Heute Morgen schrecke ich aus dem Schlaf hoch. Ich habe Angst, verschlafen zu haben, und greife hektisch nach dem Wecker. Der Grund meiner Unruhe ist mein Termin bei der Arbeitsagentur, der mich schon seit Tagen belastet. Ich reagiere völlig übertrieben. Zum einen geht es bei diesem Treffen nur darum, mich persönlich vorzustellen. Und dann ist der Termin erst heute Nachmittag. Auch der Blick auf die Uhr könnte mich jetzt beruhigen. Es ist halb sieben. Ich stehe trotzdem auf und erfülle damit die Erwartungen meiner zuständigen Sachbearbeiterin Frau Mayer, wie ich später erfahren werde.
Am Nachmittag übernimmt Johannes frühzeitig die Kinderbetreuung. Ich will noch meine Unterlagen zusammensuchen und meine schwarze Hose bügeln. Ich packe die Mappe ein, die ich auch beim Gespräch mit Herrn Roth dabeihatte. Nach zehn Minuten laufe ich fertig angekleidet und ausgerüstet in der Wohnung umher.
»Und, wie sehe ich aus?«, frage ich Johannes, als ich bei ihm vorbeikomme. Er sitzt mit dem Kleinen, umgeben von einem Haufen Spielzeug, im Kinderzimmer.
»Nimm den Termin doch nicht so wichtig«, sagt er, ohne auf mein Äußeres überhaupt einzugehen. »Das ist nur eine Behörde.«
»Ich muss doch ordentlich aussehen. Ich will einen professionellen und engagierten Eindruck machen«, erkläre ich ihm.
»Was meinst du, was die dort tragen?«, fragt er leicht abfällig.
Eine Diskussion über den Dresscode von Jobberatern wäre zwar sicherlich interessant, aber ich verlasse ihn lieber, um im Schlafzimmer noch eine Jacke zu holen.
»Machst du dich selbstständig?«, fragt mich Ella, die hier auf dem Bett herumtobt.
»Ich weiß noch nicht, vielleicht.«
»Als Selbstständiger verdient man in einem Monat so viel, dass man sich einen Porsche kaufen kann. Und im anderen Monat hat man nichts zu essen«, sagt sie altklug.
Ich muss lachen. Ich frage mich, wo sie das herhat. »Da darf man halt das Porschegeld nicht auf einmal ausgeben, sondern muss genug für die armen Monate aufheben«, antworte ich ihr.
»Stimmt«, gibt sie mir recht, um nach einem kurzen Moment der Stille zu fragen: »Warum musst du eigentlich zum Arbeitsamt?«
»Ach, das muss man machen, wenn man einen Job sucht. Das gehört zu den Dingen wie Steuern zahlen und zum Zahnarzt gehen. Es ist lästig, muss aber leider sein.« Ich ziehe mich noch einmal um. Mit weißer Hose tauche ich wieder bei Johannes auf.
»Und? Jetzt besser?« Ich bleibe vor ihm stehen.
»Ja.«
»Warum?«
»Das ist heller. Das wirkt teamorientiert.«
Ich muss lachen, obwohl ich etwas erbost bin, dass er mich nicht ernst nimmt. Aber zum Schimpfen habe ich jetzt keine Zeit. Ich will los. Allerdings – wenn ich so aus dem Fenster sehe: »Johannes?«, rufe ich und eile wieder ins Kinderzimmer. »Meinst du, es regnet bald?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ich will doch nicht wissen, ob du das weißt, sondern ob du es glaubst?«
»Ich glaube«, antwortet mein Mann und macht eine Pause, um die Spannung zu erhöhen, »nein.«
Ich bin mir nicht so sicher. Johannes ist in seinen Wettervorhersagen zwar ziemlich treffgenau, aber heute? Ich packe vorsichtshalber meinen Mantel und das Regencape ein. Inzwischen ist meine Tasche so voll, dass ich eigentlich einen Rollkoffer mitnehmen müsste. Sicherlich würde ich damit einen sehr businessmäßigen Eindruck in der Arbeitsagentur machen. Aber ein Rollkoffer passt nicht aufs Fahrrad. Also bleibt es bei der Tasche, in der ich sowieso nie etwas finde. Da kommt es auf die paar Sachen mehr nicht an. Nachdem ich mich noch einmal umgezogen habe (doch die schwarze Hose, falls es regnet), sage ich meinen Lieben Tschüs. Sicherlich sind sie erleichtert, als ich endlich die Tür hinter mir zuziehe.
