Unerwartete Wendung

Eine knappe Woche später klingelt nachmittags das Telefon. Es herrscht gerade Tohuwabohu in der Diele. Der Kleine hat sich auf Ellas Schulsachen gestürzt und in einem unbemerkten Moment alles auseinandergerissen. Ella schimpft, Johannes schlichtet, und ich klaube Hefte und Stifte zusammen, bevor etwas kaputtgeht. Mit einem Packen Hefte unterm Arm nehme ich den Hörer ab. Gerade noch habe ich auf dem Display gesehen, dass es die Nummer meines Arbeitgebers ist. Bevor ich die Durchwahl zuordnen kann, meldet sich schon Herr Roth.

»Störe ich gerade, Frau Berger?«

Und wie er stört! Warum ruft er bloß an? Warum erwischt gerade er immer so denkbar ungünstige Momente? Offensichtlich hat er ja weiterhin seinen Job, laut Gerüchteküche hatte er nämlich angeblich selbst Angst davor, dass ihm gekündigt wird. Hektisch gebe ich Johannes Zeichen mit der Hand, sich mit den Kindern in ein Zimmer zu verziehen.

»Aber nein, gar nicht«, antworte ich aus gewohnter Höflichkeit.

»Wie geht’s Ihnen so, Frau Berger? Wie sieht es denn beruflich aus?«

»Sehr gut, danke«, antworte ich erwartungsgemäß und wundere mich über seine unvermittelte Frage. Ist er plötzlich seelsorgerisch tätig und ruft bei allen Gekündigten an, um sich nach ihrem Zustand zu erkundigen? Mir ist die Situation unangenehm und das löst bei mir leider einen wahren Wortschwall aus. Ich erzähle tatsächlich, was ich gerade so tue, und berichte von meinen freien Projekten, bis ich endlich den Schluss finde: »Ich war kürzlich mal wieder im Unternehmen. Ich komme gerne vorbei, auch wenn es sich inzwischen seltsam anfühlt.«

»Was erzählst du da bloß?«, frage ich mich, kaum dass es draußen ist. »Herr Roth hat, seit du ihn kennst, niemals so etwas Ehrliches und Persönliches von sich gegeben.«

Einen kurzen Moment herrscht ein peinliches Schweigen. Dann sagt Herr Roth: »Und jetzt habe ich auch noch eine seltsame Frage.«

»Das gibt’s doch nicht!«, denke ich mir, und sehe mein leeres Büro vor mir. Will er mir womöglich einen Job anbieten? Die Gedanken stürmen durcheinander. Was ist mit meinen Aufträgen als Selbstständige? Ich habe doch noch Bewerbungen offen.

»… wir bräuchten jemanden für zwei Monate«, höre ich Herrn Roth.

»Das klingt interessant«, antworte ich und finde, es klingt routiniert. Dann fällt mir ein: »Wäre das dann im Angestelltenverhältnis oder auf freier Basis?«

»Auf freier Basis. Angestellt wäre natürlich besser«, sagt er fast entschuldigend.

Ich hatte die Frage in dem Moment ohne Hintergedanken gestellt. Ich wollte einfach nur wissen, um welche Art von Angebot es sich handelt. Es ist doch verrückt, dass er gerade jetzt anruft – seit meinem letzten Besuch habe ich endlich wieder eine gesunde Distanz aufgebaut und kann einschlafen, ohne an mein leeres Büro zu denken.

Kaum habe ich Interesse signalisiert, habe ich den Eindruck, dass er es eilig hat, zum Ende zu kommen. Hätte ich vielleicht meine Frage, ob es sich um ein Angestelltenverhältnis handelt, nicht so direkt stellen dürfen?

Ungewöhnlich ist es nicht, dass gekündigte Arbeitnehmer als freie Mitarbeiter wieder angeheuert werden. Ich erinnere mich, dass in der Exarbeit früher schon Ehemalige plötzlich als Selbstständige wieder aufgetaucht sind. Auch Luc »darf« seit seiner Kündigung auf Honorarbasis für seinen alten Arbeitgeber arbeiten. Dem Unternehmen bringt das nur Vorteile: Der Einsatz der Mitarbeiter ist flexibel, die Personalkosten sind niedriger, weil keine Beiträge für die Sozialversicherung anfallen, und die Mitarbeit kann jederzeit beendet werden, ohne dass lange Kündigungsfristen eingehalten werden müssten.

