Mein leeres Büro

Es fällt mir nicht leicht, mein missglücktes Bewerbungsgespräch abzuhaken. Tagelang schleppe ich deswegen eine latente Unzufriedenheit mit mir herum. Ich hadere mit mir, ob mir nicht vielleicht doch ein guter Job durch die Lappen geht. Plötzlich kommt wieder Angst hoch. Angst, auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr Fuß fassen zu können. Angst, nicht genug Geld zu verdienen. Angst, etwas falsch zu machen.

Auf die Angst folgen immer dieselben Vorwürfe, begleitet vom ewigen Genörgel von Frau Mayer im Ohr: »Warum hast du dich nicht schon sofort nach Herrn Roths erstem Anruf viel breiter beworben? Warum bist du überhaupt in Elternzeit gegangen? Wärst du in der Arbeit gewesen, dann hätten sie vielleicht doch etwas für dich gefunden. Warum hast du die Stelle in dem Kaff abgesagt?« Wenn der Sturm der Vorwürfe vorüber ist, bemühe ich mich, wieder zur Vernunft zu kommen. Dann widerlege ich Vorwurf um Vorwurf: »Deinen Kollegen wurde auch gekündigt, obwohl sie vor Ort waren. Du warst doch in Elternzeit und sowieso früh dran mit deinen Bewerbungen. Du brauchst einen Job, von dem ihr leben könnt, nicht eine unterbezahlte Stelle in einem anderen Teil Deutschlands.« Und danach spreche ich mir Mut zu: »Das wird schon. Du bist auf einem guten Weg. Es ergibt sich bestimmt etwas.«

Diese destruktive Gedankenspule aus Angst und Vorwürfen, Beruhigung und Motivationsversuchen überkommt mich inzwischen fast täglich. Manchmal mehrmals täglich. Das belastet mich und wirkt sich negativ auf meine Projekte als Selbstständige aus. Eigentlich läuft es ganz gut, ich habe ein paar Aufträge erhalten, ohne dass ich groß Akquise betreiben musste. Natürlich noch auf einem niedrigen Level, aber immerhin. Doch das Problem ist: Es gelingt mir nicht, mich ihnen mit ganzer Energie zu widmen.

Bislang war ich der Meinung, es sei am besten, doppelgleisig zu fahren: mich auf feste Jobs zu bewerben und zugleich ein Standbein als Selbstständige aufzubauen. Auf einmal merke ich, dass mich das zerreißt. Das geht auf Dauer nicht gut. Es wäre besser, ich könnte mich auf eines ganz konzentrieren. Ich würde so gerne ankommen, wissen, was Sache ist, und mich mit vollem Eifer in die Arbeit stürzen. Es nervt mich, noch immer in einem Zwischenstadium zu hängen. Es nervt mich, wenn meine Mutter zum x-ten Mal am Telefon fragt: »Aber mit dem Job überlegst du dir schon etwas?«

Es nervt mich, wenn ich ständig lese, dass die Wirtschaftskrise in den nächsten Monaten erst richtig bei uns ankommen wird. Bislang seien die Deutschen noch gar nicht wirklich betroffen.

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld hat im Rahmen eines längerfristig angelegten Forschungsprojekts festgestellt, dass die Krise schon jetzt Auswirkungen auf das Zusammenleben in Deutschland hat. Die Menschen haben Angst vor der Zukunft und Angst davor, sozial abzusteigen. Vor allem Angehörige der Mittelschicht befürchten, nach unten abzurutschen. Persönlich von der Krise betroffen fühlten sich 40 Prozent der Interviewten. In erster Linie untersucht die Befragung, die jährlich gemacht wird, die Einstellung der Deutschen gegenüber Minderheiten. Durch die Krise ist die Bevölkerung zwar nicht menschenfeindlicher geworden, dennoch nimmt die Solidarität ab. Vor allem diejenigen, die Zukunftssorgen äußerten, waren Minderheiten gegenüber feindlich gesinnt. Insgesamt stimmten 63,4 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass es empörend sei, wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machten.

Wie ich mich über solche Aussagen ärgere! Es wäre gut, wenn jeder, auch Politiker, Manager, Wissenschaftler, Etablierte, Gutsituierte, einmal erfahren würde, wie es ist, arbeitslos zu sein. Es ist nicht einfach und ein »bequemes Leben« halte ich für Arbeitslose unmöglich. Das weiß ich schon jetzt, obwohl ich offiziell bislang nur »arbeitssuchend« bin.