Ich fühle mich sehr unwohl. Die Schuhe sind unbequem. Und überhaupt, ich sehe doch aus wie meine eigene Tante. Missmutig belade ich mein Fahrrad und mache mich auf den Weg. Nach ein paar Metern fängt es an zu tröpfeln, was mich etwas mit mir und meiner schwarzen Tanten-Hose versöhnt. Ich lasse mir noch einmal durch den Kopf gehen, was ich alles sagen will.
Dieses Selbstgespräch mit der Arbeitsagentur führe ich schon seit Tagen. Ich habe Angst, dass mich die Jobberaterin in eine Weiterbildung stecken möchte, die mir nichts nützt. Die Macht dazu hat sie. Als Arbeitsloser darf man den Vorschlag für eine »Eingliederungsmaßnahme«, wie das im Behördendeutsch heißt, nicht einfach ablehnen – selbst wenn man der Ansicht ist, dass die gewählte Fortbildung nicht passend ist. Tut man es doch, wird man mit einer »Sperrzeit« bestraft, das heißt, dass das Arbeitslosengeld vorübergehend gestrichen wird. Das Thema Weiterbildung ist so kompliziert, dass die Arbeitsagentur eine eigene Broschüre dazu herausgibt. Auch wenn man sich selbst eine Weiterbildung wünscht, kommt man an seinem Jobberater nicht vorbei. Er ist derjenige, der entscheidet, welche Maßnahme sinnvoll ist und welche nicht, nicht etwa der Arbeitslose selbst. Vor dieser Bevormundung graut mir. Und nicht nur mir.
Gestern Abend traf ich Luc in der Stadt auf ein Bier. Mit dem Thema Arbeitsagentur haben wir einen großen Teil unserer Unterhaltung bestritten. Er hat heute Morgen dort ebenfalls einen Termin, allerdings bei einer anderen Mitarbeiterin. Ein paar Tage zuvor hatte ihn die Service-Hotline der Arbeitsagentur angerufen und daran erinnert. Das fanden wir beide seltsam. Bei mir hat sich bislang noch niemand gemeldet. Gelten männliche Arbeitlose vielleicht als unzuverlässiger?, frage ich mich.
»An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen«, beruhigte er mich. »Du bist doch noch in Elternzeit.«
»Trotzdem ist mir dieser Termin unangenehm. Die Vorstellung, dass ich jetzt Behördenpflichten erfüllen muss und von einer Sachbearbeiterin abhängig bin, ist mir ein Graus. Stört dich das gar nicht?«
»Doch, natürlich. Allein in dieses Amt reinzugehen, macht schon depressiv«, meinte Luc und dann sagte er einen der Sätze, die auch er sich schön vorformuliert hat: »Ich werde ihr natürlich sagen, dass ich dem Arbeitsmarkt weiterhin zur Verfügung stehe.« Da hat er sich gleich das Behördendeutsch angeeignet – »dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen«. »Und wenn sie mir mit irgendwelchen Seminaren kommt, die ich besuchen muss, dann mache ich mich eben sofort selbstständig«, fügte er noch etwas trotzig an. Er zweifelt sehr an der Fachkompetenz seiner Beraterin, die er nun zum zweiten Mal aufsuchen sollte. »Die hat doch keine Ahnung von meinem Beruf und kann mit mir gar nichts anfangen«, ist sein Eindruck.