Den Nachteil haben die freien Mitarbeiter. Ihr Arbeitsverhältnis ist viel unsicherer als das ihrer fest angestellten Kollegen. Manche hängen jahrelang als freie Honorarkräfte am Tropf eines Unternehmens, in der Hoffnung, wieder eine Festanstellung zu bekommen. Den Nachteil hat auch die Gesellschaft. Wenn plötzlich immer mehr Mitarbeiter gezwungenermaßen als Selbstständige arbeiten, zahlen weder sie noch die Arbeitgeber in die Sozialversicherungssysteme ein.

Eine andere zunehmend beliebte Methode von Unternehmen zur Senkung von Personalkosten ist die Gründung einer eigenen Leiharbeitsfirma. Zuvor entlassene Mitarbeiter werden über diese wieder eingestellt – und deutlich schlechter bezahlt als früher. Beim Drogerieunternehmen Schlecker gelangte diese Praxis kürzlich an die Öffentlichkeit und sorgte für viel Aufhebens. Dabei ist die Drogeriekette kein Einzelfall. Nach Untersuchungen des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen ist diese »Sparmaßnahme« bei Unternehmen verschiedenster Branchen beliebt, sogar kirchliche Pflegeeinrichtungen und Wohlfahrtsverbände haben interne Zeitarbeitsfirmen gegründet. Der Fall Schlecker sorgte zwar bei Politikern unterschiedlichster Parteien für Empörung, doch die Unternehmen tun nichts Illegales. Vom Gesetz her ist diese Praxis erlaubt.

Während ich noch darüber nachdenke, wie viel Honorar ich verlangen kann, höre ich Herrn Roth die Abschiedsfloskel einläuten.

»Jetzt arbeiten Sie mal schön weiter selbstständig«, sagt er. »Ich werde Ihre Telefonnummer an den Abteilungsleiter weitergeben.«

Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich »schön« gesagt hat, aber der Tonfall ist entsprechend. Es klingt so gönnerhaft wie »Na, das machen Sie ja ganz gut«. Oder ist es »schön« für ihn, weil er so einen weiteren Exmitarbeiter hat, den er jederzeit, wenn Not am Mann ist, auf Honorarbasis ins Unternehmen zurückholen kann? Oder will er sich damit absichern, dass ich mich nicht zu früh auf dieses schwammige Angebot verlasse?

»Und?«, fragt Johannes neugierig, nachdem ich aufgelegt habe.

»Ich kann vielleicht für zwei Monate als Vertretung arbeiten.«

»Das ist ja klasse!«, freut sich mein Mann.

Ich bin weniger euphorisch. Ich kenne die Abteilung. Sie gilt – gelinde gesagt – als schwierig. Außerdem hat es mich so viel Kraft gekostet, mich innerlich von dem Unternehmen zu lösen – und auf einmal darf ich doch wieder zurück? Dieses Hin und Her überfordert mich gerade.

»Mal abwarten, ob überhaupt etwas daraus wird«, versuche ich das Thema zu beenden. Aber es gelingt mir nicht. Der Anruf von Herrn Roth beschäftigt mich für den Rest des Tages, was sogar Ella auffällt.

»Warum bist du denn so ruhig?«, fragt sie beim Einkaufen.

»Ach, ich denke nur an eine Arbeit, die ich am Abend machen möchte.« Das stimmt tatsächlich. Ich habe heute noch einiges vor.

Doch abends habe ich große Schwierigkeiten mich zu konzentrieren. Da passt es mir gut, dass unser Freund Max mal wieder spontan, wie es seine Art ist, zu einem seiner »Klage-Besuche« vorbeikommt und mich von der heute so zähen Arbeit ablenkt. Er nimmt sich den Stress im Büro zu sehr zu Herzen und muss ab und an seinen Frust an neutraler Stelle loswerden. Als er das letzte Mal da war, drohten in seiner Firma Kündigungen. Das hat sich inzwischen konkretisiert.

