Das Taschengeld

Am nächsten Morgen wache ich mit einer düsteren Stimmung auf, es dauert ein paar Sekunden, bis mir einfällt warum: Krebs. Die Kündigung ist darüber mit einem Mal kein Thema mehr. Unerwartet gekündigt zu werden, das fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Hammer in meinen Alltag geschlagen. Es hat mich sehr aus dem Gleichgewicht gebracht und diesen Schreck habe ich noch nicht überwunden, er kommt immer wieder hoch. Die Grundfesten unseres Lebens wurden erschüttert, die finanzielle Sicherheit, die mein Job unserer Familie garantierte, ist weggebrochen. Aber ich bin dabei, wieder Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Ich kümmere mich um die Formalien, ich schaue nach Alternativen zu meinem alten Job, ich kann etwas tun. Und das hilft mir, über die Momente der Verzweiflung und Unsicherheit hinwegzukommen. Die Diagnose Krebs dagegen macht mich völlig hilflos. Das Einzige, was ich für meinen Bruder tun kann, ist für ihn da zu sein – und hoffen. Hoffen, dass der Krebs nicht schon weit fortgeschritten ist, hoffen, dass die Operation erfolgreich verläuft, hoffen, dass bald wieder alles gut ist.

Die folgenden Wochen sind von seiner Krankheit überschattet. Am Anfang telefonieren wir mehrmals täglich. So kann ich wenigstens seine Langeweile in der Klinik und vielleicht auch seine Ängste, über die wir nie sprechen, kurzzeitig vertreiben, hoffe ich. Ich besuche ihn auch mehrmals, immer wenn es mir mein Kalender erlaubt und es sich mit den Kindern organisieren lässt.

Dazwischen hänge ich mich voll in die Arbeit. Inzwischen ist ein weiterer Auftrag hereingekommen. Es spricht sich offenbar schnell herum, dass ich wieder Aufgaben übernehmen kann. Ich arbeite vor allem abends, weil tagsüber häufig etwas dazwischenkommt. Ich bin ja noch immer in Elternzeit. Nebenbei arbeite ich an meinem Businessplan. Den brauche ich, falls ich mich mit dem Gründungszuschuss der Arbeitsagentur selbstständig machen möchte. Ich bin zwar viel zu früh dran. Doch ich will vorsorgen, ich denke mir: »Wer weiß, wie viel Zeit dir dafür die nächsten Wochen bleibt.«

Ich bin mit allem rechtzeitig fertig, um zu meinem Bruder zu fahren, bevor er zu einer zweiten Operation in die Klinik muss. Ich beschließe, den Kleinen mitzunehmen. Die Idee ist, meinen Bruder abzulenken. Aber es funktioniert nicht.

Mein Bruder ist zu k. o. von der ersten Operation und genervt von seiner besorgten Familie. Er beginnt mir von den Risiken der zweiten OP zu erzählen, bricht aber ab – offenbar mache ich ein zu kummervolles Gesicht. Immerhin höre ich durch, dass er noch gar nicht sicher ist, ob er sich überhaupt wieder operieren lässt.

Mein Vater freut sich, uns zu sehen. Er kümmert sich rührend um uns. Die Krebserkrankung meines Bruders hat ihn gezeichnet. Seine Fürsorge weitet er auf uns aus, auch weil er merkt, dass sie meinen Bruder im Moment eher belastet. Und so komme ich nicht umhin, selbst zum Thema für ihn zu werden. Auf einmal hat er einen kranken Sohn und eine womöglich bald arbeitslose Tochter. Ich hatte ihm vor meiner Abreise den Businessplan gemailt. Damit wollte ich ihn beruhigen nach dem Motto: »Schau, ich mache was gegen die drohende Arbeitslosigkeit.« Und ich wollte auch seinen Rat und sein Feedback einholen. Das erhalte ich dann am Abend und es fällt strenger aus als erwartet.

»Also, Julia, das können wir so nicht lassen«, legt er los. Ganz klar, dieser Satz gefällt mir nicht. Am allerwenigsten behagt mir das »wir«. Das kann nur drei Dinge bedeuten. Erstens: Mein Vater will sich mit mir zusammen selbstständig machen. Oder zweitens: Mein Vater will mein neuer Chef werden. Oder drittens: Ich bin über Nacht wieder zum Schulmädchen mutiert. Alle drei Möglichkeiten gehen mir gegen den Strich. Aber bevor ich antworten kann, feuert er schon sein Urteil ab.

