere soziale Härte« ist, weil ich zweifache Mutter und »Ernährerin« meiner Familie bin. Diesen rührseligen Widerspruch habe ich nicht nötig! Ich will doch nicht angestellt bleiben, weil ich ein sozialer Härtefall bin, sondern weil ich zum Unternehmen dazugehöre!

Mein Entsetzen wird noch größer, als ich wieder zur ersten Seite mit der Kündigung zurückblättere. Hier wird mir im letzten Absatz unter die Nase gerieben: »Wir weisen Sie darauf hin, dass Sie zur Aufrechterhaltung ungekürzter Ansprüche auf Arbeitslosengeld verpflichtet sind, sich rechtzeitig beim Arbeitsamt arbeitssuchend zu melden. Weiterhin sind Sie verpflichtet, aktiv nach einer Beschäftigung zu suchen.«

Es wäre mir lieber gewesen, diesen Satz nicht lesen zu müssen. Er kommt einer Vorverurteilung gleich. Natürlich suche ich »aktiv« nach einer Beschäftigung. Ich empfinde es als demütigend, auf diese Weise ermahnt zu werden. Ich ärgere mich über diese unnötige Maßregelung und vermute, dass der Gekündigte so auf seinen Platz verwiesen werden soll, damit er ja nicht auf die Idee kommt, mit dem Arbeitslosengeld ein Jahr Faulenzen einzulegen.

Ich faxe die Kündigung sofort meiner Anwältin und rufe sie kurz darauf an. Das macht nichts besser. Sie spricht von einem »höchstinstanzlichen Urteil«, das leider meine Chancen drastisch verschlechtern würde. Deswegen habe auch das Gewerbeaufsichtsamt zugestimmt.

Wenn ich sie richtig verstehe, ist mein Pech, dass mein Arbeitgeber aus einem Sammelsurium an Tochterunternehmen besteht. Das Bundesarbeitsgericht hat geurteilt, dass es keine konzernübergreifende Sozialauswahl gibt, wenn eine Tochterfirma geschlossen wird und deren Betriebszweck wegfällt. Das bedeutet für mich, dass mein Arbeitgeber mich nicht in eine andere Tochterfirma übernehmen muss und eine Kündigungsschutzklage erfolglos wäre. Für mich Laien ist das schwer nachvollziehbar. Nur weil unser Unternehmen laufend Tochtergesellschaften ausgegliedert hat, gehört schließlich dennoch alles zusammen.

Schlimmer als die Information über dieses Urteil ist aber meine Enttäuschung darüber, dass die Anwältin das einfach hinnimmt. Ich hätte mir energischen Zuspruch erwartet, in der Art: »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir boxen Ihr Recht durch! Und wenn wir dafür vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen müssen. Sie werden Rechtsgeschichte machen!«

Stattdessen bittet sie darum, ihr das Abfindungsangebot zu faxen, sobald ich es habe.

Das Abfindungsangebot erhalte ich nur wenige Tage später. Als es mir übergeben wird, sitze ich im Büro von Herrn Roth, meinem Personalreferenten. Ich schreibe aus reiner Gewohnheit »mein«, tatsächlich sehe ich Herrn Roth, seit er mir gekündigt hat, nicht mehr als »meinen« Referenten an.

Er gehört jetzt zur Gegenseite.

Wer genau diese Gegenseite ist, ist schwer zu bestimmen. Es ist kompliziert, einen Schuldigen zu finden für das Aus des Projekts, für die Kündigungen, für die »Abwicklungsvereinbarungen«, für den Umgang mit uns betroffenen Mitarbeitern.

»Abwicklungsvereinbarung« nennt Herr Roth die Sache mit der Abfindung. Der Deal ist, dass man unterschreibt, nicht gegen die Kündigung zu klagen, und dafür einen Batzen Geld erhält. So ist es im Kündigungsschutzgesetz geregelt. In § 1a steht: Bei Kündigungen aus betrieblichen Erfordernissen hat der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Abfindung – solange er nicht klagt.

Meistens hört man von Abfindungen, die Managern gezahlt werden. Das sind dann gleich mehrere Millionen Euro. Bei ganz normalen Mitarbeitern ist dieser Haufen ungleich kleiner. Würde man ihn neben eine Managerabfindung legen, wäre er kaum zu sehen – wer einen Größenvergleich braucht, kann sich den Managerbatzen in Größe einer mit 500-Euro-Scheinen gefüllten Badewanne vorstellen, der Mitarbeiterbatzen passt locker in eine Hand. Um ein paar Zahlen zu nennen: Arcandor-Chef Karl-Gerhard Eick bekam nach sechs Monaten Einsatz 15 Millionen Euro und Porsche-Chef Wendelin Wiedeking erhielt bei seinem Abgang satte 50 Millionen Euro.