»Glaubst du, es erwischt dich auch?«, frage ich ihn.

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich glaube nicht.« Er schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Das ist mir inzwischen auch gar nicht mehr so wichtig. So kann es nicht weitergehen! Einer Kollegin von mir, die seit 20 Jahren dabei ist, haben sie geraten, bald ein Abfindungsangebot anzunehmen. Ansonsten wird ihr gekündigt. Du glaubst gar nicht, wie ihr das aufs Selbstwertgefühl schlägt. Die ist fix und fertig, traut sich nichts mehr zu.«

»Das ist doch kein Wunder. Ihr Chef hat ihr ja schließlich zu verstehen geben, dass ihre Arbeit nicht mehr gebraucht wird. Natürlich ist das heftig nach einer so langen Zeit.«

Jetzt mischt sich Johannes ein. »Ihr nehmt das alle doch viel zu persönlich! Als Angestellte tauscht ihr Arbeitszeit gegen Geld. Das ist alles. So müsst ihr das sehen!«

»Du hast recht, theoretisch. Aber wenn man 20 Jahre in derselben Firma arbeitet, fühlt man sich verwurzelt. Das ist ein Teil deines Lebens. Das ist fast wie Familie«, versuche ich die Gefühlslage meinem Mann zu erklären, der so gut wie immer selbstständig gearbeitet hat. »Das ist doch bei mir genauso. Ich fühle mich wie die verstoßene Verwandte seit der Kündigung.«

»Was tut sich denn bei dir?«, fragt da Max und guckt mich mit großen Augen interessiert an.

Oh, wie ich die Frage manchmal hasse! Aber ich bin ja selbst schuld, ich habe ihn geradezu darauf gestoßen.

»Ach, mal sehen«, lenke ich ab. Ich will jetzt nichts von dem Anruf von Herrn Roth erzählen, ich will erst einmal abwarten, was daraus wird. Ich versuche, das auch Johannes lautlos klarzumachen, ohne dass es Max mitbekommt. Ich rolle schräg hinter ihm vielsagend mit den Augen und durchschneide mit der Hand die Luft. Hoffentlich versteht er mich. Max bemerkt davon zum Glück nichts, er stiert depressiv in die Kerze.

Ja, es funktioniert. »Sie hat in der Exarbeit immer noch ein Büro«, sagt mein Mann, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, und erklärt, was es damit auf sich hat.

»Und wieso arbeitest du nicht dort?«, fragt Max.

»Das bringt doch nichts. Mein letzter Besuch war wirklich nett. Das lasse ich jetzt so stehen. Das ist ein guter Abschluss«, beende ich das Thema.

Nachts im Bett sehe ich trotzdem wieder mein Büro vor mir. Es wirkte so einladend. Und ich finde es irgendwie rührend, dass es mir bis zum Ende der Kündigungsfrist zur Verfügung steht. Es ist so ein netter Zug. Eigentlich zu nett. Vielleicht würde mir die Kündigung im Moment leichter fallen, wenn ich sauer sein könnte. Aber so, wie sie mich behandeln, habe ich keinen Grund, sauer zu sein, oder? Doch, da war was: Damals die Sache mit der Betriebszugehörigkeit, um die sie mich beschissen haben. Das war unmöglich. Auf einmal fällt mir auch wieder ein, wie mein vorheriger Chef mir riet »Passen Sie auf, was Sie unterschreiben!«, was ich damals nicht wirklich verstanden habe. Wieso war ich so dumm, nicht nachzuhaken? Den Hinweis hätte ich ernster nehmen müssen, statt gutgläubig den neuen Vertrag nicht zu hinterfragen. Ich versuche, Wut aufzubauen. Aber es will mir nicht richtig gelingen. Also versuche ich, mich über Herrn Roths Anruf aufzuregen. Das ist unmöglich, dass sie mir erst kündigen und mich jetzt auf freier Basis anheuern wollen! Eigentlich sollte ich aus Prinzip »Nein« sagen. Das hätte Rückgrat! Andererseits könnte ich zwei Monate lang gutes Geld verdienen, da werde ich darauf angewiesen sein, falls ich mich selbstständig mache. Mal sehen, ob sie sich überhaupt wieder melden, seufze ich und drehe mich zum zwanzigsten Mal um, um endlich einzuschlafen.