Es war schon dunkel geworden. Wir saßen auf einem schönen, matt beleuchteten Platz unter einem Baum. Eine fast südländische Atmosphäre. Also überhaupt nicht der Ort und der Abend, um sich die Laune von der Arbeitsagentur versauen zu lassen. Doch das mit den Seminaren ist so eine Sache. Eine Kollegin von Luc wurde dazu verdonnert. Anders kann man es nicht sagen. Obwohl sie noch gar nicht arbeitslos ist, weil ihr Anstellungsverhältnis noch läuft, hat ihre Jobberaterin sie einfach für eine »Eingliederungsmaßnahme« angemeldet – gegen ihren Willen. Dort soll sie nun wochenlang an jeweils drei Tagen lernen, wie man sich bewirbt. Dabei sind gerade diese Bewerberseminare umstritten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, der Thinktank der Bundesagentur für Arbeit (!), hat bei Hartz-IV-Empfängern untersucht, was Maßnahmen der Weiterbildung bringen. Bewerbungstrainings schnitten dabei katastrophal ab. Sie haben überhaupt keinen Effekt auf die Einstellungschancen.
»Ich habe eine Idee, warum sie deine Kollegin in das Seminar gesteckt haben. Das macht sich gut in der Statistik«, sagte ich plötzlich. Erst vor ein paar Tagen hatte ich eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln gelesen. Demnach gibt es im Sommer 2009 neben den offiziellen 3,5 Millionen Arbeitslosen eine verdeckte Arbeitslosigkeit, die noch einmal 750 000 Menschen umfasst. Und darunter fallen unter anderem alle Arbeitslosen, die Weiterbildungsmaßnahmen durchlaufen.
»Findest du das Wort ›Arbeitsloser‹ eigentlich auch so schlimm?«, fragte mich Luc.
»Ja!«, stimmte ich ihm sofort zu. »Das hat etwas Stigmatisierendes, weil es dich über das definiert, was dir fehlt. ›Jobsucher‹ wäre besser, neutraler.« Dann starrten wir wieder schweigend auf den schönen Platz vor uns und hingen trüben Gedanken über unser Arbeitslosenschicksal nach.
Und jetzt nähere ich mich unserem Schreckgespenst unweigerlich. Ich versuche mir vorzustellen, wie meine Beraterin wohl aussieht. Ich sehe sie so um die Mitte dreißig mit kürzeren aschblonden Haaren, freundlich, aber mit einem leicht verbitterten Zug um den Mund. Und gekleidet ist sie zwar gewählt, aber dezent bis unscheinbar. Sehen so Jobberater aus? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist sie auch eine ganz flotte Person mit Pferdeschwanz? Ganz egal, ob sie kurze oder lange, rote oder schwarze Haare hat: Ich will sie unbedingt dahin bekommen, dass sie mir wohlgesinnt ist. Ich brauche einen Freund im Arbeitsamt, keinen Feind, der mir die Kündigung noch schwerer macht.
An der nächsten Kreuzung muss ich schon abbiegen. Und da ist es, ich erkenne das riesige hässliche graubraune Gebäude sofort von Weitem. Schicksalsergeben steuere ich den Fahrradparkplatz an. Ich sehe auf die Uhr – ich bin eine halbe Stunde zu früh dran. Ich beschließe, erst einmal hineinzugehen und mich zu orientieren. Vor dem Eingang steht eine sehr fein gekleidete Dame und wartet sichtlich auf jemanden oder etwas. Ich finde, sie passt nicht hierher. Ich hoffe, dass man das auch von mir sagen würde und vor allem: dass ich jetzt nicht zufällig jemanden treffe, den ich kenne. Das wäre mir sehr unangenehm.
