Während sich meine Anwältin wochenlang in Griechenland bräunt, reduziere ich wegen des Umzugs meine Gekündigtenarbeit. Stattdessen packe ich mindestens hundert Kisten, stelle Nachsendeanträge, lasse den Telefonanschluss ändern und reinige mehrmals meine Jacke von weißer Farbe. Johannes hat in Vorfreude auf den Umzug bereits mit dem Streichen begonnen, was dazu führt, dass alles, was noch nicht verpackt ist – einschließlich unserer Familie –, mit weißen Farbspritzern übersät ist.
Und endlich, als wir schon beginnen, uns an diesen seltsamen Zustand der verpackten und halb geweißelten Wohnung zu gewöhnen, ziehen wir tatsächlich um! Oh, es macht Spaß. Endlich beherrscht nicht mehr diese vermaledeite Kündigung meine Laune. Das Leben ist für ein paar Tage wieder bunt. Was für eine schöne Wohnung! Was für eine Luftveränderung! Das ist mindestens so gut wie Ferien in Griechenland. Und so viel nachhaltiger.
Leider gelingt es mir nicht, den Albtraum der Kündigung ganz zu verdrängen. Eines späten Nachmittags treffe ich unsere neue Nachbarin vor dem Haus.
»Arbeiten Sie wieder?«, fragt sie mich freundlich, was mich wundert. Wie kommt sie darauf? Habe ich meine Kleidung heute zu geschäftsmäßig gewählt oder schließt sie das daraus, dass sie mich gerade ohne Kind im Schlepptau sieht?
»Nein, ich bin in Elternzeit«, antworte ich und habe auf einmal das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen. »Na, Ihnen geht’s ja gut«, scheint ihr Gesichtsausdruck zu verraten – oder bilde ich mir das nur ein? In der Regel muss man sich erklären und mit dem Vorwurf auseinandersetzen, man sei eine »Rabenmutter«, wenn man arbeitet, obwohl kleine Kinder zu Hause sind. Aber ich hatte und habe noch immer Schwierigkeiten, mir die Elternzeit zuzugestehen. Am Anfang fühlte ich mich seltsam und beobachtet, wenn ich vormittags oder nachmittags spazierenging. Als dürfte man sich nur dann erhobenen Hauptes blicken lassen, wenn man von morgens bis abends einer geregelten Arbeit nachgeht. (Dabei weiß jeder, der einen Tag mit Kindern verbracht hat, dass das viel anstrengender ist als Schreibtischarbeit.) Ich ärgere mich über dieses übertriebene Arbeitsethos, mit dem ich es mir selbst schwer mache. »Was würde sie erst sagen, wenn sie erfährt, dass mir gekündigt wurde?«, frage ich mich, halte darüber meinen Mund und verabschiede mich freundlich.
Immerhin kommen wir mit der Wohnung voran. Sogar die Lampen hängen inzwischen. Schwierig war es nur – und ist es leider manchmal immer noch –, wenn wir etwas Bestimmtes suchen. Nachdem ich resigniert das Packsystem meines Mannes übernommen hatte, liegen in den Kartons die Schuhe neben dem Nähzeug und die Klaviernoten neben den Eierbechern.
»Nächstes Mal müssen wir die Kisten unbedingt systematisch packen und beschriften«, ruft er eines Morgens verzweifelt, nachdem er zum zweiten Mal erfolglos Kiste für Kiste nach Kopfschmerztabletten durchwühlt hat.
»Mhmh«, sage ich nur – und schweige klug. Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun, als das Packsystem besser zu wissen: Ein Blick auf den mit Farbe verklecksten Wandkalender hat mir gezeigt, dass die Anwältin in den kalten deutschen Sommer zurückgekommen sein müsste.
Es wird wieder ernst.
Nach Tagen des Umzugs ist jetzt zum ersten Mal etwas Gekündigtenarbeit nötig. Ich schnappe mir mein Handy und wähle ihre Telefonnummer, die ich inzwischen auswendig kenne. Ich will sie gleich auf Spur bringen, damit sie ja nicht vergisst, Herrn Roth rechtzeitig zu kontaktieren. In drei Tagen endet die Frist, innerhalb derer ich gegen die Kündigung klagen kann.