Sie haben sich wieder gemeldet. Gleich am nächsten Tag. Und schon drei Tage später bin ich unterwegs zur Exarbeit, um mich in der neuen Abteilung vorzustellen. Ich bin alles andere als fit. Eine Grippe kündigt sich an. Ich habe Schüttelfrost, Gliederschmerzen, eine laufende Nase und einen unangenehmen Hustenreiz. Insgeheim hoffe ich, dass das Telefon klingelt und der Termin abgesagt wird, aber nichts dergleichen geschieht. Auch der Weg dorthin ist mühsam. Die U-Bahn hat ungewöhnlich große Verspätung, und nur dank meines großzügigen Zeitpuffers, den ich bei Terminen immer einplane, bin ich gerade noch pünktlich.

Ich treffe mich mit dem Abteilungsleiter und der Mitarbeiterin Frau Schmidt, die es zu vertreten gilt. Sie führt mich gleich ohne anzuklopfen ins Chefbüro und hier fühle ich mich einen kurzen Moment deplatziert. Es ist mir unangenehm, den Chef kalt erwischt zu haben, er wollte sich gerade setzen.

Mit den Worten »Worüber sprechen wir jetzt noch einmal, Frau …?«, eilt er auf mich zu. Das wirkt auf mich inszeniert ignorant. Ich kann es einfach nicht glauben, dass er angeblich nicht einmal meinen Namen parat haben sollte, vom Anlass des Gesprächs ganz zu schweigen.

Dann folgen schreckliche Minuten. Und das geschieht mir recht. Denn ich habe versäumt, mich vorzubereiten. Während ich vor meinem ersten Bewerbungsgespräch, das dann so erfolgreich verlief, jede nur erdenkliche Frage durchgegangen war, bin ich jetzt blank. Meine einzige Vorbereitung bestand darin, mir die Höhe des Honorars auszurechnen. Psychologen würden da sicher einiges herauslesen. Mein Verhalten ließe sich zum Beispiel mit einer verborgenen Abneigung gegen den Job erklären oder mit meinem notwendigen Loslösungsprozess von der Exarbeit oder mit meiner uneingestandenen Wut darüber, erst gekündigt und dann wieder einbestellt worden zu sein, oder mit meinem verletzten Stolz, hier als Bewerberin wieder angekrochen kommen zu müssen.

Vielleicht ging ich auch einfach nur davon aus, dass ich hier eben nicht als Bewerberin empfangen würde, nachdem ich schon so lange und ja eigentlich immer noch im Unternehmen bin. Ich hatte vielmehr den Eindruck, »die wollen etwas von mir« – nicht umgekehrt.

Wie dem auch sei: Ich gebe eine denkbar schlechte Bewerberin ab. Ich spiele meine Rolle nicht gut. Es gelingt mir nicht, die nötige Motivation und Begeisterung rüberzubringen.

»Trauen Sie sich das denn zu?«, werde ich gefragt (»Was für eine seltsame Frage«, denke ich mir. »Natürlich! Sonst wäre ich doch nicht hier!«), und: »Wollen Sie das wirklich machen?«

Oh Gott, ich muss ja ziemlich desinteressiert wirken. Und dann antworte ich auch noch dämlich. Sie haben mich auf dem falschen Fuß erwischt. Oder ist die Grippe schuld, dass es mir so schwerfällt, heute das Spiel »Bewerber – Arbeitgeber« mitzuspielen?

»Ja, ich würde den Job gerne machen«, sage ich. »Nicht auf Dauer. Aber zur Vertretung auf jeden Fall.«

Komischerweise nehmen sie mir das nicht übel. Was ist da nur in mich gefahren? Liegt es vielleicht daran, dass ich schon vorher von der Befristung wusste? Für jemanden, der mich nicht kennt, könnte die Antwort arrogant wirken. Doch so ein bisschen Bewerber-Arroganz scheint zumindest in diesem Gespräch nicht schlecht anzukommen. Im Gegenteil. Ich habe mehr und mehr den Eindruck, dass der Chef beginnt, um mich zu werben.