Über eine Drehtür betrete ich die Arbeitsagentur. Sie ist von innen nicht weniger unschön als von außen. Die bestimmende Farbe ist braun und alles wirkt ältlich und ungepflegt. Auf der Toilette liegen kurze Schlangen grauen Klopapiers auf dem Boden verstreut. Über dem Waschbecken hängt ein Schild. Es ist in ungefähr zwei Metern Höhe angebracht und nur zu sehen, wenn man den Kopf in den Nacken legt. »Bitte behandeln Sie die Toiletten als wären sie Ihr Eigentum«, steht darauf. Mein Eigentum. Komische Wortwahl. Komische Idee, Eigentümer einer öffentlichen Toilette zu sein. Der schriftstellernde Koch Alain Bourdain hat einmal geschrieben, dass man an der Toilette erkennt, was ein Restaurant taugt. Sollte man diesen Tipp auf die Arbeitsagentur übertragen können, wird mich nichts Gutes erwarten. Ich fühle mich in meinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
Um die Zeit totzuschlagen, laufe ich ein wenig im Erdgeschoss umher. Alle paar Meter stoße ich auf ein Plakat, von dem mich lachend »Tino Rindfleisch« grüßt, »einer von 4000 Fachberatern und Fachberaterinnen der Bundesagentur für Arbeit«. Wenn ich eine Frage zum Arbeitslosengeld I oder zur Jobsuche habe, soll ich ihn anrufen. Tino Rindfleisch sieht sehr jung aus. Ich schätze ihn auf 17 Jahre. Er hat blonde Stoppelhaare und ein Piercing in der Nase. Das heißt, ich bin mir nicht sicher, ob er tatsächlich eines trägt. Aber er sieht so aus, es würde passen. Aber der Name? Ich bezweifle, dass der echt ist.
Noch während ich über Tino Rindfleisch nachdenke, wende ich mich einer Vitrine zu. Hier hängen öffentliche Zustellungen. Es sind Briefe und ich kann den vollen Namen des Empfängers und den Inhalt lesen. Statt einer Adresse steht »Anschrift unbekannt«. Nun glaube ich zu verstehen. Deswegen wird der Brief hier wohl gezeigt. Das gilt als Zustellung und damit laufen mögliche Widerspruchsfristen für die Empfänger ab, die die Agentur nicht erreichen kann. Bei einem Brief ist die Frist schon vorbei. Armer Kerl. Wenn man in so eine Situation kommt, dass die eigenen Briefe öffentlich ausgehängt werden, geht es einem sicherlich nicht gerade gut.
Hier im Amt ist wenig los. Ein paar Besucher gehen eiligen Schrittes an mir vorbei oder telefonieren wichtig mit dem Handy. Sie scheinen sich damit bewusst den Eindruck von Geschäftigkeit und Bedeutung geben zu wollen. Zwei Männer stehen am Informationsschalter. Ich beschließe, dass ich den Weg zu meiner Jobberaterin selbst finde, und mache mich auf in die oberen Etagen. Hier ist brauner Teppich verlegt, der offenbar Jahrzehnte alt ist. Überall sind Flecken, auch richtig große. Die Gänge sind sehr eng und von dunklen massiven Türen flankiert, an denen die Namen der Mitarbeiter stehen. Es ist alles sehr bedrückend und still. Ab und an kommt mir jemand entgegen, ob Mitarbeiter oder Leidensgenosse ist nicht erkennbar. Niemand grüßt. Auf einem etwas breiteren Gang ist eine Art Rezeption eingerichtet. Sie erinnert an ein billiges Hotel. »Empfang« steht darüber. Ich frage vorsichtshalber, ob ich mich hier anmelden muss, aber nein, ich soll direkt am Zimmer der Jobberaterin klopfen. Weil ich immer noch eine Viertelstunde zu früh dran bin, nehme ich auf einer Stuhlgruppe in der Nähe ihres Raumes Platz und starre aus dem Fenster, das auf den Innenhof geht, aber nur einen Blick auf die braune Außenwand ermöglicht.
