Von wegen Vorstellungsgespräch. Es sind bereits drei Arbeitstage vergangen, ohne dass ich irgendetwas von dem neuen Arbeitgeber meines Exkollegen gehört hätte. Und heute ist Samstag. Spätestens Freitagnachmittag hatte ich mit einem Anruf gerechnet. Ich hatte mir ausgemalt, das sei die Zeit, wo es ruhiger im Büro wird und auch ein gestresster Chef Zeit für ein Telefonat mit einer möglichen künftigen Mitarbeiterin findet. Ich bin enttäuscht.
Bewerben ist anstrengend, weil man sich mit jeder Bewerbung einen anderen Job zusammenfantasiert und herbeisehnt. In wie vielen neuen Büros ich mich schon sitzen sah! Jedes Mal, wenn es dann nicht klappt, entweder weil ich (noch) nicht eingeladen wurde oder das Gespräch nicht gut lief oder ich gleich eine Absage erhalte, kommt der Frust. Das ist ein richtiger Energiekiller und es kostet jedes Mal aufs Neue Kraft, die Enttäuschung zu verarbeiten.
»Ich bin gefrustet, weil die nicht anrufen«, will ich Johannes vorjammern.
»So ist das eben«, sagt er einfach. »Es läuft doch genug bei dir. Du hast viele Bälle im Spiel.«
Stimmt, er hat recht und genau das Richtige gesagt. Sofort mache ich mich daran, den letzten nötigen Formularkram für die Selbstständigkeit zu erledigen und bringe anschließend gleich das Kuvert fürs Finanzamt zur Post. Danach eile ich zufrieden nach Hause. »Wahrscheinlich soll es so sein. Ich soll mich selbstständig machen«, unke ich ein bisschen Schicksal in mein Arbeitslosendasein hinein. Ich weiß, es ist albern, aber der Gedanke versöhnt mich.
Den neuen Arbeitgeber hake ich innerlich ab. Und auch mit den anderen, bei denen ich noch Bewerbungen offen habe, versuche ich abzuschließen. Ich will in meinen Gefühlen nicht mehr abhängig sein von den Zeitplänen und Entscheidungen fremder Unternehmen. Es ist Zeit für eine neue Regel, eine Regel, die ich mir selbst immer wieder sagen muss, und mit dieser ist mein »Empfehlungskatalog« für Gekündigte komplett:
Regel Nummer eins: Sorge für ein sehr gutes Zeugnis – und lass es prüfen.
Regel Nummer zwei: Verwandle dich zum DIN-Bewerber.
Regel Nummer drei: Stelle dich gut mit deinem Jobberater in der Arbeitsagentur.
Regel Nummer vier: Hole immer rechtlichen Rat ein.
Regel Nummer fünf: Lass dich nie unterkriegen und fang bloß nicht an, an dir zu zweifeln!
Am Nachmittag treffe ich endlich mal wieder Sarah. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Früher kamen wir meist abends, nach der Arbeit, zusammen. Jetzt, wo der Abend zu meiner Hauptarbeitszeit zählt, habe ich oft keine Zeit für eine Verabredung.
Nachdem wir schon seit zwei Stunden spazieren gehen, fällt mir auf, dass etwas fehlt. Sarah hat sich heute noch gar nicht über ihren Job beschwert.
»Du erzählst gar nicht mehr so viel von der Arbeit«, sage ich zu ihr.
