Am nächsten Tag packe ich die Antragsformulare für das Arbeitslosengeld aus. Obenauf liegt ein pinkfarbener Notizzettel mit freigelassenen Feldern zum Ausfüllen: Termin im Antragsservice um ______ Uhr. Bearbeitungsplatz ______. Ich ziehe den Hut vor so viel Fürsorglichkeit. Allerdings wäre es mir sicher gelungen, selbst einen Zettel entsprechend zu beschriften. Diesen Servicecharakter würde ich mir lieber für die Formulare wünschen. Aber hier geht es knallhart zur Sache. Für Service und Freundlichkeit ist da keine Zeit.
Die ersten Kästchen sind einfach: Bankverbindung, Familienstand. Interessant wird es bei Punkt 2a, der lautet: »Ich werde alle Möglichkeiten nutzen, um meine Beschäftigungslosigkeit zu beenden.« Hier kann ich »Ja« und »Nein« ankreuzen. Ich halte das »Ja« für selbstverständlich. Potenzielle Neinsager werden auf das »Merkblatt für Arbeitslose« verwiesen. Hier erfahren sie in Kapitel 2.4. in mehreren Abschnitten: »Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld setzt voraus, dass Sie alle Möglichkeiten zur beruflichen Eingliederung nutzen.« Damit keine Missverständnisse aufkommen, wird erklärt, was unter »alle Möglichkeiten« zu verstehen ist: »Eigenbemühungen können zum Beispiel sein … schriftliche Bewerbungen, die Auswertungen von Stellenanzeigen.« Und damit es wirklich jeder kapiert, heißt es schließlich explizit: »Wollen Sie keine Eigenbemühungen unternehmen, haben Sie keinen Leistungsanspruch.«
So geht es von Punkt zu Punkt weiter. Wer jemals die Vorstellung hatte, mithilfe des Arbeitslosengeldes ein lange ersehntes Sabbatical, eine berufliche Auszeit, einzulegen, wird hier eines Besseren belehrt. Zu fast jedem Punkt gibt es seitenlange Erklärungen im Merkblatt. Punkt 2e lautet: »Ich kann bestimmte Beschäftigungen nicht mehr ausüben oder muss mich zeitlich einschränken.« Ja oder Nein? Was das bedeutet, erfahre ich im Merkblatt: »Sie müssen persönlich für Ihre Agentur für Arbeit an jedem Werktag unter der von Ihnen benannten Anschrift erreichbar sein.« Will ich verreisen, und sei es ein Tag, muss ich spätestens eine Woche vorher die Genehmigung von der Agentur einholen. »Sie wird Sie informieren, unter welchen Bedingungen ein leistungsunschädlicher Aufenthalt möglich ist.« Werde ich krank, muss ich »unverzüglich« dem Arbeitsamt Bescheid sagen und ein Attest abgeben. Wird eines meiner Kinder krank, kommt eine Leistungsfortzahlung immerhin »in Betracht«.
Außerdem erfahre ich, dass ich verpflichtet bin, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen. »Zumutbar« sind für das Arbeitsamt unter anderem: ein Gehalt, das bis zu 30 Prozent niedriger als Tarif liegt, und ein Job, der nicht unbedingt der Ausbildung oder bisherigen beruflichen Tätigkeit entspricht.
Eine weitere Voraussetzung dafür, überhaupt Arbeitslosengeld zu bekommen, ist die »Anwartschaftszeit«. Diese grässliche Wortschöpfung steht für die Monate, die ich in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt habe. Nur wer in den vergangenen beiden Jahren mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, hat Chancen aufs Arbeitslosengeld. Allerdings werden auch Zeiten wie Wehr- oder Zivildienst, Mutterschutz und Elternzeit berücksichtigt.
