Stelle aus Luft

Kaum sind ein paar Tage nach meiner ersten selbst verfassten Absage vergangen, da geht mein Bewerberparcours schon weiter. Ich bin auf dem Weg zu meinem zweiten Vorstellungsgespräch. Den Termin habe ich vor ein paar Stunden spontan zugesagt. Eine frühere Kollegin, mit der ich vor langer Zeit einmal zusammengearbeitet habe, gab mir den Tipp: Ein Bekannter von ihr würde jemanden suchen. Vielleicht wäre das ja etwas für mich?

Also rief ich dort an. Ihr Bekannter war sehr interessiert.

»Am besten kommen Sie gleich vorbei«, sagte er schon nach ein paar Minuten.

Das ging aber schnell! Trotz unseres Telefonats war mir immer noch nicht so ganz klar, worum es bei dem Job eigentlich ging. Entweder redeten wir aneinander vorbei oder konnte es sein, dass er es selbst nicht genau wusste? Auf jeden Fall spielte er die Position herunter, was mir komisch vorkam. Vorsichtshalber betonte ich, dass ich an einer anspruchsvollen Aufgabe interessiert wäre und auf jeden Fall mehr darüber erfahren müsste. Daraufhin wiederholte er seine Einladung.

Mit sehr gemischten Gefühlen sehe ich unserem Treffen nun entgegen. Irgendetwas sagt mir, das ist nichts. Da wird nichts draus. Wenn nur nicht die ganze Zeit Frau Mayer im Ohr eifrig zustimmen würde. Ständig betont sie: »Na, Frau Berger, habe ich es Ihnen nicht gesagt? Ihre Kontakte müssen Sie nutzen. Ihre Kontakte!«

»Ist ja schon gut. Trotzdem nützen mir meine Kontakte herzlich wenig, wenn der Job nicht passend ist«, gifte ich in Gedanken zurück. Oder bin ich schon so weit, dass ich irgendetwas annehmen muss?, zweifele ich auf einmal wieder. »Nein!«, sage ich mir. »Was macht es für einen Sinn, den nächstbesten Job zuzusagen, nur um dich danach aufs Neue zu bewerben. Für dieses Hin und Her hast du mit den Kindern weder Zeit noch Energie. Und es bringt auch dem Arbeitgeber nichts.« Ich komme mir vor wie ein Heiratsschwindler: Schon wieder bahne ich einen Kontakt zu einem Unternehmen an, mit dem es mir eigentlich nicht ernst ist – oder doch? »Jetzt warte erst einmal ab«, rede ich mir gut zu. »Vielleicht hat der erste Eindruck getäuscht und es ist genau das, was du suchst.«

»Geh hin. Auch wenn du noch nicht weißt, ob du den Job willst«, hat mir Luc empfohlen, als ich ihn vorhin kurz telefonisch um Rat fragte.

Und jetzt bin ich also da. Ich klingle, und kaum bin ich zur Tür herein, höre ich jemanden rufen: »Hier sind Sie schon richtig!«

Ein paar Minuten später sitzen wir uns in Herrn Schillers Büro gegenüber. Er ist auffallend salopp gekleidet. Er sieht aus, als hätte er sich gerade etwas Bequemes angezogen, um Gartenarbeit zu erledigen. Zum Glück habe ich nicht den Anzug an. Ich bin auch so schon overdressed. Er übergibt mir einen Firmenprospekt und erzählt, was seine Firma macht, und erzählt und erzählt. Dazwischen redet er über die Verantwortung von Unternehmen, Mitarbeiter fest anzustellen. (Er sucht einen freien Mitarbeiter …) Und dass er sich selbst niemals vorstellen könnte, in einem Angestelltenverhältnis zu arbeiten.

»Das ist nichts für mich«, sagt er.

Dann bin ich dran, mich vorzustellen und zu erzählen. Ich gebe ihm meine Bewerbungsunterlagen, die er sofort ansieht.

»Hm, hm«, sagt er beim Studieren des Lebenslaufs. »Und jetzt sitzt ihr also alle auf der Straße?«

Er ist offenbar von meiner früheren Kollegin über das Ende des Projekts informiert worden. Aber »auf der Straße sitzen«?

»Nein, nein«, wehre ich ab. »Manche Kollegen arbeiten momentan so wie ich selbstständig, andere haben schon neue Stellen.«

Ich habe den Eindruck, dass er etwas enttäuscht ist. Ein bisschen Arbeitslosenschmerz hätte ihm wohl gerade ganz gut gefallen.

Er hat eine unangenehme Art, Fragen zu stellen. Sie kommen unvermittelt, aus dem Zusammenhang gerissen, zu direkt, fast schroff und überschreiten für mein Empfinden eine gewisse Grenze der Diskretion. Unter anderem habe ich beantwortet: »Mögen Sie Tiere?« – »Werden Sie mit Ihrem Partner steuerlich gemeinsam veranlagt?« – »Haben Sie eine Abfindung bekommen?«

Ich sehe nicht ein, was es ihn angehen soll, ob meine Kollegen und ich Abfindungen erhalten haben. Zum Glück habe ich mir in meinen Berufsjahren für solche Fälle die Fähigkeit angeeignet, ausführlich zu antworten, ohne die gewünschte Auskunft zu geben. Ich rede lang und ausschweifend und führe vom Thema weg.