»Du musst auf jeden Fall klagen«, hatte mir Luc geraten, der sich, seit er von seiner eigenen Kündigung weiß, voll ins Thema eingelesen hat. »Sonst bist du denen völlig ausgeliefert.«
Die Anwältin scheint das nicht so zu sehen. Sie hat zwar ausgerechnet, bis wann wir klagen können, ist aber nicht besonders interessiert daran. Offenbar ist sie sehr entspannt aus ihrem Urlaub zurückgekehrt.
»Aber was ist, wenn Sie Herrn Roth nicht erreichen?«, frage ich irritiert. Mir reicht es jetzt mit dieser Gemütlichkeit. Erst fährt sie in Urlaub und dann vertrödelt sie womöglich meine Klagefrist. »Brauchen wir dann nicht die Klage, um unsere Verhandlungsposition zu verbessern?«
»Natürlich ist das normalerweise ein wichtiges Druckmittel«, erklärt sie geduldig. »Aber in Ihrem Fall würde ich davon abraten. Rechtlich haben Sie keinen Anspruch auf Weiterbeschäftigung. Das weiß auch Herr Roth. Mit einer Klage würden wir ihn wahrscheinlich nur verärgern.«
Da habe ich meine Antwort und ich muss ihr wohl glauben. Aber warum sagt sie das erst jetzt so klar? War sie im Urlaub auf einem Anwaltssegeltörn in der Ägäis und hat ihr das ein Kollege erzählt, als sie nebeneinander auf Deck saßen und die Beine über die Reling baumeln ließen? Oder höre ich nur in der neuen Wohnung besser?
Ich bin getroffen, wieder zerbröselt ein Stück Hoffnung. Da fällt mir noch etwas ein: »Warum hat Herr Roth gesagt, ich hätte keine Betriebszugehörigkeit? Ich bin doch schon seit 15 Jahren in dem Konzern.« Diese Frage schwirrt mir schon seit geraumer Zeit durch den Kopf.
»Da hat er schon recht«, sagt sie zu meinem Schrecken. »Die Betriebszugehörigkeit muss vertraglich vereinbart werden. In Ihrem Vertrag steht darüber nichts. Also sind die vorhergehenden Jahre in den anderen Tochterunternehmen verloren.«
»Das gibt’s doch nicht!«, entfährt es mir. Vage erinnere ich mich, dass Herr Roth in unserem Gespräch etwas sagte wie »Das haben wir leider vergessen aufzunehmen«. Vergessen? Ich schnaube verächtlich. Das war doch sicherlich Absicht.
»Wenn man natürlich Ihren Fall kennt und weiß, wie Sie von einem Unternehmen in das andere geschoben wurden …«, unterbricht die Anwältin meinen Flashback.
Resigniert verabschiede ich mich. Diese Gekündigtenarbeit heute war leider nicht erfolgreich. Da hätte ich lieber eine weitere Kiste auspacken sollen. Ich mag gar nicht darüber nachdenken, wie sehr ich mich verarscht fühle. »Hin und her geschoben«, meinte die Anwältin. Komisch, so habe ich das in all den Jahren nie gesehen. Aber dass ich mich von Herrn Roth bei der Betriebszugehörigkeit über den Tisch habe ziehen lassen … Wäre ich ein Kindergartenkind, dann würde ich ihn jetzt gerne hauen. Aber ich bin ja erwachsen. Ich bemühe mich, ihn gedanklich ganz, ganz weit von mir wegzudrängen.
Leider werden die Nachrichten nicht besser. Am nächsten Vormittag meldet sich die Anwältin. Sie kann Herrn Roth nicht erreichen. Sie hätte es immer und immer wieder versucht. Aber er würde nie abnehmen.