Während bei Managern die Abfindung nichts anderes ist als die Auszahlung der Restlaufzeit ihres Vertrages, soll die Abfindung den einfachen Mitarbeiter für den Verlust seines Arbeitsplatzes entschädigen. Dafür ist sie jedoch bei Weitem nicht hoch genug, in der Wirtschaftskrise, die es schwer macht, eine neue Stelle zu finden, sowieso nicht. Sie wird schließlich auch noch versteuert. Normalerweise orientiert sich die Abfindung an den Jahren der Betriebszugehörigkeit und dem sozialen Status, also dem Familienstand. Laut Kündigungsschutzgesetz steht dem Arbeitnehmer ein halbes Monatsgehalt pro Jahr der Betriebszugehörigkeit zu.

Als ich mich auf den Weg zu Herrn Roth mache, weiß ich, dass es um die Abfindung geht. Ich bin hin- und hergerissen. Einerseits tut es gut, mal wieder unterwegs zur Arbeitsstelle zu sein, andererseits gibt es wahrlich schönere Anlässe.

Seine Bürotür steht offen, ich klopfe trotzdem, um auf mich aufmerksam zu machen.

»Hallo, Herr Roth.« Wir schütteln uns die Hand.

Während ich an dem kleinen Besprechungstisch Platz nehme, sucht er auf dem Schreibtisch nach den Unterlagen. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass er älter geworden ist. Wir kennen uns jetzt seit 15 Jahren, genauso lange wie ich im Unternehmen bin. Das ist eine lange Zeit. Die geht nicht spurlos an einem vorüber. Ich überlege, ob er wohl auch manchmal zurückdenkt. Erinnert er sich daran, wie ich ihm als blutige Anfängerin gegenübersaß, startbereit und voller Tatendrang? Ich versuche aus dem Fenster zu sehen, blicke aber nur auf einen Ficus benjamini. Ich empfinde die Situation als äußerst unangenehm, bin aber auch gespannt, wie der Verlauf des Gesprächs sein wird.

Nachdem sich Herr Roth mir gegenübergesetzt hat, verfallen wir erst einmal in Smalltalk und reden mit einer Ernsthaftigkeit über das Wetter und das Essen in der Kantine, als wäre ich nur zu diesem Zweck gekommen.

Ich gewinne bald den Eindruck, dass Herr Roth bemüht ist, sich als verantwortungsvollen Personaler darzustellen. Er kommt immer wieder zu dem Punkt, was »den Menschen« wichtig ist und was »die Menschen« brauchen und was man für sie tun muss. Er sagt nie Mitarbeiter, er sagt immer nur »Menschen«.

Jetzt sitzt ihm also der Mensch Julia Berger gegenüber und dieser Mensch weiß, dass es jetzt langsam ernst werden muss. Und tatsächlich, Herr Roth schlägt seine Mappe auf.

Ich höre, wie er sagt: »Es ist besonders unangenehm, dass es in diesem Fall mehrere junge Familien trifft«, und mir fällt auf, dass er immer kleiner wird und im Laufe des Gesprächs immer tiefer in den Stuhl rutscht. Er liest mir die für mich aufgesetzte Abwicklungsvereinbarung vor. Als er bei der Höhe der Abfindung ist, guckt sein Kopf gerade noch über die Tischkante.

Als ich die Summe höre, bin ich verwundert, was man mir sicher anmerkt. Der Betrag ist deutlich niedriger, als ich ihn mir ausgerechnet habe. Ich unterbreche ihn beim Vorlesen.

»Entschuldigen Sie, dass ich kurz unterbreche, aber bei meiner Betriebszugehörigkeit …«

Herr Roth lässt mich nicht zu Ende sprechen: »Sie haben gar keine Betriebszugehörigkeit. Sie haben einen neuen Arbeitsvertrag bei einem neuen Unternehmen unterschrieben. Ich habe einen Kompromiss gefunden.« Das spielt wohl auf meinen Wechsel in eine Tochtergesellschaft vor wenigen Jahren an.