»Es läuft«, sagt sie. »Und wenn es doch Ärger oder Stress gibt, habe ich mich inzwischen anscheinend daran gewöhnt.«
Ich nehme an, dass es auch daran liegt, dass Sarah weniger arbeitet als früher. Sie hat ihre Arbeitszeit zurückgefahren und ist jetzt nur noch vier Tage die Woche im Büro. Sie spürt die finanzielle Einbuße zwar deutlich. »Aber das ist es mir wert«, sagt sie. »Ich will auch Zeit für mich und meine Freunde haben und nicht immer nur arbeiten.«
Mit ihrem Teilzeitjob liegt sie im Trend. Immer mehr Festangestellte haben keine volle Stelle, nur noch 71 Prozent arbeiten Vollzeit. Von der Wirtschaftskrise sind Teilzeitarbeiter seltener betroffen, weil sie vor allem im Dienstleistungsbereich arbeiten. Aber dafür verdienen sie auch weniger. Im Durchschnitt werden für einen Teilzeitjob 16,04 Euro pro Stunde gezahlt. Bei Vollzeitstellen liegt der Durchschnitt bei 20,98 Euro. Das liegt auch daran, dass es kaum Führungspositionen in Teilzeit gibt. Der Haken daran: Auch später bei der Rente werden die Teilzeitarbeiter das geringere Einkommen spüren.
Mich hat Sarah auf eine neue Idee gebracht. Ich könnte mich doch auch auf Teilzeitstellen bewerben! Falls es mit der Existenzgründung nicht klappt, würde mir eine Teilzeitstelle ein festes monatliches Einkommen sichern, daneben könnte ich weiterhin selbstständig arbeiten. So hätte ich noch mehr »Bälle im Spiel«.
Auf Sarahs Fragen, wie es bei mir läuft, antworte ich nicht ganz offen. Ich unterschlage meine Bedenken und meine schlechten Bewerbungserfahrungen und meine ungewisse Zukunft, erzähle stattdessen nur von meinen Aufträgen.
»Und das ist jetzt dein Plan für die nächsten Jahre, selbstständig zu arbeiten?«, fragt sie nach.
Das bringt mich ein bisschen ins Stammeln. »Ja, aber wenn ich nicht genug Geld damit verdiene, muss ich mich eben wieder bewerben, äh, also, mir einen Job suchen.«
Ich weiß nicht, warum ich nicht mehr erzähle, wir sind gut befreundet, Sarah und ich. Warum frage ich sie nicht, wie sie meine fünf Regeln für Jobsucher findet? Warum erwähne ich nicht, dass mich mein Exarbeitgeber nicht einmal als freie Mitarbeiterin will? Warum erzähle ich nicht, dass ich noch Bewerbungen offen habe – und es genauso gut sein könnte, dass ich in ein paar Wochen wieder angestellt bin? Warum erwähne ich nicht, dass mein brandneuer Plan B ein Teilzeitjob ist? Sollte meine erfolgreiche und optimistische Fassade schon so verhärtet sein, dass ich es noch nicht einmal schaffe, guten Freunden zu sagen, was wirklich los ist? Oder habe ich meinen Bewerbungseuphemismus zu weit getrieben? Vielleicht gelingt es mir nicht mehr, ehrlich zu sein. Ich kann mich manchmal nicht mehr hören, wenn ich davon rede, dass die Kündigung auch eine »Chance« ist und die Selbstständigkeit sich »super mit Familie vereinbaren lässt«. Das stimmt, natürlich – wenn nur die Existenzängste nicht wären.
Die folgenden Tage falle ich in ein Motivationsloch. Das Wetter passt dazu. Es ist seit Tagen trüb. Kein Sonnenlicht, nirgends. Ich bin antriebslos.
»Das muss auch mal sein«, sagt Johannes.
Mag sein. Aber mich macht das sehr unzufrieden. Es war doch gerade das – auch teilweise übertriebene – Tätigsein, das mir die vergangenen Wochen half, über die Kündigung einigermaßen hinwegzukommen und die Unsicherheit der Bewerbungsphase zu ertragen.
Ich zwinge mich trotz Motivationsloch zu arbeiten – aber ich surfe nur nach Fachliteratur statt wirklich etwas zu tun. Und während ich mich so ablenke, kommt endlich die Mail vom neuen Arbeitgeber meines Exkollegen. Jetzt, nachdem ich die Stelle innerlich schon wieder abgeschrieben hatte.