Ich stehe auf und klopfe. Es ist zwei Minuten vor meinem Termin. Nachdem ich keine Reaktion erhalte, öffne ich vorsichtig die Tür. Da sitzt sie, meine Jobberaterin, Frau Mayer, und telefoniert. Sie hat kurze schwarze Haare und trägt ein langes, weites Kleid. Über ihrem üppigen Busen baumeln ein paar Ketten. Sie wirkt auf den ersten Blick sympathisch, aber älter als ich erwartet hatte. Mit Gesten gibt sie mir bedauernd zu verstehen, dass es noch einen Moment dauern wird. Ich nicke, ziehe die Tür zu und bleibe wartend im Gang stehen. Inzwischen begrüße ich jeden, den ich sehe. Das schweigende Nichtbeachten ist mir einfach zu dumm. Ein Mitarbeiter freut sich sichtlich darüber und sagt: »Sie können einfach reingehen. Immer schön lästig sein.« Dann geht er fröhlich pfeifend in sein Büro ein paar Türen weiter.
Jetzt höre ich, wie sich meine Beraterin am Telefon verabschiedet, aber nichts tut sich. Soll ich noch einmal klopfen? Ich bin unsicher. Eigentlich bin ich der Ansicht, dass sie mich nun hereinbitten muss. Aber wenn sie nun ihrerseits auf mich wartet? Das Ausharren hier im dunklen engen Gang direkt vor ihrer Tür wird mir zäh. Ich blicke auf die Uhr. Jetzt stehe ich bestimmt schon sieben Minuten hier. Ich klopfe noch einmal und strecke vorsichtig den Kopf ins Zimmer. Frau Mayer schreibt am Computer. Sie hebt irritiert den Kopf und sieht zur Tür.
»Ich hole Sie in einer Sekunde«, sagt sie abwehrend.
Also ziehe ich meinen Kopf zum zweiten Mal zurück und warte wieder. »Oh Gott, das ist ja ein toller Start«, denke ich mir. »Könnten wir vielleicht mal anfangen?« Ich wünsche mich sehr weit weg.
Da öffnet sich die Tür, und ich darf eintreten und ihr gegenüber Platz nehmen. Sie gibt mir nicht die Hand und überlässt es mir, als Erste zu grüßen. So hatte ich mir das Treffen nicht vorgestellt. Ich fühle mich nicht sehr willkommen. Entweder ist sie immer so oder sie nimmt mir die Türaufreißerei übel. Ich weiß es nicht, und ich nehme mir vor, darüber hinwegzusehen und unbeirrt freundlich zu bleiben. Ich muss es irgendwie schaffen, sie auf meine Seite zu ziehen. Ich packe meine Mappe aus und Frau Mayer versenkt sich sofort in das, was auf ihrem Bildschirm steht.
»Sie sind jetzt seit Längerem selbstständig?«
»Nein«, korrigiere ich. »Ich war fünfzehn Jahre bei meinem Arbeitgeber.«
»Ach so, genau. Dann vervollständigen wir mal Ihr Profil.« Sie füllt offenbar irgendwelche Sachen am Computer aus. Ich sitze untätig herum, beantworte hin und wieder eine Frage. Ich habe den Eindruck, dass sie zunehmend freundlicher wird. Offenbar ist sie mit meinem Lebenslauf zufrieden. Die Situation erinnert mich an einen Arztbesuch. Unser Kinderarzt studiert und füttert auch immer seinen Computer, während wir ihm gegenübersitzen. Ich hätte dann jedes Mal am liebsten ebenfalls einen PC vor mir, in dessen Universum ich mich vertiefen könnte. Da mir dieser auch hier und heute fehlt, sehe ich mich eben um. Gemütlich ist es nicht. Schick auch nicht. Eher zeitlos staubig. Man spürt den halbherzigen Versuch, das Büro persönlich zu gestalten. Am Fenster steht eine Lampe aus Stein, auf dem Tisch liegen Steine zwischen dickblättrigen Pflanzen. An der Wand hinter mir hängen ein paar Landschaftsaufnahmen verrutscht hinter Glas, es sieht so aus, als seien sie schon seit geraumer Zeit in eine Schieflage geraten.