»Das gibt es doch nicht!«, denke ich mir. Ich bin richtig verärgert. Es kann doch nicht so schwer sein, jemanden ans Telefon zu bekommen. Qualifiziert das Jurastudium etwa nicht fürs Telefonieren? Da fragt man sich halt durch, schmuggelt sich über die Zentrale ein, fragt Kollegen, ob Herr Roth überhaupt da ist oder noch in der Südsee weilt oder gar mit dem Schweinegrippevirus infiziert ist. Aber man nimmt es doch nicht hin, dass man zwei Tage gar nichts erreicht.
»Und jetzt?«, frage ich entgeistert. Alle meine Befürchtungen scheinen bestätigt. Sie versemmelt meine Klagefrist. Selbst wenn sie (und damit leider ich auch) gar nicht klagen will – egal, da geht es ums Prinzip. Und um mein Geld!
»Ich werde ihm eine E-Mail schreiben«, sagt sie.
Begeistert bin ich davon nicht. Ich bezweifle, dass man per E-Mail verhandeln kann. Ein Tag bleibt uns noch. An Herrn Roths Stelle würde ich den verstreichen lassen und erst dann auf die E-Mail antworten. Aber ich resigniere. Innerhalb von einem Tag finde ich keinen neuen Anwalt. Also lasse ich ihr freie Hand und beschließe, mich einfach auf sie zu verlassen.
Es wäre wahrscheinlich klüger gewesen, das von Anfang an zu tun, statt ihre Aussagen ständig infrage zu stellen. Aber es ist schwierig, die Ruhe zu bewahren, wenn man plötzlich von lauter vermeintlichen Experten umringt ist. Jeder hat irgendetwas zum Thema Kündigung und Abfindung zu sagen. Und weil sich alle widersprechen, macht es einen irgendwann nur noch verrückt.
Luc zum Beispiel, der inzwischen im Selbststudium zum Kündigungsexperten mutiert ist, stachelt mich auf. Er hält die Summe für mickrig. Er scheint da mehr Glück zu haben, obwohl er kein Minderleister ist. Sein Arbeitgeber wird offenbar deutlich mehr bezahlen als meiner. So einfach ist es wohl doch nicht, einen Betrieb in einer Stadt dichtzumachen, alle Leute rauszuschmeißen und dann in einer anderen Stadt eine neue Firma zu gründen und die ehemaligen Mitarbeiter zum großen Bewerbungsreigen einzuladen. Anscheinend befürchtet das Unternehmen jetzt, vor das Arbeitsgericht gezogen zu werden und kauft sich mit beachtlichen Abfindungen frei.
Ein anderer Freund von Johannes und mir, den ich um Rat gefragt habe, war dagegen überrascht, wie »großzügig« mein Arbeitgeber angeblich ist. »Sie müssten dir gar nichts zahlen«, meinte Max. Ich solle dankbar sein. Aber so sehe ich das nicht. Großzügig ist für mich etwas anderes. Ich versuche, es ihm zu erklären: »Denk mal an die Finanzkrise. Wenn da eine Bank einem gutgläubigen Kunden wissend ein Schrottpapier verkauft hat und danach gnädig einen Teil des Verlusts ausgleicht, ist das doch auch nicht großzügig. Genauso geht es mir mit der Betriebszugehörigkeit. Ich fühle mich um sie betrogen.«
Das sieht er ein. Trotzdem würde Max auf Nummer sicher gehen, das Geld nehmen und Ruhe geben.
Am schlimmsten sind aber diejenigen Besserwisser, die von irgendwelchen Fällen erzählen, die mit meiner Situation überhaupt nicht vergleichbar sind. Sie tun so, als sei die Kündigung nichts anderes als die Chance, an eine Riesensumme Geld zu kommen, vergleichbar einem Lottogewinn. »Hast du einen Rechtsanwalt?«, muss ich mich dann etwa fragen lassen. »Eine Bekannte einer Freundin der Schwägerin meiner Nachbarin hat eine Abfindung von 170 000 Euro erstritten. 170 000 Euro!«