Heikel könnte für mich Punkt 3e werden. »Ich erhalte noch Zahlungen von ehemaligen Arbeitgebern für Zeiten nach meinem Ausscheiden.« Darunter fällt auch meine Abfindung. Herr Roth sicherte mir damals in unserem Gespräch zu, dass die Abfindung nicht aufs Arbeitslosengeld angerechnet wird. Doch im Merkblatt steht: »Auch wenn Sie eine Entlassungsentschädigung erhalten, ruht Ihr Leistungsanspruch für eine bestimmte Zeit, wenn Sie unkündbar waren oder die Kündigungsfrist nicht eingehalten worden ist. Einzelheiten hierzu enthält das Merkblatt 17.«
Eigentlich müsste ich auf der sicheren Seite sein: Ich war nicht unkündbar – sonst hätte das Gewerbeaufsichtsamt nicht zugestimmt – und die Kündigungsfrist wurde eingehalten. Vorsichtshalber suche ich im Internet dennoch nach Merkblatt 17 und lese: »Die Berücksichtigung von Entlassungsentschädigungen ist in § 143a Drittes Buch Sozialgesetzbuch geregelt.« Ich kaue mich durch § 143a und verstehe immerhin, dass man nur dann Probleme bekommt, wenn die Kündigungsfrist nicht eingehalten wurde.
Hoffentlich geht das glatt. Ich brauche die Abfindung, falls ich tatsächlich arbeitslos werden sollte. Das Arbeitslosengeld beträgt mit Kindern 67 Prozent des Nettoeinkommens, für Singles nur 60 Prozent. Das reicht uns nicht. Aber auch falls ich mich selbstständig mache, bin ich auf die kleine Reserve angewiesen. Zugleich habe ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Ich weiß sehr wohl, dass es Menschen gibt, die es schlechter getroffen haben als ich. Die gesetzliche Kündigungsfrist beträgt vier Wochen und nicht sechs Monate, wie bei mir. Ich bekomme nicht nur eine Abfindung, sondern ein paar Wochen lang auch noch mein altes Gehalt. Mein mögliches Absinken in die Arbeitslosigkeit ist abgefedert. Was soll dagegen jemand machen, der vielleicht noch nicht einmal lange genug in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, um überhaupt Arbeitslosengeld zu bekommen? Er schlittert in die Katastrophe.
»Julia, das hilft doch nichts, wenn du dich jetzt mit Menschen vergleichst, denen es schlechter geht«, sage ich zu mir. »Du musst selbst sehen, wo du bleibst!« Ich habe das Gefühl, meine Familie und alles, was ich bisher erreicht habe, verteidigen zu müssen. Auf einmal habe ich Gegner, die Arbeitsagentur mit ihren Paragrafen, Beamte, die meine Kündigung durchwinken, Unternehmen, die nur »Junior-Positionen« besetzen. Ich bin unversehens in einen Kampf um unsere Existenz geraten.
Immerhin geht es meinem Bruder einigermaßen. Er liegt mit Schmerzmitteln vollgepumpt im Krankenhaus, klingt aber ganz gut. Ich nehme an, er ist einfach erleichtert, es hinter sich zu haben. Ich auch.
Abends klingelt es an der Tür. Ein fremder schmächtiger Herr steht mir gegenüber, fein gekleidet. Ich habe gerade den Kleinen auf dem Arm und die Milchflasche in der Hand und starre ihn wohl etwas verwundert an. »Ist das jetzt ein Hausbesuch von der Arbeitsagentur?«, schießt es mir durch den Kopf.
»Guten Tag, ich komme von Ihrem Telefondienstleister. Wir haben da jetzt ganz neue Tarife …«
Jetzt stellt sich Johannes dazu. Er hat sich wohl gefragt, was an der Tür passiert. Nun starren wir den Mann zu dritt an. Er wirkt nett, trotzdem überlege ich, ob das hier der »Ich-bin-angeblich-von-den-Stadtwerken-will-aber-nur-Ihre-Handtasche rauben«-Trick ist. Irgendwie schaffen wir es endlich, ihn abzuwimmeln, ohne allzu unhöflich zu sein.
»Der hat mir jetzt richtig leid getan«, sage ich zu Johannes. »Was für ein schrecklicher Job, die Leute daheim mit irgendwelchem Tarifgedöns zu belästigen.«
»Das sind die Jobs, die das Arbeitsamt vergibt«, meint mein Mann.
Na, ob er damit recht hat?, zweifle ich. Aber ich erschrecke doch. Oh Gott, könnte es je so weit kommen, dass ich so einen Hausiererjob annehmen muss?
