Als Bewerber, lerne ich, muss man geduldig sein. Man schickt seine Unterlagen ab und dann kommt erst einmal – nichts. Doch heute, ein paar Wochen nach meiner ersten Bewerbung, erhalte ich meine erste Einladung zum Vorstellungsgespräch. Ist das nicht toll? Allerdings mischt sich in meine Freude und meinen Stolz auch ein unangenehmes Gefühl. Denn der Arbeitgeber ist in einer anderen Stadt. Und das ist ein Problem: Johannes kann wegen seines Berufs nicht umziehen, also kommt ein Ortswechsel für uns gar nicht infrage. Beworben habe ich mich damals, weil die Stelle so gut auf mich passte. Und weil ich vorübergehend in Panik war, nicht rechtzeitig einen Job zu finden – ohnehin schienen alle passenden Stellen in anderen Städten zu sein. Und, ja, auch weil ich Angst davor hatte, der Arbeitsagentur ausgeliefert zu sein.
Eigentlich sollte ich mich richtig freuen. Das war meine erste Bewerbung und gleich erhalte ich eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Meine Verwandlung zum DIN-Bewerber scheint also erfolgreich gewesen zu sein. Aber ich bin hin- und hergerissen und überlege, was ich machen soll.
»Nimm es als Übung«, versuche ich mich zu motivieren. Aber in Wirklichkeit empfinde ich es als Zumutung, ein Vorstellungsgespräch probehalber zu absolvieren, auch wenn das in der Ratgeberliteratur so empfohlen wird. Dafür ist es für den Arbeitgeber und für den Bewerber zu aufwendig. Dann sage ich mir wieder, realitätsfern: »Wer weiß, was daraus wird. Vielleicht ist der Job so toll, dass wir doch umziehen …«
»Der Termin scheint dich ja ganz schön zu stressen«, kommentiert Johannes meine Unruhe. »Ich würde da ganz locker hingehen. Du willst den Job doch sowieso nicht.«
»Ja, schon«, stimme ich halbherzig zu.
»Ich ziehe nicht in dieses Kaff!«, sagt er bestimmt.
»Ich weiß, ich auch nicht«, lenke ich ein.
Dennoch will ich das jetzt durchziehen. Weiß der Teufel, warum. Also arbeite ich weiter an meiner Bewerberpersönlichkeit. Ich kaufe mir einen DIN-fähigen Anzug – beziehungsweise das, was ich mir darunter vorstelle: eher dezent – und bereite mich auf den Termin vor. Ich lese alles, was ich über das Unternehmen finden kann. Ich weiß, wann es gegründet wurde. Ich kenne das Leitbild und das Bekenntnis zur Frauenförderung. Ich versuche, die Hierarchien und Organisationsstrukturen nachzuvollziehen, und lerne die Namen der Ansprechpartner und der Top-Manager auswendig.
»Sehr gut machen Sie das, Frau Berger«, lobt mich dafür Frau Mayer im Ohr, mein Arbeitslosengewissen.
Und ich bereite mich auf typische Fragen vor wie: »Was sind Ihre Stärken und Schwächen?«, »Warum sollten wir Ihnen diesen Job geben?«, »Warum möchten Sie diese Position?«, »Was möchten Sie bei uns erreichen?« Ich trage diese Fragen in Gedanken mehrere Tage mit mir herum, und wie von selbst kommen mir nach und nach die Antworten. Die Frage nach den Schwächen finde ich am schwierigsten. Hier will doch kein Arbeitgeber hören »Ich bin ein Pedant« oder »Ich bin eine unstete Natur und halte es nirgendwo länger als ein halbes Jahr aus«. Die Kunst ist es, ehrlich zu sein, ohne Negatives zu verraten. Ich entscheide mich für »Ich bin ungeduldig«, mit der Erklärung, wie ich mit dieser Schwäche umgehe und was ich schon gelernt habe.
Am Vorabend des Termins bemerke ich einen Stimmungsumschwung. Plötzlich habe ich richtig Lust auf das Vorstellungsgespräch. Die negativen Gefühle und die Unsicherheit sind weg. Meine Vorbereitungen haben anscheinend geholfen, mich zu motivieren. Ich will jetzt da hin. Ich will das Unternehmen kennenlernen, mehr über die Stelle erfahren, zeigen, was ich draufhabe.
Am nächsten Tag stehe ich um halb sechs auf. Ich habe einen langen Weg vor mir. Doch ein ruhiges Frühstück ist nicht drin. So schlaftrunken Ella noch ist, so wach sind schon ihre Sensoren für Ungewöhnliches.
»Wo fährst du denn hin?«, fragt sie müde. Mist, ich habe sie aufgeweckt.