»Ich will Sie ja nicht überreden«, sagt er – um dann weit ausholend von seiner Abteilung und dem Job zu schwärmen. Er spricht von »der Leidenschaft«, die man brauche. »Alle, die hier sind, machen das leidenschaftlich«, wiederholt er sich. Dann fällt ihm Mobbing ein. »Das gibt es bei uns nicht«, sagt er.

Na ja, denke ich zweifelnd, wenn man das schon betonen muss, kann es mit der Stimmung im Team nicht weit her sein. Ich hatte, bevor ich ihn heute kennenlernte, über die Gerüchteküche im Unternehmen schon manches über die Abteilung gehört. In zwischenmenschlicher Hinsicht wenig Gutes, was daran liegen mag, dass Schlechtes lieber getratscht wird. Nun bin ich überrascht, wie sympathisch ich den Chef finde. Mit ihm käme ich sicher prima zurecht. Bei der Mitarbeiterin Frau Schmidt, die es zu vertreten gilt, bin ich mir dagegen nicht sicher. Am Telefon wirkte sie sehr freundlich. Aber jetzt scheint sie mir schwierig. Gäbe es eine Skala von eins bis zehn der Gefahrenfaktoren im Büroleben, würde ich sie auf acht einstufen. Im Vorbeigehen hat sie vorhin mal schnell die Sekretärin niedergemacht, obwohl ich dabei war. Während des Gesprächs ist sie nun sichtlich bemüht, die Schwierigkeit der Aufgabe zu betonen. Es gelingt ihr nicht, mich damit zu beeindrucken. Sicher, es ist eine Position mit Verantwortung, aber sie ist absolut machbar. Es geht nicht darum, eine neue mathematische Formel zu erfinden oder einem Patienten das Leben zu retten. Beides würde mich mit deutlich mehr Ehrfurcht erfüllen. Ich schätze die Mitarbeiterin so ein, dass sie mehr an ihrem eigenen Fortkommen interessiert ist als am Wohlergehen ihrer Vertretung. Natürlich, ich könnte mich täuschen. Aber während meiner langen Berufsjahre habe ich meinen Blick erfolgreich geschärft – und habe auf lange Sicht fast immer richtig gelegen, auch wenn ich meinen ersten Eindruck fälschlicherweise manchmal korrigiert hatte.

Nicht nur ich bin schlecht vorbereitet. Auch der Chef hat im Vorfeld offenbar keine Minute in das Gespräch investiert und füllt seine Rolle nicht richtig aus. Ich war davon ausgegangen, dass er weiß, wer ihm gegenübersitzt. Stattdessen ist er erstaunt, dass ich schon so lange im Unternehmen war. Zwischendurch stellt er zusammenhanglos Fragen zu meinem Lebenslauf wie »Und was haben Sie studiert?« und »Wo kommen Sie eigentlich her?«, so als müssten diese Fragen nun einmal abgehakt werden, weil es hier ja schließlich um ein Vorstellungsgespräch geht. Während er sich am Anfang noch ganz gut als fordernder und wählerischer Arbeitgeber in Position gebracht hat, lässt er an Fahrt nach, bis unser Treffen mehr einer Unterhaltung gleicht. Es scheint, als würden wir uns gegenseitig unterschwellig signalisieren: »Komm, wir wissen doch beide, worum es geht. Das passt schon mit uns.«

Am Anfang des Gesprächs hatte ich den Eindruck, dass er und Frau Schmidt bemüht waren zu betonen, dass ich als »eine« Möglichkeit gelte. Gegen Ende heißt es: »Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen. Bis wann können Sie uns Bescheid sagen?« Damit ich das nicht als einseitige Zusage verstehe, fügt der Chef noch an: »Natürlich hat das letzte Wort der Geschäftsführer.«