Das Gespräch verläuft seltsam. Wir kommen nicht zusammen. Wir fallen uns gegenseitig ins Wort oder schweigen uns an oder missverstehen uns. Er erzählt viele Dinge, die mich nichts angehen. Unter anderem über das Privatleben meiner früheren Kollegin. Wenn ich versuche zu erfassen, worum es bei dem Job geht, und konkret nachfrage, wird er vage.

Schließlich verspricht er, sich zu melden, falls sich die Position konkretisiert. Er würde auf jeden Fall nicht nach einer Alternative zu mir suchen.

Na, das ist mal eine Aussage, denke ich mir. Er macht mir Hoffnungen auf eine Beschäftigung, die es noch gar nicht gibt.

Auf dem Heimweg grübele ich über dieses eigenartige Treffen lange nach. Es war mir sehr unangenehm. Und es zeigt mir mal wieder, wie vorsichtig man sein muss, wenn man meint, Bekannten einen Gefallen zu tun. Mir wäre es umgekehrt geradezu peinlich, wenn ich eine Kollegin in so eine Situation gebracht hätte, in der ich die letzte halbe Stunde war.

Warum habe ich mich nur darauf eingelassen? Ich hatte doch zuvor schon so ein ungutes Gefühl dabei. Oder war das jetzt ein klassischer Fall einer Selffulfilling Prophecy? Ging das Gespräch schief, weil ich mit negativen Gedanken hineingegangen bin?

Andererseits war es ja wirklich seltsam, dass über die Stelle partout nichts Konkretes zu erfahren war. Fragen über Fragen türmen sich auf. Was sollte das Ganze, wenn er gar keine Position zu besetzen hat? Oder habe ich ihn falsch verstanden? War das vielleicht nur ein ungelenker Versuch, mir abzusagen? Oder war das alles etwa nur eine Finte, um mehr über das Ende unseres Projekts zu erfahren? Aber was hätte er davon? »Jetzt werde nicht paranoid«, weise ich mich bei diesem Gedanken zurecht. Sofort kommt mir eine neue Idee: Sucht er womöglich gar keinen Mitarbeiter, sondern in Wirklichkeit eine neue Partnerin? Am besten eine tierliebe, solvente mit ordentlicher Abfindung?

Dann fällt mir meine Bewerbungsmappe ein. Ich ärgere mich über mich. Ich ärgere mich, dass ich ihm meine kompletten Unterlagen hingelegt habe. Mit Arbeitszeugnissen und allem drum und dran. Der Lebenslauf allein hätte es auch getan. Ich habe ein ungutes Gefühl dabei, dass dieses doch sehr vertrauliche Dokument bei ihm auf dem Schreibtisch liegt. Er wirkte etwas geschwätzig auf mich. Und er wird doch nicht über ein paar Ecken auch noch Jürgen kennen und auf das Zeugnis ansprechen? Er wird die Mappe hoffentlich nicht ewig offen auf seinem Schreibtisch liegen lassen oder sie einfach weitergeben?

So abwegig sind diese Überlegungen nicht. Nicht alle Unternehmen gehen sorgfältig mit den Unterlagen ihrer Bewerber um. Eigentlich müssen Arbeitgeber abgelehnten Bewerbern die Unterlagen wieder zurücksenden. Es sei denn, sie machen von vorneherein – etwa in der Stellenanzeige – klar, dass das nicht der Fall sein wird. Dann müssen die Unterlagen aus Datenschutzgründen vernichtet werden.

Kürzlich machte ein Unternehmen Schlagzeilen, das offenbar über Jahre Bewerbungsunterlagen gehortet hatte. Um sie loszuwerden, bot die Firma 500 gebrauchte Bewerbungsmappen über das Internetauktionshaus eBay an. Der Schreibwarenhändler, der sie ersteigerte, staunte nicht schlecht, als er feststellte, dass er Mappen mit den kompletten Unterlagen der Bewerber erhielt.

Ich nehme an, dass auch von mir deutschlandweit noch einige Mappen in irgendwelchen Büroschränken herumliegen. Bei meinem Bewerbungsmarathon nach dem Studium erhielt ich von mehreren Unternehmen Briefe, dass es mit der ausgeschriebenen Stelle leider nichts würde, sie meine »interessanten« Unterlagen aber gerne behalten würden. Das klingt in den Ohren eines Bewerbers besser als eine Absage. Es ist zwar auch enttäuschend, weil man sich ja auf eine konkrete Stelle beworben hat. Aber es ist nicht ganz so deprimierend wie ein hartes »Nein«. Tatsächlich hat sich jedoch bis heute keine einzige dieser Firmen je wieder bei mir gemeldet. Nicht dass ich darauf gewartet hätte, ich hatte ja die vergangenen Jahre einen Job.

Es gibt sogar einen eigenen Ausdruck für diese Hinhaltebriefe: »Eisschreiben« werden sie genannt. Sie sollen eine Absage vermitteln und zugleich den Bewerber auf eine vage gemeinsame Zukunft vertrösten. Dafür gab es schon Wettbewerbe, ausgeschrieben von einem Personaldienstleister. Prämiert wurden etwa Sätze wie: »Eines ist sicher, Ihre Bewerbung hat uns sehr gut gefallen und wir freuen uns, wenn Sie uns wieder einmal schreiben.« Und: »Sie haben sich beim richtigen Unternehmen beworben. Leider jedoch im falschen Moment.«