»Ich habe einen Termin«, antworte ich ausweichend und will mich in die Küche verziehen. Warum sollte ich sie jetzt damit beunruhigen, dass ich mich in einer anderen Stadt bewerbe?
Aber da ruft Johannes aus dem Schlafzimmer: »Sie hat ein Vorstellungsgespräch, irgendwo ganz weit weg.« Na, danke, Johannes. Sehr feinfühlig. Manchmal könnte ich meinen Mann …
Wie von der Tarantel gestochen rennt Ella im Schlafanzug hinter mir her. »Ich WILL aber nicht wegziehen!!!«, ruft sie entrüstet.
Ich habe Mühe, sie zu beruhigen. Schließlich akzeptiert sie, dass ich quasi nur »zur Übung« hinfahre. Gut findet sie das aber nicht.
»Das ist doch gemein, nur zur Übung hinzufahren«, kritisiert sie mich.
»Das ist überhaupt nicht gemein«, mischt sich Johannes wieder ein. »Wenn sie ihr 10 000 Euro im Monat zahlen und sie das in Teilzeit im Home-Office machen kann, sagt sie natürlich zu.«
Na klar, denke ich mir, Teilzeit und 10 000 Euro im Monat … Aber ich halte mich jetzt raus. Ich muss los.
Unterwegs lasse ich mir noch einmal meine Antworten auf mögliche Fragen durch den Kopf gehen und durchforste die Tageszeitung nach irgendwelchen relevanten Nachrichten. Trotzdem bleibt viel Zeit, aus dem Fenster zu sehen. Ich erinnere mich an die Bewerbungsgespräche, die ich nach meinem Studium hatte.
Einmal saß ich einer Psychologin gegenüber, die mir erklärte, dass es in ihrem Unternehmen selbstverständlich keine Arbeitsverträge gäbe. Alle würden »auf Vertrauensbasis« zusammenarbeiten. Sie schien an mir sehr interessiert zu sein, hielt mich jedoch wochenlang hin. Schließlich kam ein langer, von Hand geschriebener Brief. Darin erklärte sie mir, dass sie sich nun doch gegen mich entschieden habe. Ich sei nun mal ein »ernsthafter, nachdenklicher Mensch«, der Job, den sie zu bieten habe, aber doch eher »oberflächlich«. Ein anderes Mal landete ich bei einem kettenrauchenden Workaholic. Das Erste, was er sagte, war: »Sie sehen ja ganz anders aus als auf dem Foto!« Was mich in seinen Augen disqualifizierte. Unglaublich war auch das Vorstellungsgespräch, bei dem ich, einer Inquisition gleich, einer ganzen Runde von Interviewern gegenübersaß. Danach erfuhr ich zufällig, dass es sich bei den meisten um Praktikanten handelte. Oder das Assessment-Center, bei dem Gewissensfragen gestellt wurden: »Würden Sie auch für ein Unrechtsregime arbeiten?« Ich habe verneint, doch ob ich nur deswegen den Job nicht bekam?
Aber diese ganze Bewerbungsodyssee damals fand ein gutes Ende: Ich bekam meinen Traumjob, so ausgelutscht der Begriff auch ist. Das Unternehmen, zu dem ich unbedingt wollte, sagte mir zu – meine Exarbeit. Das gibt mir jetzt Vertrauen. Es wird schon alles richtig kommen, sage ich mir.
Beim Umsteigen in die Regionalbahn steigen trotzdem wieder Zweifel in mir auf. Im Regen stehe ich auf dem trostlosen Bahnsteig, friere und frage mich, was ich mir da eingebrockt habe. Das »Kaff«, wie Johannes sagt, ist nur mit Regionalverkehr zu erreichen.
Dafür ist es nett, wie ich eine halbe Stunde später feststelle, und die Lage des Unternehmens ist herrlich. Plötzlich wandelt sich meine Laune erneut und ich finde es erstrebenswert hier zu sein. Ich bin auf einmal in Bewerbungsstimmung mit dem richtigen Kick Adrenalin.
Ein paar Minuten später sitze ich im Vorzimmer. Der Oberboss persönlich holt mich dort auf die Minute pünktlich ab. Das überrascht mich positiv, auch Sympathie ist da. Unter kurzem Small-Talk werde ich in sein Zimmer geführt und stutze – was man mir hoffentlich nicht ansieht. Der ovale Tisch ist schon voll besetzt. Kurz erschrecke ich und überlege, ob es sich hier um ein Bewerber-Blind-Date handelt. Aber nein, die Ansprechpartner werden mir mit Namen und Funktion vorgestellt. Das wäre eigentlich nicht nötig gewesen, denke ich mir zufrieden. Die Namen kann ich dank meiner Vorbereitung auch so den Positionen zuordnen. Ich darf am Kopfende Platz nehmen und schaue in fünf erwartungsvolle Gesichter.