Auf dem Rückweg gehe ich mit mir hart ins Gericht. Ich ärgere mich, dass ich so schlecht vorbereitet war. Den schlechten Start hätte ich mir locker sparen können. Und wie konnte ich nur sagen, dass ich den Job »nicht auf Dauer« machen will? Wenn mir gegenüber eine Bewerberin je so einen Spruch losgelassen hätte, wäre sie ganz klar durchgefallen. Andererseits verlief das Gespräch insgesamt ja seltsamerweise dennoch ganz gut. Ich glaube, der Chef würde mich nehmen – wenn er einen Anruf bei einem meiner früheren Vorgesetzten machen würde, sowieso. Bei der Mitarbeiterin bin ich mir nicht so sicher. Und dann hat ja auch noch »der Geschäftsführer das letzte Wort«. Ha! Da werde ich wütend. Erst kündigt er mir, löst gleich ein ganzes Tochterunternehmen auf, um mich und meine Kollegen loszuwerden – nur, um jetzt wieder darüber zu befinden, ob ich für zwei Monate als Vertretung geholt werden darf. Sobald ich daran denke, will ich nur eines: absagen.

Was mache ich jetzt nur? Ich habe versprochen, mich schon am nächsten Tag zu melden. Meine Freunde würden sich wundern, warum ich darüber überhaupt nachdenke. »Mensch, wie toll«, würde es heißen. »Klar machst du das. Keine Frage.« Aber hier geht es nicht darum, wie andere die Möglichkeit einschätzen, sondern was sie für mich selbst bedeutet. Natürlich müsste ich wegen des Geldes und im Hinblick auf mein Netzwerk, das ich dadurch erweitere, zusagen. Doch der Nachteil ist, dass ich zwei Monate weg vom Fenster bin und damit meine neuen Kontakte und meine Selbstständigkeit unter Umständen gefährde. Ich könnte während dieser Zeit keine Aufträge annehmen. Würde ich damit durchkommen, mich nach den zwei Monaten wieder zu melden mit den Worten: »Hallo, ich bin wieder da. Habt ihr was für mich?«? Außerdem wäre die Zeit bis zur Vertretung sehr stressig. Ich müsste einen Auftrag, an dem ich schon arbeite, viel schneller als geplant fertig bekommen. Und ich müsste rechtzeitig meine Existenzgründung bei der Arbeitsagentur durchboxen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das zeitlich schaffen würde. Und was ist mit den Bewerbungen? Was ist, wenn ich in der Zwischenzeit ein Vorstellungsgespräch oder gar eine Zusage erhalte? Und hätte ich überhaupt Zeit, mich weiterhin zu bewerben?

Ich bin froh, als ich endlich zu Hause ankomme, und werfe sofort ein Aspirin gegen die Grippebeschwerden ein.

»Da klebt dir was hinten am Rücken«, sagt Ella.

Ich fasse an meinen Rücken – und habe das Preisschild meiner nagelneuen Bluse in der Hand. Das gibt es doch nicht. Mir hing während des ganzen Gesprächs das Preisschild aus dem Kragen heraus. Ella bekommt einen Lachanfall und auch ich kann nicht anders, als kopfschüttelnd zu grinsen, als ich mir die Situation plötzlich slapstickartig vorstelle. Wie konnte mir so etwas nur passieren? Ob sie es überhaupt bemerkt haben?

Trotz Aspirin geht es mir abends sehr schlecht. Ich habe Schüttelfrost wie noch nie. Als ich endlich meiner Krankheit klein beigebe und mich mit Fieber und Schmerzen ins Bett lege, geht mir das »Bewerbungsgespräch« wieder und wieder durch den Kopf. Es nimmt albtraumartige Züge an. Ich sehe den Chef, wie er sich am Anfang abwartend in seinem Bürostuhl zurücklehnt, während er später, als er über »die Leidenschaft« doziert, sprungbereit auf der vorderen Kante sitzt. Ich sehe das Preisschild überdimensional aus meinem Kragen hängen und höre mich wieder und wieder meine Antworten sagen, die ich im Nachhinein so schlecht und immer schlechter finde.

»Sie wirken so nett!«, schreit mich der Chef plötzlich an. »Meine Führungskräfte brauchen Leidenschaft! Leidenschaft!!!«