Der Vorbehalt gegen Arbeitslose ist weit verbreitet. Das merke ich nicht nur an den Reaktionen anderer. Sondern auch an mir. Ich bin verdammt froh, nicht sagen zu müssen: »Ich bin arbeitslos.« Selbst das »Ich bin gekündigt« habe ich mir gespart. Erst war ich »in Elternzeit«, nun »arbeite ich selbstständig«. Das nimmt neugierigen Fragern mit ihrem »Was machst du jetzt eigentlich?«, sofort den Wind aus den Segeln. So stimmt die Fassade. Es ist akzeptabel in einer Gesellschaft, in der nur derjenige eine Daseinsberichtigung hat, der arbeitet. »Arbeitslos«, das klingt nach zu Hause passiv herumsitzen und nichts tun – dabei tut man eine Menge, meine Gekündigtenarbeit nimmt viel Zeit und Energie in Anspruch. Ich rechtfertige mich – warum eigentlich?

In dieser schlechten Stimmung mache ich mich ein paar Tage später auf den Weg in die Exarbeit. Es sind nur noch wenige Wochen, bis mein Anstellungsverhältnis endet. Zuvor habe ich zu Hause alle Unterlagen zusammengesucht, die aus der Firma stammen. Einige Papiere hatte ich in die Elternzeit mitgenommen – sollten Rückfragen kommen oder ich von zu Hause aus Arbeiten übernehmen. Jetzt möchte ich sie zurückbringen. So steht es auch in meinem Abfindungsvertrag: Ich bin verpflichtet, sämtliche Unterlagen etc., die dem Unternehmen gehören, »ordnungsgemäß« zurückzugeben.

Die vergangenen Wochen hatte ich die Fahrt zur Arbeit immer mal schmerzlich vermisst. Gerade dem Alltagstrott, der einen so nervt, solange man drinsteckt, trauere ich nun wehmütig nach. Ich bin gerne bei Wind und Wetter zur Arbeit gefahren. Jetzt jedoch, wo ich tatsächlich auf dem Weg dorthin bin, verhagelt es mir meine ohnehin schon schwierige Laune. Ich fühle mich wie nach meinem letzten Besuch, als ich das Abfindungsangebot erhielt – mit dem Unterschied, dass ich jetzt erst hinfahre. Und ich habe Bauchschmerzen, aber das kann auch vom Frühstücksei kommen.

Und dann wird es zunächst überraschend nett.

Den ersten Kollegen von früher treffe ich noch vor dem Gebäude, die anderen besuche ich an ihren Schreibtischen. Alle scheinen sich zu freuen, mich zu sehen, und nehmen sich Zeit.

»Komm, ich zeige dir deinen Arbeitsplatz«, sagt auf einmal eine Kollegin.

»Wie?«, frage ich planlos zurück, marschiere ihr aber brav hinterher. Ich erwarte eine Kammer, in der sich die Überreste unseres beendeten Projekts traurig stapeln – alte Ordner, ausrangierte Computer, Kabelwirrwarr.

»Hier ist es!« Sie bleibt vor einem Einzelbüro stehen.

Ich sehe einen leeren Bürostuhl, einen Schreibtisch mit Laptop, Bücherregale.

»Wie?«, frage ich wieder und sehe sie verwundert an.

»Der wird noch für dich freigehalten, bis dein Arbeitsvertrag ausläuft.«

Ich fasse es nicht. Das ist mein Büro! Zum ersten Mal in meiner langen Firmenzugehörigkeit habe ich ein Einzelzimmer – und das, ohne davon zu wissen. Sicherlich, ich erinnere mich, wie Herr Roth sagte, dass ein Arbeitsplatz für unser Team während der Freistellungen bestehen bleibt. Aber ich habe mir eher einen Katzentisch irgendwo in einem Konferenzraum vorgestellt, kein neues voll eingerichtetes Arbeitszimmer. Die alten Büros sind mittlerweile alle neu belegt. Auf einmal fällt mir ein, dass ich die einzige Übriggebliebene bin, weil ich die längste Kündigungsfrist hatte. Die Verträge der anderen Kollegen sind schon längst abgelaufen.