Nun kommt die Aufforderung »Bitte erzählen Sie uns doch Ihren Werdegang und was Sie zu uns führt«. So. Das ist eine völlig einleuchtende Eröffnungsfrage. Komischerweise habe ich daran in meiner Vorbereitung nicht gedacht. Macht nichts. Ich erzähle drauflos, zunächst etwas aufgeregt, aber nach und nach ruhiger und fester. Mein Schlusssatz, dass ich mich gerade für dieses Unternehmen begeistern kann, weil es mir von meinen Interessen naheliegt, sorgt beim direkten Vorgesetzten für zustimmendes Nicken.
»Ja, das kann ich gut nachvollziehen. Ich wäre auch nicht überall hingewechselt«, sagt er und schickt erläuternd nach: »Ich bin ja auch erst seit einem Monat dabei.«
Das bricht bei mir noch mehr das Eis. Die Anspannung weicht von Frage zu Frage. Sie machen es mir auch wirklich leicht. Es kommt keine einzige dieser komischen Standardfragen. Weder meine »Schwächen« noch meine »Stärken« scheinen sie zu interessieren. Vor allem werde ich nach meinen Einschätzungen und Ideen zu bestimmten Punkten gefragt, die in das Aufgabengebiet der neuen Position fallen. Ich ernte öfters ein bestätigendes Nicken, manchmal auch einen zweifelnden Gesichtsausdruck. Aber das bringt mich jetzt nicht mehr durcheinander. Vor allem, da die fünf zwischendurch einander Anekdötchen erzählen und so nicht den Eindruck machen, mir auf den Zahn zu fühlen. Es wirkt auf mich immer mehr wie ein nettes Beisammensein, bei dem wir uns über das Unternehmen unterhalten. Ich fange tatsächlich fast an, mich wohlzufühlen.
Wie erwartet darf ich am Ende ein paar Fragen stellen, die ich mir auch schon vorher überlegt hatte. Ich frage nach den Abstimmungswegen und Hierarchien, nach dem Vorgänger und dem Team, nach dem Einstellungsbeginn.
Hier übernimmt dann der Mitarbeiter aus der Personalabteilung das Wort und versetzt mir einen kräftigen Dämpfer, als er von sich aus auf das Gehalt zu sprechen kommt. Er nennt ein Tarifgehalt und berücksichtigt explizit nur einen Teil meiner bisherigen Berufsjahre. Es ist niedrig, zu niedrig. Viel niedriger als in meiner Exarbeit. Es ist völlig unrealistisch, das mit Verhandeln in die von mir gewohnte Höhe zu schrauben. Und das, selbst wenn ich eine Diskussion über die Anerkennung meiner Berufserfahrungen anfangen würde, die im Moment aber völlig fehl am Platz wäre.
»Sie werden zügig von uns hören«, sagt abschließend der Oberboss und begleitet mich nach einer kurzen Verabschiedungsrunde wieder hinaus.
Wieder allein, bin ich noch immer ein wenig außer mir. Es dauert ein paar Minuten, bis ich zur Ruhe komme. Eigentlich bin ich ganz zufrieden. Das Gespräch hat in angenehmer Atmosphäre stattgefunden. Ich habe mich gut geschlagen, musste bei keiner Frage passen.
Auf der Zugfahrt nach Hause ist mir eigentümlich zumute. Es ist, als böte sich ein zweites Leben an. Ein ganz anderer Job, eine ganz andere Stadt. Seltsam.
Doch je länger das Gespräch zurückliegt, umso unsicherer werde ich, ob es wirklich so gut lief. Auf einmal fällt mir auf, was ich gar nicht gesagt habe oder nicht so gut gesagt habe. Ich bilde mir ein, dass es mich nicht wirklich stört. Ich denke mir: Es ist doch sowieso besser, sie nehmen dich nicht. Andererseits war es so nett und die Position ist wirklich interessant. Hoffe ich insgeheim vielleicht doch auf eine Zusage? Ich weiß nicht, was ich wollen soll.
Da ruft mich mein Bruder an.
»Wie geht’s?«, frage ich ihn.
»Ich liege schon wieder in der Klinik.« Er klingt abgekämpft.
»Was ist denn los?«
»Als ich heute Morgen aufgewacht bin, waren meine Lippe und meine Hand angeschwollen. Richtig dick. Die sagen, das wäre eine Allergie, wissen aber nicht, gegen was.«
Sofort verdrängt die Sorge um meinen Bruder meine Bewerberprobleme. Um ihn abzulenken, erzähle ich ihm von meinem Vorstellungsgespräch in dem »Kaff«.