Das ist das Seltsame an meiner Lebens- und Arbeitssituation seit der Kündigung. Ein Anruf oder eine Mail können plötzlich alles ändern – oder zumindest scheint es so, als hätten sie die Macht dazu. Noch hat sich ja nichts Entscheidendes bei mir getan, nichts Unvorhergesehenes hat sich realisiert. Aber es war zwei Mal fast so weit. Zum ersten Mal, als meine Bewerbung und mein Vorstellungsgespräch in dem fernen »Kaff« so erfolgreich waren. Und zum zweiten Mal, als plötzlich Herr Roth anrief und mir einen Vertretungsjob anbot. Und jetzt die Mail.
Die vergangenen Tage wäre so viel zu tun gewesen, entschuldigt sich der Chef und lädt mich zum Vorstellungsgespräch ein. Ich bin also noch im Rennen! Ich sage zu und spüre sofort einen Energieschub. Das Motivationsloch ist weg.
Kurz darauf klingelt mein Handy. Eine frühere Kollegin, die schon vor Jahren den Arbeitgeber gewechselt hatte, ist dran.
»Wie geht’s dir denn?«, fragt sie und: »Was machst du denn jetzt so?«
Ich spule mein Sätzchen herunter, dass es mir gut geht und ich inzwischen selbstständig arbeite.
»Bewirbst du dich gar nicht?«, will sie wissen.
»Doch, wenn ich etwas Interessantes und Passendes sehe«, gebe ich zu.
»Ich habe bei uns von einer Stelle gehört und sofort an dich gedacht!«, rückt sie heraus.
Ich reagiere, inzwischen wirklich routiniert, mit der Antwort eines erfahrenen Bewerbers, dass das »sehr interessant« klingen würde.
»Das wäre ja toll, wenn die dich kriegen!«, ruft sie begeistert. »Du bist eigentlich sogar überqualifiziert.« Sie verspricht, mich auf dem Laufenden zu halten.
Mit dem »überqualifiziert« hat sie recht. Besonders spannend klingt die Stelle nicht, auch das Gehalt, das sie bereits angedeutet hat, ist bescheiden. Aber ich will mir die Chance auf einen Job nicht entgehen lassen. Ich will nichts von vornherein ausschließen. Das beruhigt mich. Irgendetwas davon, sage ich mir dann in Momenten, in denen die Angst wieder hochkommt, wird schon klappen, muss klappen.
Am nächsten Tag bin ich mit Luc zum Mittagessen verabredet. Wir treffen uns in der Innenstadt in einem Restaurant, in dem außer uns nur Anzugträger sitzen. Es ist einen Tick zu schick – für uns, nicht für die anderen. Es ist so offensichtlich: Sie sind gerade in Mittagspause und haben einen überdurchschnittlich bezahlten Bürojob. Wenn ich sie sehe, wirkt ihr Büroalltag, aus dem ich seit ein paar Monaten ausgeschlossen bin, so selbstverständlich, so unabdingbar. Ich hätte Lust, nach dem Essen auch einfach an meinen Arbeitsplatz zu gehen.
Luc scheint das gar nicht aufzufallen. Er bezieht unsere Umgebung nicht auf sich. Er hat sich inzwischen mit dem Gründungszuschuss selbstständig gemacht.
»Das hat problemlos funktioniert«, erzählt er.
»Ich habe auch schon alles vorbereitet«, kontere ich stolz.
»Warst du bereits beim Finanzamt?«
»Denen habe ich die Unterlagen geschickt. Aber das kann zwei, drei Wochen dauern, meinten die.«
»Du musst nur aufpassen, dass du dich nicht zu früh selbstständig machst, schon bevor du den Antrag für den Gründungszuschuss losschickst. Sonst klappt das nicht«, warnt er mich.