»Darf ich Sie bitten, Ihre Kenntnisse selbst auszufüllen?« Sie steht auf und macht mir Platz. Das finde ich seltsam, aber ich tue ihr gerne den Gefallen. Wer hätte gedacht, dass ich einmal auf dem Stuhl eines Arbeitsagentur-Jobberaters sitzen würde? Fühlt sich ganz normal an. Der Stuhl ist nicht bequemer als der, den ich vor meinem Schreibtisch hatte. Wie gerne würde ich jetzt ein bisschen in meinem Profil und Stammdatensatz herumstöbern, aber ich bin ja nicht alleine. Frau Mayer steht ungeduldig neben mir und nestelt an ihrer beachtlichen Kette. Also tue ich, was ich soll: meine Kenntnisse zu Protokoll geben. Ich sehe auf dem Computer eine mehrere Bildschirmseiten lange Liste vor mir. Bei jedem Punkt soll ich ankreuzen, ob ich das gut, sehr gut oder hervorragend kann. Die Begriffe sind seltsam vage gewählt. Da steht zum Beispiel »Kulturwissenschaften« oder »Projektarbeit«. Ich finde es ungünstig, dass ich das spontan machen soll, klicke mich aber brav bis ans Ende.
Dann tauschen wir wieder den Platz und sitzen einander gegenüber. Die ganze Zeit schon habe ich überlegt, an wen mich meine Jobberaterin erinnert. Jetzt, nach dem Stühlerücken, habe ich’s plötzlich – an eine Engländerin. Sie könnte gut in einer Roald-Dahl-Geschichte mitspielen – so könnte die vermeintlich liebenswürdige Frau aussehen, die sich einen besonders perfiden Plan ausgedacht hat, um ihren Mann loszuwerden. Sie »vergisst« ihn bei der Abreise in den sechswöchigen Urlaub im kaputten Aufzug ihres großen leeren Hauses.
»Es sieht gar nicht gut aus«, sagt sie und sieht mich über ihre Brille hinweg lächelnd an. »In Ihrer Branche gibt es gerade nichts. Und dann mit Kindern … Die Unternehmen wollen niemanden mit Kind. Die wollen, dass ihre Mitarbeiter rund um die Uhr verfügbar sind. Aber das wird Ihnen so natürlich niemand sagen.«
Ich war zwei Drittel meines bisherigen Berufslebens Mutter und bin niemals deswegen diskriminiert worden. Aber ich sage nichts dazu. Ich weiß aus meinem Freundeskreis, dass es Arbeitgeber gibt, die Mütter lieber aus dem Unternehmen drängen als in Teilzeit zu beschäftigen. Trotzdem finde ich es erstaunlich, wie sicher sich meine Jobberaterin ist, dass ich keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt habe. Statt auf eine fruchtlose Diskussion über die Diskriminierung von Frauen in der Arbeitswelt einzusteigen, erwähne ich lieber meine guten Kontakte, dass ich schon mit früheren Vorgesetzten gesprochen habe, die großes Interesse an meiner Mitarbeit haben, und ich mich notfalls selbstständig machen könnte. Sie nickt und lächelt und lächelt und nickt. Ich interpretiere das als Einverständnis.
Plötzlich fragt sie: »Haben Sie Ihren Ausweis dabei?«
Nein, leider nicht, und sofort fällt mir ein, dass in meiner Vorladung stand, dass ich ihn mitbringen muss. Aber sie ist kulant und mit meiner Bahncard zufrieden. Dann gibt sie mir meine Bewerbungsmappe zurück. Offenbar musste ich sie nur zusammenstellen und schicken, um zu beweisen, dass ich dazu fähig bin. Danach erklärt sie mir ein paar Formalitäten. Mein Bewerberprofil sei bereits jetzt im Internet zugänglich. Drei Monate vor Jobende muss ich mich persönlich arbeitslos melden. Dafür soll ich ohne Termin mit Kündigung und Personalausweis vorbeikommen und das direkt am »Empfang« erledigen.