»Wieso hast du das denn gemacht?«, fragt er verständnislos.
»Ich weiß auch nicht. Aus lauter Panik, keinen Job zu finden«, gebe ich zu und schäme mich etwas dafür. Er hätte Grund zur Panik, nicht ich. Auch dem netten Unternehmen gegenüber ist es mir plötzlich unangenehm.
Als ich zwei Stunden später zu Hause die Tür aufsperre, kommt mir gleich Ella entgegen.
»Und? Nehmen sie dich?«
»So schnell geht das nicht. Da gibt es auch noch andere Bewerber. Außerdem wollen wir doch gar nicht umziehen.«
»Wenn ihr da hinzieht, bleibe ich hier! Allein!«, droht mir meine Tochter dennoch vorsorglich.
Am nächsten Vormittag leuchtet eine unbekannte Nummer auf meinem Handy auf. Ich überlege kurz, wer das sein kann – und als ich darauf komme, gehe ich nicht ran. Hilfe! Das sind sie schon. Ich will mich nicht überfahren lassen und hoffe, dass mir die Nachricht auf der Mailbox verrät, was sie wollen. Aber es ist nur eine Bitte um Rückruf. Ich werde furchtbar nervös, richtig wirr im Kopf. »Was mache ich, wenn sie mir jetzt zusagen?«, frage ich mich immer wieder. Ich habe letzte Nacht doch schon im Kopf meinen Absagebrief formuliert!
Ich schreibe mir Stichpunkte auf einen Block: Vielen Dank. Freut mich. Werde mit meinem Mann darüber sprechen. Melde mich.
Dann rufe ich zurück. Die Dame am anderen Ende der Leitung scheint sich richtig zu freuen, als sie meinen Namen hört.
»Wir möchten Sie gerne für ein zweites Gespräch einladen«, sagt sie freundlich und lacht dabei. »Jetzt sind Sie nur noch zu zweit. Sie und eine andere Bewerberin.« Es ist die Dame, die bei meinem ersten Anruf auf die Anzeige hin so erschreckend abweisend war und sich weder zu einem »Guten Tag« noch zu einem »Auf Wiederhören« herabgelassen hatte. Ich lese die ersten beiden Stichpunkte von meinem Block ab (»Vielen Dank«, »Freut mich«), und sie vereinbart mit mir einen Termin in zwei Wochen.
Nachmittags gehen Johannes und ich spazieren. Ich stehe seit der eigentlich guten Nachricht noch immer neben mir und bin völlig unkonzentriert.
»Also ich hätte nichts gegen einen Tapetenwechsel«, sagt Johannes auf einmal.
»Was?«, ich falle aus allen Wolken. »Aber dein Job? Deine Kontakte?« Das ist das Letzte, was ich brauchen kann. Ein schwankender Johannes. Er muss jetzt ganz fest und klar sein, damit sich bei mir das Hirngespinst, den Job anzunehmen, nicht weiter verfestigt.
Ich nenne ihm noch einmal das Gehalt und da macht er sofort einen Rückzieher. Trotzdem überlege ich den Rest des Tages: »Was wäre, wenn …«
Am nächsten Morgen ist auf einmal die Entscheidung da. Ich stehe gerade mit der Zahnbürste in der Hand vor dem Badezimmerspiegel und sehe mir in die Augen. »Du kannst es dir gar nicht leisten, den Job anzunehmen. Das Geld reicht nie und nimmer für die ganze Familie. Johannes müsste wieder bei null anfangen. Wovon sollten wir alleine den Umzug dorthin bezahlen? Sag ab!«, schärfe ich mir ein.
Es dauert zwei weitere Tage, bis ich mich überwinden kann, die Absage zu schreiben. Ich erkläre, dass ich den Job zwar sehr gerne machen würde, dass aber meine Familie einen Umzug nicht unterstützt. Ich entschuldige mich sogar dafür. Das können sie mir nicht übel nehmen, denke ich, als ich den Brief einwerfe. Aber damit liege ich offenbar falsch.
Denn die Fahrtkosten werden sie mir daraufhin nicht erstatten, wie mir Wochen später auffallen wird. Ist das womöglich die Rache der schwierigen Dame, die zwischenzeitlich so freundlich schien? Ich mag nicht hinterherbetteln. Ich will deswegen auch nicht die Arbeitsagentur bemühen. Man kann dort die Erstattung von Fahrtkosten zu Vorstellungsgesprächen beantragen, wenn ein Arbeitgeber nicht zahlt. Aber vielleicht würde ich dann Ärger bekommen, weil ich nicht zum zweiten Gespräch gefahren bin? Nein, beschließe ich, es war meine Entscheidung, dort hinzufahren und abzusagen, also trage ich auch die Konsequenzen und zahle selbst.