Ich hätte also all die vergangenen Monate hier arbeiten können! Das ist doch verrückt. Es ist auch merkwürdig, dass ich meine E-Mail-Adresse nicht mehr nutzen darf, diesen Arbeitsplatz aber schon. Da stehe ich vor meinem leeren Büro und bin traurig und ärgere mich gleichzeitig, dass ich davon keinen Gebrauch gemacht habe. Vielleicht hätte ich davon profitiert, näher dran zu sein, man hätte vielleicht eher an mich gedacht bei freiwerdenden Stellen oder zu vergebenden Aufträgen. Und es wäre doch auch schön gewesen, hier zu arbeiten. Ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen.

Gut, dass in diesem Moment mein ehemaliger Chef Jürgen zufällig vorbeikommt.

»Wie geht es dir?«, frage ich ihn.

»Ganz gut, solange mir nicht gekündigt wird …«

Die Kündigungsangst geht im Unternehmen um. Bei unserem Projekt damals ging es Knall auf Fall. Für den Rest des Konzerns hat sich die Geschäftsführung eine andere Methode ausgedacht. Seit Monaten ist bekannt, dass es Kündigungen geben wird. Aber wen es trifft, wie viele und wann – das weiß keiner.

Das ist eine ziemlich sichere Art, seine Angestellten zu demotivieren. Meine Gespräche mit früheren Kollegen verschiedener Abteilungen vermitteln mir den Eindruck, dass sie sich schon im Höchststadium des Frusts befinden. Sie wirken trotz aller Freude über meinen Besuch doch irgendwie desillusioniert, apathisch, zynisch. Mir fällt – quasi als Außenstehender – auch manche positive Veränderung im Unternehmen auf, seit ich zuletzt da war. Die Kantine zum Beispiel ist deutlich besser geworden. Meine Kollegen zucken darüber nur desinteressiert mit den Schultern.

Die Lektion für Geschäftsführer daraus wäre: In einer Firma, in der Kündigungen anstehen, kann man sich als Boss nette Gesten sparen. Sie bringen nichts, im Gegenteil: Im Zweifelsfall werden sie negativ ausgelegt. Schade, dass diese Erkenntnis in den oberen Etagen offenbar nicht ankommt. Sonst würde die Geschäftsführung die Mitarbeiter doch nicht über Monate mit drohenden Kündigungen quälen.

Mir ist komisch zumute, wenn ich bei meinen früheren Kollegen die Angst vor einer Entlassung spüre. Ich habe das hinter mir, noch dazu hat es mich kalt erwischt: Die Entscheidung fiel so schnell, dass ich gar nicht viel Zeit hatte, mich davor zu ängstigen. Ich habe mich mit meiner Kündigung inzwischen abgefunden (fast, nicht immer, meistens …). Ich habe das Gefühl, schon einen Schritt weiter zu sein als sie. Und so bin ich erleichtert, nicht in ihrer Situation zu stecken. Ich bin froh darüber, keine Angst vor einer Kündigung haben zu müssen.

Das heißt nicht, dass ich froh bin über meine Kündigung. Nein, das nicht. Noch dazu, wo ich jetzt »mein« Büro gesehen habe und so freundlich von allen empfangen wurde.

Auf dem Heimweg fange ich an, furchtbar wehmütig zu werden. Es ist gut, dass ich von meinem Büro nichts ahnte. Wie hätte ich mich von meiner Exarbeit lösen sollen, wenn ich die vergangenen Monate immer vor Ort gewesen wäre? Es fällt mir schwer genug, mich nach diesem Besuch wieder auf mich und meine Zukunft, meine Projekte und Bewerbungen zu besinnen. Andererseits – wo ich sowieso nur noch ein paar Wochen angestellt bin … Ich male mir aus, es zu genießen, wieder Tag für Tag zur Arbeit zu gehen, gerade weil ich weiß, dass es bald endet.

Aber das ist Quatsch. Was sollte ich die ganze Zeit dort tun? Unser Projekt ist eingestellt. Ich habe keine Arbeit mehr. Ich werde nicht gebraucht.

Es ist egal, ob ich in meinem Büro sitze oder nicht.

Das ist bitter. Aber es hilft mir, von meiner Bürobegeisterung herunterzukommen. Ich sehe ein, dass es einfach aus ist zwischen mir und meiner Exarbeit. Wir kommen nicht mehr zusammen. Es ist das definitive Ende einer 15-jährigen gelungenen Beziehung.

Ich bin wieder alleine. Ich bin frei. Ich bin fest entschlossen, das Beste daraus zu machen.