In Aktion

Am nächsten Morgen sind die Erleichterung und die Zuversicht, die mich nach diesem ersten Termin in der Arbeitsagentur überkamen, verschwunden. Stattdessen fühle ich Ernüchterung und Wut. Wut über die Unverschämtheit, mir zu sagen, dass ich sowieso kaum Chancen habe. Und das von Leuten, die sich auch noch »Jobberater« nennen. Wut über den Zwang, solche Termine wahrnehmen zu müssen.

Mein misslungenes Gespräch ist keine Ausnahme. Für eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung begleiteten zwei Wissenschaftler in den Jahren 2007 und 2008 42 Beratungsgespräche in Arbeitsagenturen. Nur in 17 Prozent der Gespräche gab es eine wirkliche Beratung, stellten die Forscher fest. Die Vermittler seien vor allem damit beschäftigt gewesen, Computerformulare auszufüllen. Das Fazit der Wissenschaftler: Zu einem Dialog »auf Augenhöhe«, in dem Erwerbsloser und Vermittler miteinander über die beste Strategie zur Beendigung der Arbeitslosigkeit verhandeln, komme es nur selten.

Wie ich aus dieser Studie erfuhr, müssen die Jobvermittler ein vorgegebenes Schema bei jedem Gespräch anwenden, das von der Controllingabteilung überprüft wird. Es ist auch im Nachhinein eine seltsame Vorstellung, Objekt eines prüfenden Controllerauges gewesen zu sein. Neu ist mir auch, dass ich sofort in meinen Jobchancen beurteilt wurde. Frau Mayer muss, kaum dass ich aus der Tür war, mich einer von vier Kategorien zugeordnet haben. Ich nehme an, sie hat mich wegen der Kinder zu einem »Betreuungskunden« gemacht, das heißt, dass ich in den nächsten zwölf Monaten keinen neuen Job finden werde. Das passt mir nicht, so zum Problemfall gemacht zu werden. Lieber wäre ich ein »Marktkunde«, der keiner besonderen Unterstützung bedarf. Zur Wahl stünde noch der Beratungskunde in den beiden Formen »Aktivieren« und »Fördern«. Muss ihn der Jobberater nur in seiner Motivation und Stellensuche »aktivieren«, ist er schneller zu vermitteln. Bei »Fördern« sind weitere Qualifizierungen nötig.

Am liebsten würde ich ihr einen Brief schreiben und zu meiner Einordnung Stellung nehmen: »Liebe Frau Mayer, leider muss ich annehmen, dass Sie mich als Betreuungskundin eingeordnet haben. Bitte erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass wir bei der Einschätzung meiner Chancen unterschiedlicher Auffassung sind. Ich bin mir sicher, in naher Zukunft eine neue Position zu finden und mein eigenes Geld verdienen zu können. Wenn es gut läuft, sogar, bevor ich überhaupt arbeitslos werde. Vergessen Sie nicht: Es sind Monate Zeit bis dahin. Daher möchte ich Sie bitten, mich als Marktkundin einzustufen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie meinen Status noch einmal überdenken könnten. Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. Mit freundlichen Grüßen …«

Aber ich werde mich hüten. Auf keinen Fall will ich es mir mit Frau Mayer verscherzen. Vielleicht ist es Zeit für eine neue Regel für Gekündigte. Regel Nummer eins und zwei waren: Sorge für ein gutes Zeugnis und verwandle dich zum DIN-Bewerber. Regel Nummer drei müsste lauten: Stelle dich gut mit deinem Jobberater. Er ist der Mächtigere von euch beiden.

Es wäre fair, wenn man seine Arbeitslosenversicherung kündigen und zu einem anderen Anbieter wechseln könnte. Verglichen mit allen anderen Versicherungen, die man im Laufe seines Lebens abschließt – Haftpflicht, Unfall, Hausrat et cetera – bietet die Arbeitslosenversicherung definitiv den schlechtesten Service. Wenn ich bei, sagen wir, meiner Haftpflichtversicherung anrufe, weil ich irgendetwas kaputt gemacht habe, was mir nicht gehört, werde ich dort sehr freundlich empfangen. Der Schadensfall wird geregelt, ohne dass ich auf meine Pflichten hingewiesen werde, mir mit Sperrzeiten gedroht wird oder mir ein Arbeitspaket auferlegt wird, wie es die Arbeitsagentur macht.

Im Umgang mit der Arbeitsagentur habe ich nie den Eindruck, einen Anspruch auf das Arbeitslosengeld und den »Service« zu haben. Im Gegenteil. Es wird einem das Gefühl vermittelt, dass man die Aufmerksamkeit der Arbeitsagentur gnädigerweise erhält, aber nur, wenn man »ein guter Arbeitsloser« ist und alles tut, was von einem erwartet wird. Man fühlt sich klein und erniedrigt. Und dass man seit der Arbeitsmarktreform als »Kunde« bezeichnet wird, wirkt fast höhnisch, wie ein Schlag ins Gesicht. Jedes Unternehmen, das seine Kunden auf diese Art und Weise behandelt, wäre in kürzester Zeit pleite. Auch der Begriff »Agentur« kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um ein Amt und schikanöse Bürokratie handelt. Immerhin erreicht die Behörde damit eines: Jeder versucht, dass er so schnell wie möglich aus ihrem Machtkreis verschwindet und wieder zu Arbeit kommt.