»Das ist absolut unprofessionell. Ich überarbeite das mal.«

Und dann will er mich dazu bringen, seinen Bekannten zu kontaktieren, der für eine Unternehmensgründung »horrende Zuschüsse« erhalten hat. Ich bin in der Zwickmühle. Einerseits schätze ich die Expertise meines Vaters und ich wäre dumm, sie aus kindlichem Trotz nicht zu nutzen. Andererseits will ich mir nichts mehr sagen lassen (müssen) und dem Sozialstaat »horrende« Gelder abknöpfen, das will ich auch nicht – meiner Meinung nach ist der Gründungszuschuss ohnehin großzügig. Wir einigen uns schließlich darauf, dass er den Businessplan auf Vordermann bringt und mir hilft, realistisch einzuschätzen, wie viel ich damit verdienen könnte. Den Bekannten-Kontakt kann ich mit dem Argument wenigstens auf später verschieben, dass ich mir ja noch gar nicht sicher sei, ob ich mich wirklich selbstständig machen möchte.

Schwierig ist auch der Besuch bei meiner Mutter. Ich war nicht umhingekommen, ihr vor ein paar Wochen am Telefon von der Kündigung zu erzählen. Den Entschluss dazu traf ich, weil ich anfing mich zu verplappern und irgendwelche Treffen zu einer Zeit plante, die nach meiner Elternzeit lag.

»Weißt du jetzt schon, wann du wieder anfängst?«, fragte sie mich daraufhin hellsichtig.

»Ähm, ich habe noch etwas Zeit«, versuchte ich mich vage herausreden.

»Haben sie dir nichts angeboten?«, hakte sie nach. Warum können Mütter so hartnäckig sein?

Bei diesem Gespräch redete ich mich ein weiteres Mal mit meinem Elternzeit-Zustand heraus. Beim nächsten schenkte ich ihr dann reinen Wein ein. Seither arbeitet es in ihr.

Als wir uns jetzt wiedersehen, kommt daher das Gespräch unweigerlich auf meine berufliche Situation. Natürlich ist es gegenüber dem, was gerade meinem Bruder widerfährt, völlig unwichtig. Aber es hält sie, genauso wie meinen Vater, nicht davon ab, sich auch Sorgen um mich zu machen.

»Hast du dich schon beworben?«, fragt sie mich. »Ich habe eine interessante Stellenanzeige in der Zeitung gelesen. Da kann man im Internet mehr erfahren«, sagt sie und hält mir einen Zeitungsschnipsel unter die Nase.

»Mhm«, antworte ich einsilbig und denke: »Na super, meine Mama, die von meinem Job im Grunde keine Ahnung hat und noch nie im Internet war, gibt mir Stellen- und Bewerbungstipps.«

»Ja, ja, die habe ich auch gesehen. Keine Sorge. Ich bin dran. Ich habe doch tolle Referenzen«, versuche ich sie zu beruhigen.

»Ein Personalmensch wundert sich bestimmt, was du die ganze Zeit gemacht hast. Die wissen doch gar nicht, dass Kinder viel Arbeit bedeuten.«

Danke, Mama, sehr aufbauend. Aber es kommt noch schlimmer.

»Mit 45 ist Schluss! In dem Alter stellt einen keiner mehr neu ein«, mahnt sie.

Mit 45 … Also, wenn ich bis dahin kein Geld verdiene, habe ich echt ein Problem. »Mama, von 45 bin ich Jahre entfernt!«, rufe ich entrüstet und schnappe mir den Kleinen zum Wickeln, um dieses schreckliche Gespräch endlich zu beenden.

Als ich mich schließlich verabschiede, drückt sie mir einen Packen Geldscheine in die Hand. Ich will abwehren. Aber sie sagt: »Du weißt doch auch nicht, was jetzt kommt …«

»Ach Mama«, protestiere ich. »Ich habe dir doch erzählt, ich mache mich selbstständig, falls es mit der Jobsuche nicht klappt.« Aber sie will das Geld partout nicht zurücknehmen. Am Ende stecke ich es ein. Jetzt bin ich also schon so weit, wieder Taschengeld annehmen zu müssen. Super. Danach gibt sie mir noch einen zweiten Packen Geld. Den soll ich meinem Bruder mitbringen, weil sie ihn selbst nicht mehr sieht, bevor er am nächsten Tag erneut in die Klinik geht.

Am nächsten Morgen bringt mein Vater meinen Bruder ins Krankenhaus. Ich habe mich nicht getraut, ihn noch einmal auf die anstehende Operation und seine Entscheidung anzusprechen. Er wirkt abwesend und ich spüre, dass er jetzt alle Kraft braucht, sich zusammenzureißen, das durchzuziehen. Ich gehe mit dem Kleinen zum Bahnhof, um nach Hause zu fahren. Ich bin völlig geschafft, am Rand der Überforderung. Meine eigenen Jobsorgen sind in den Hintergrund gerückt, ich bin ratlos, was ich für meinen Bruder tun kann, und gestresst, wenn ich an meine Eltern denke. Am liebsten würde ich gar nichts machen, mich der Schwäche, die mich überkommt, hingeben und nur vor mich hinstieren, aber der Kleine verlangt meine Aufmerksamkeit.