»Am besten nicht am Anfang des Monats, da kommen alle. Wenn Sie können, kommen Sie gleich morgens um acht, da ist wenig los«, sagt sie. Dann gibt sie mir schon einmal die Unterlagen mit, falls ich mich selbstständig machen möchte. »Sie müssen, um einen Gründungszuschuss beantragen zu können, mindestens einen Tag arbeitslos sein«, schärft sie mir ein. Nachdem sie mir alles übergeben hat, frage ich sie, ob sie die Wirtschaftskrise spürt.
»Langweilig ist uns hier nicht«, sagt sie. Ich habe den Eindruck, dass sie sich über mein Interesse an ihrer Arbeit freut. Anfang des Monats und des Quartals seien in den Gängen alle Stühle besetzt und es gebe Wartezeiten von bis zu zwei Stunden. Nur Mitte des Monats, so wie heute, sei es ruhig. Und morgens um acht auch immer. »Die schlafen gerne lange.«
Ich sehe sie wohl etwas ungläubig an.
»Das ist so«, sie zuckt mit den Achseln und lächelt. »Aber mittags geht es dann zu …«
Ich fühle mich kurz ertappt. Seit ich in Elternzeit bin, stehe ich zwar nach wie vor früh auf, weil der Kleine Hunger hat und Ella in die Schule muss. Aber ich gehe nicht mehr um halb acht aus dem Haus wie früher. Allerdings, wenn etwas zu erledigen ist, stehe ich immer früh parat. Für Frau Mayer scheint das ein wichtiges Kriterium zu sein. Sie trennt offenbar ihre »Kunden« in gute und schlechte Arbeitslose. Gute Arbeitslose stehen voller Pflichtbewusstsein Morgen für Morgen pünktlich auf, auch wenn weder Kollegen noch Chef noch Arbeit auf sie warten. Ich bin entschlossen, für sie ein guter Arbeitsloser zu sein und setze darauf, dass sie die »guten« nicht in eine sinnlose Eingliederungsmaßnahme steckt.
Beim Verabschieden wünscht sie mir alles Gute und viel Erfolg in den nächsten Monaten. »Und nutzen Sie Ihre Kontakte«, ermuntert sie mich und sieht mir dabei tief in die Augen.
Ich bedanke mich für das »angenehme« Gespräch und verabscheue mich etwas für die Schleimerei. Dann trete ich in den braunen Gang und bin sehr froh, die Tür hinter mir zuziehen zu dürfen.
Als ich aus dem Gebäude bin, rufe ich gleich Luc an. »Ich war gerade beim Arbeitsamt …«
»Und wie war’s?«, fragt er.
»Sie hat gar nicht gebohrt«, lache ich, tatsächlich bin ich ziemlich erleichtert. »Und bei dir?«
»Bei mir auch. Da war gar nichts von wegen, dass ich ein Seminar besuchen muss. Wir haben nur mein Bewerberprofil erstellt.«
Nach unserem Telefonat kämpfe ich mit meiner Tasche. Sie ist so überfüllt, dass ich die neuen Unterlagen nur mit Mühe einpacken kann. Dann schwinge ich mich fröhlich aufs Rad. Auf dem Nachhauseweg fängt es an, wie aus Eimern zu schütten. Ich stelle mich kurz unter und packe mein Regencape aus. Ich bin mal wieder für alle Wetter gerüstet, denke ich, und bin sehr zufrieden mit mir. Ich bin fit für dieses Wetter! Ich bin fit für Frau Mayer! Ich bin fit für diesen Arbeitsmarkt! Das wird schon.