Mit der Hartz-IV-Reform wurden auch die Regeln verschärft, welche Jobs Arbeitslosen »zumutbar« sind. In seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 zur »Agenda 2010« kündigte der damalige Bundeskanzler Schröder an: »Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.«
Das trifft auch Arbeitslose, die gerade erst ihren Job verloren haben, wie ich ja aus dem Merkblatt weiß. Wer eine – nach Ansicht der Arbeitsagentur – »zumutbare« Arbeit ablehnt, muss mit Sperrzeiten rechnen: Als Strafe wird das Arbeitslosengeld bis zu 12 Wochen lang nicht gezahlt. Das ist noch nicht alles. Wer der Arbeitsagentur mehrmals Anlass zu Ärger gibt und deswegen auch mehrmals »bestraft« wird, muss mit dem kompletten Verlust des Arbeitslosengelds rechnen. »Bitte bedenken Sie«, steht fett gedruckt im Merkblatt, »Ihr gesamter Leistungsanspruch erlischt, wenn Sie Anlass zum Eintritt von Sperrzeiten mit einer Gesamtdauer von 21 Wochen oder mehr geben (z. B. zwei Sperrzeiten von je 12 Wochen Dauer). Auf den Grund für die einzelnen Sperrzeiten kommt es dabei nicht an.«
Noch schärfer sind die Regeln für Arbeitslose, die das Arbeitslosengeld II, also Hartz IV, beziehen. Für sie gibt es ein 72-Seiten-dickes »Merkblatt«. Hier heißt es dann auf Seite 18: »Als Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende sind Sie verpflichtet, jede Arbeit anzunehmen, zu der Sie geistig, seelisch und körperlich in der Lage sind.«
Was passiert, wenn ein Hartz-IV-Empfänger eine »zumutbare« Arbeit ablehnt, steht im Kapitel 15 unter der Überschrift »Sanktionen«: »Das Gesetz sieht bei pflichtwidrigem Verhalten unterschiedliche Folgen (Sanktionen) vor. Die Leistung kann danach vermindert werden oder ganz entfallen.« In einem »ersten Schritt« wird das Arbeitslosengeld um 30 Prozent gekürzt. Bei »wiederholten Pflichtverletzungen« wird das Geld erst um 60 Prozent gekürzt, bei weiterer Pflichtverletzung entfällt das Geld »vollständig«. Diese Sanktionen gelten immer für einen Zeitraum von drei Monaten – »auch wenn das Verhalten, mit dem eine Pflicht verletzt wurde, nicht so lange andauert«.
Arbeitsmarktexperten zufolge sind diese Zumutbarkeitsregeln dafür verantwortlich, dass in den vergangenen Jahren in Deutschland ein Niedriglohnsektor mit Armutsjobs entstanden ist. Die Grenze zum Niedriglohn liegt bei zwei Dritteln des Durchschnittseinkommens, das entspricht in Westdeutschland knapp zehn Euro die Stunde. Die durchschnittlich gezahlten Niedriglöhne sind aber deutlich niedriger, in Westdeutschland sind es nur etwa sieben Euro. Wer für so wenig Geld arbeitet, verdient nicht genug, um zu überleben. Um über die Runden zu kommen, müssen die Niedriglohnbezieher zusätzlich Hartz IV beantragen. Nach einem Bericht des Deutschen Gewerkschaftsbunds werden Ende 2009 mehr als 1,3 Millionen Erwerbstätige ergänzend Hartz IV erhalten – das sind 40 Prozent mehr als im Jahr 2005. Nach DGB-Berechnungen summiert sich das für den Staat auf Kosten von vier Milliarden Euro jährlich. Genau genommen subventioniert er damit den Niedriglohnsektor.
Später am Abend hindert mich der kleine feine Herr am Einschlafen. Mir fallen lauter Jobs ein, die mir die Arbeitsagentur vermitteln könnte. Ich stehe wieder auf und laufe im Pyjama ins Wohnzimmer zu Johannes, der lesend auf der Couch sitzt.
»Das Schrecklichste wäre für mich, wenn ich wieder kellnern müsste. Bitte, ich will nie wieder im Café bedienen müssen«, sage ich unvermittelt völlig verzweifelt zu meinem Mann.
Er sieht von seinem Buch auf und mich über seine Lesebrille hinweg an. »Das muss du nicht. Das verspreche ich dir. Eher gehe ich auf den Bau.«