Ich halte es für das Klügste, auf diese Belehrung hin zu schweigen. Nachher werde ich das ganze Ding der Anwältin faxen und dann werde ich schon erfahren, ob er recht hat. Aber meine Konzentration ist dahin, ich höre ihm nicht mehr zu, als er fortfährt, die Vereinbarung vorzulesen. Ich denke über seine Worte nach. Er sagte »Ich habe einen Kompromiss gefunden«. Aber ich nehme nicht an, dass Herr Roth über die Höhe der Abfindung entscheidet. Da ist sie wieder. Die Schuldfrage. Der kleine Chef ist nicht schuld, er hätte gerne das Projekt weitergeführt und seine Mitarbeiter behalten. Der große Chef ist auch nicht schuld, er hat die Entwicklung zwar wohl früher kommen sehen, aber aufhalten konnte er sie nicht. Auch Herr Roth ist nicht schuld. Er macht seinen Job, hat aber den Anlass dazu nicht zu verantworten. Die Schuld liegt weiter oben bei den ganz großen Herren in Anzügen, die die Einstellung entschieden haben. Doch sicherlich befassen sie sich nicht mit so Kleinigkeiten wie den Jahren der Betriebszugehörigkeit der zu kündigenden Mitarbeiter.

Als Gekündigter siehst du dich plötzlich einem ungerechten System gegenüber. Sobald du meinst, einen Einzelnen in die Verantwortung nehmen zu können, rinnt dir dessen Schuld wieder durch die Finger. Es gibt keine Person, auf die du deine Wut und Verletztheit richten kannst. Du bist und bleibst gekündigt und fühlst dich mies behandelt.

Das Zuklappen der Mappe holt mich aus meinen Gedanken wieder in die Gegenwart zurück.

Herr Roth sieht mich an. »Am besten, Sie lesen sich das in Ruhe durch und melden sich dann bei mir«, sagt er. »Ich bin jetzt zwei Wochen in Urlaub, aber dann wieder für Sie zu erreichen.« Er gibt mir seine Visitenkarte. »Hier haben Sie alle meine Daten, auch die E-Mail-Adresse.«

Als wüsste ich nach all den Jahren seine Durchwahl und E-Mail-Adresse nicht auswendig.

Ich verlasse Herrn Roth sehr konsterniert. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich einmal über die Jahre meiner Betriebszugehörigkeit streiten müsste. Ich war so naiv zu glauben, es werde schon alles berücksichtigt. Ich verstehe ihn auch nicht. Für das Unternehmen wäre das eine kleine Geste und eine verschwindend geringe Summe, und ich wäre zufrieden. Dieses Geschachere um die Dauer meiner Arbeitszeit ist so unnötig.

Als ich nach Hause komme, steht Johannes in der Küche und brät Reibekuchen.

»Und, wie war’s?«, fragt er fröhlich mit dem Pfannenheber in der Hand. Ich weiß nicht, ob er wirklich fröhlich ist oder betont gute Stimmung verbreiten will, weil ich von einem ernsten Abfindungsgespräch komme. Aber ich habe gerade keine Energie, mir darüber Gedanken zu machen. Eines ist auf jeden Fall klar: Ich bin heute arm dran.

»Beschissen, furchtbar. Ich bin total erschüttert«, antworte ich dementsprechend.

Johannes lässt den Pfannenheber sinken: »Was ist denn los?«

»Die rechnen mir nicht meine gesamte Betriebszugehörigkeit an. Sie klauen mir einfach ein paar Jahre!« In meinem Ton schwingt Empörung mit. Habe ich nicht auch alles Recht, mich zu beschweren? So eine Schweinerei, und das nach all den Jahren, in denen sie angeblich so zufrieden mit mir waren.

»Nimm die Abfindung und lass es gut sein. Sei froh, dass du überhaupt etwas bekommst.« Er will mich trösten. Und ich bin mir unsicher, ob er recht hat oder nicht. Aber ich will jetzt nicht vernünftig sein. Mein Gerechtigkeitsgefühl ist verletzt. Auch mein Stolz ist verletzt und ich bin nicht zu trösten. Basta.

Ich faxe den Wisch der Anwältin, telefonisch erreiche ich sie nicht. Dann gehe ich Laufen, um mich abzureagieren. Aber Herr Roth läuft mit seiner blöden Abwicklungsvereinbarung die ganze Zeit mit. Wen oder was wickelt er damit eigentlich ab? Das Projekt? Den Job? Mich? Hat er mich also damals, als ich im Unternehmen anfing, aufgewickelt? Heißen Arbeitsverträge im Personaler-Deutsch womöglich Aufwicklungsvereinbarungen? »Frau Müller«, sagte Herr Roth wohl damals zu seiner Sekretärin. »Drucken Sie mal die Aufwicklungsvereinbarung für Frau Berger aus.«