Die folgenden Tage stehen ganz im Zeichen der Jobsuche. Ich muss unbedingt ein paar Bewerbungen losschicken. Zuerst will ich bei einem Arbeitgeber anrufen, der eine sehr interessante Position ausgeschrieben hat. Die Stelle scheint geradezu für mich gemacht. Ich erfülle jede einzelne Voraussetzung. Leider ist kein Ansprechpartner angegeben und den will ich jetzt erfragen. Und wer weiß, vielleicht ergibt sich aus dem Telefonat noch mehr. (»Sehr gut«, motiviert mich eine innere Stimme im Ohr. Sie gehört Frau Mayer, meiner Jobberaterin. »Genau so muss man es machen! Das habe ich in Bewerbungsratgebern gelesen.« Dann verstummt sie zum Glück. Was hat sie auch in meinem Kopf zu suchen?)

Allerdings habe ich die Rechnung ohne die Dame am anderen Ende der Leitung gemacht. Sie scheint die Funktion eines Bewerber-Abschreckers innezuhaben, obwohl ihre Telefonnummer in der Anzeige angegeben ist. Sie gewährt mir kein »Guten Morgen«. Meine Frage kommentiert sie mit einem knappen »Nein«. Und während ich mich noch verabschiede, knallt sie schon den Telefonhörer auf – natürlich ohne ein »Wiederhören« oder ähnlichen höflichen Schnickschnack.

Na gut, dann adressiere ich mein Anschreiben eben an die »sehr geehrten Damen und Herren«. Abwimmeln lasse ich mich so leicht nicht. Vielleicht ist Montagmorgen auch der falsche Zeitpunkt, um anzurufen.

Sämtliche Bewerbungsratgeber empfehlen Jobsuchern, vor der schriftlichen Bewerbung den telefonischen Kontakt zu suchen. Ich sehe ein, dass man damit aus der Masse der Bewerber herausstechen kann. Sicherlich macht sich nicht jeder die Mühe und manche scheuen womöglich auch die Situation. Andererseits muss man ja auch über etwas reden können beziehungsweise sinnvolle Fragen stellen. Und wenn das nicht klappt, sei es vor Aufregung oder weil die Chemie mit dem Gesprächspartner nicht stimmt, kann der Schuss nach hinten losgehen.

Damals, in der guten alten Zeit, als ich noch bei meinem Arbeitgeber fest im Sattel saß, war ich oftmals auf der anderen Seite: Bewerber riefen mich an. Diese Telefonate waren meistens überflüssig und deswegen nervig, manchmal aber auch sehr aufschlussreich. Ich erinnere mich vor allem an Bewerber, die einen negativen Eindruck hinterließen, weil sie entweder zu ahnungslos oder zu forsch waren.

Ich bin gespannt, was aus meiner Bewerbung wird und ob mir mein missglückter Telefonversuch negativ ausgelegt wird. Zumindest zum Vorstellungsgespräch würde ich sehr gerne eingeladen werden.

Ich versuche den unschönen Anruf zu verdrängen und mache mich an die nächste Stellenanzeige. Diesmal wird eine Onlinebewerbung gewünscht. Hätte ich die Wahl, würde ich lieber eine Bewerbungsmappe schicken. Es erscheint mir so unpersönlich, meine Daten in vorgegebene Abfragefenster einzugeben. Auch das Anschreiben würde ich lieber ausdrucken und persönlich unterschreiben, als es online zu formulieren. Es dauert lange, bis ich alles ausgefüllt, wieder und wieder kontrolliert und die gewünschten Dateien wie Zeugnisse hochgeladen habe.

Kaum habe ich den Button »Bewerbung abschicken« gedrückt, erhalte ich eine automatisierte E-Mail. Ich habe jetzt einen Benutzernamen und ein Kennwort. Das finde ich seltsam, die Bewerbung ist ja schließlich schon verschickt – oder geht das Unternehmen davon aus, dass man sich für mehrere Positionen bewirbt? Noch während ich darüber nachdenke, kommt schon die zweite automatisierte E-Mail. Nun wird mir für mein Interesse gedankt und ich werde um Geduld gebeten: »Die Bearbeitung Ihrer Bewerbung wird einige Zeit in Anspruch nehmen.« Dabei ist die Stelle doch »zum sofortigen Eintritt« ausgeschrieben, wundere ich mich.

Sobald ich die Zeitung aufschlage, habe ich den Eindruck, dass ich mich mit meiner Jobsuche noch mehr beeilen sollte. Für nächstes Jahr werden höhere Arbeitslosenzahlen prognostiziert. »Die Krise ist nicht vorbei. Die schwierigsten Monate kommen erst noch«, heißt es von allen Seiten. Einen Vorgeschmack darauf gibt es schon jetzt. Das Versandhaus Quelle ist pleite. Auf einen Schlag verlieren Tausende von Mitarbeitern ihren Arbeitsplatz.

Bei der Wirtschaftsentwicklung sind sich die Experten uneins. Kaum sagt ein Institut, es gehe aufwärts, schon meldet sich ein Bedenkenträger und warnt vor zu viel Optimismus. Bislang haben mich die regelmäßigen Konjunkturerwartungen zum Gähnen gelangweilt. Aber jetzt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben den Eindruck, dass diese Prognosen etwas mit mir persönlich zu tun haben. Und nicht nur mit mir. So viele sind betroffen. Meine Kollegen, die Angst haben, den Job zu verlieren. Mein Bruder, in dessen Unternehmen Kurzarbeit ist. Johannes, bei dem die Aufträge zurückgehen. Luc, den es ebenfalls erwischt hat.