Als wir uns verabschieden, sagt er beschwörend: »Ich an deiner Stelle würde echt nichts überstürzen. Warte erst mal in Ruhe deine Bewerbungen ab, danach kannst du immer noch den Gründungszuschuss beantragen. Du tust doch nichts Verbotenes. Du bewirbst dich und bereitest deine Selbstständigkeit vor. Warum machst du nicht einen Termin mit dem Jobberater und besprichst deine Situation?«
Auf dem Heimweg schwirren mir Lucs Worte durch den Kopf. Allerdings blieben bei mir nicht die beruhigenden, gut gemeinten Ratschläge hängen. Mir klingt nur das »Sonst klappt das nicht« nach. Oh, dieser Formularkrieg im Paragrafendschungel, das ist wirklich nicht mein Ding. Nachdem die Unterlagen beim Finanzamt so lange liegen, kann es tatsächlich sein, dass ich den Beginn der Unternehmensgründung darin zu früh datiert habe. Was mache ich jetzt nur?
Diese Frage beschert mir eine schlaflose Nacht. Ich steigere mich in den Gedanken hinein, dass mir die Arbeitsagentur den Zuschuss wegen einer Formalie verwehrt. Dann fällt mir plötzlich ein: Was ist, wenn du den Zuschuss bekommst, aber kurz darauf die Zusage für den Job deines Exkollegen? Dann musst du hektisch für ein paar Wochen die Krankenversicherungen ändern, funktioniert das überhaupt so schnell? Und was ist, wenn du oder die Kinder in dieser Zeit krank werden?
Auf einmal wird alles zum Problem. Und dann bin ich auch noch selbst daran schuld! Ich ärgere mich, dass ich mich so mit dem Antrag beeilt habe. Ich setze mich damit unnötig unter Zeitdruck.
Zu dieser Eile angetrieben hat mich die Aussicht auf den Vertretungsjob in der Exarbeit. Jetzt, wo nichts daraus wird, könnte ich mir natürlich Zeit lassen. Andererseits bin ich lieber selbstständig als arbeitslos. Das Gefühl, von dieser Behörde abhängig zu sein, ist furchtbar. Ich fühle mich so ausgeliefert.
Am nächsten Morgen sage ich völlig verzweifelt zu Johannes: »Ich dreh durch!«
Umständlich und aufgeregt erkläre ich ihm die Schwierigkeiten, die ich mir in der Nacht ausgemalt habe. Es dauert eine Weile, bis er meine vermeintlich existenzbedrohenden Katastrophenszenarien nachvollziehen kann.
»Was soll ich denn jetzt nur machen?«, frage ich hilflos. In der Nacht hatte ich in Gedanken schon einen herzzerreißenden Brief an die Arbeitsagentur geschrieben, in dem ich erkläre, warum das Datum meiner Unternehmensgründung so früh liegt, und demütig um Verzeihung bitte.
»Jetzt rufst du erst einmal beim Finanzamt an und fragst, ob du den Termin um einen Monat nach hinten schieben kannst«, sagt er ruhig.
Das mache ich. Bereits dem Mitarbeiter, der unter der Nummer der Zentrale abnimmt, erkläre ich umständlich den Grund meines Anrufes. Als er eine Atempause von mir nutzt, um endlich zu Wort zu kommen, sagt er: »Ich verbinde Sie weiter.«
Nun habe ich eine Dame an der Leitung. Ich wiederhole mein kompliziertes Anliegen. Sie findet sofort meine Unterlagen.
»Dann mache ich einen Vermerk. Wir werden das diese Woche bearbeiten.«
»Und klappt das, dass ich erst einen Monat später meine Selbstständigkeit starte?«, frage ich noch einmal, da ich nicht weiß, ob mit einem »Vermerk« die Sache erledigt ist. »Dann könnte ich eine Bewerbung abwarten und den Zuschuss in Ruhe beantragen«, wiederhole ich mich, um Verständnis heischend.
»Von uns aus ist das kein Problem«, sagt sie.
Vor lauter Erleichterung rufe ich aus: »Vielen Dank! Vielen Dank! Ich hatte eine schlaflose Nacht deswegen!«
»Das ist es nicht wert«, sagt sie lachend.
Ich könnte sie umarmen. Plötzlich scheint alles klar und einfach.