Epilog

Jetzt blieb mir nur noch eines zu tun.

Ich vereinbarte ein Treffen in Hongkong mit Zyklop, dem Mann, der mich auf Gotos Spur gebracht hatte. Er war in der Organisation in Ungnade gefallen und sehr schwer aufzuspüren. Sein Vater half mir dabei. Zyklop machte mich zum Teil für den Ärger verantwortlich, den er sich eingebrockt hatte. Dennoch war er bereit, mit mir zu reden. Vielleicht fühlte er sich immer noch ein wenig dazu verpflichtet. Wir trafen uns im internationalen Flughafen, mir war es lieber, auf sicherem Gelände zu sein, denn ich traute ihm nicht. Dafür hatte ich auch meine Gründe. Ich wollte von ihm nur eine Sache wissen: Hatte er mich ganz gezielt mit Informationen versorgt? War das Ganze eine Falle gewesen? Diese Frage beschäftigte mich schon eine ganze Weile.

Zyklop antwortete sofort.

»Natürlich war das eine Falle. Hätten Sie getan, was wir von Ihnen erwartet haben, dann wäre Goto schon 2005 erledigt gewesen. Aber Sie haben es nicht getan. Ich habe allen erzählt, dass Sie den Artikel schreiben würden, aber stattdessen sind Sie einfach abgehauen. Und ich saß in der Tinte. Ich habe Ihnen bei der Kajiyama-Story geholfen, und Sie haben mich im Stich gelassen. Sie haben mein Leben ruiniert. Wegen Ihnen wurde ich rausgeworfen.«

Dazu fiel mir keine gute Erwiderung ein.

»Woher hätte ich wissen sollen, was man von mir erwartet? Sie haben nie etwas gesagt. Und sind Sie sicher, dass man Sie nicht etwa rausgeworfen hat, weil Sie Speed konsumiert haben?«

Das stimmte tatsächlich, Zyklop hatte ein ernstes Problem mit Speed. Er war schon so lange süchtig, dass er wütend und gefährlich wurde, wenn er die Droge nicht nahm.

»Jeder nimmt das Zeug, das ist keine große Sache. Deswegen bin ich nicht ausgebootet worden, das war nur Ihre Schuld.«

»Sie haben mir nur ein Teilchen des Puzzles gegeben, daher hatte ich nicht genug Material für einen Artikel. Hätten Sie mir vom FBI erzählt, wäre alles anders gekommen.«

»Ich habe zwar nicht das FBI erwähnt, aber ich habe Ihnen gesagt, dass er einen Handel mit den Cops geschlossen hat. Das hätte reichen müssen.«

»Nein, das haben Sie nicht. Sie haben nichts von Cops erwähnt.«

»Natürlich habe ich das, da haben Sie nur nicht aufgepasst.«

Vielleicht hatte er ja recht. Denn wir – oder zumindest ich – waren betrunken gewesen, als er mir diesen kleinen Brocken über Gotos großes Abenteuer in L. A. hingeworfen hatte. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass ich mich an ein so wichtiges Detail erinnert hätte.

»Egal, jetzt ist es vorbei und er ist weg. Ich habe getan, was ich tun sollte. Und übrigens – ich finde es nicht lustig, die Spielfigur anderer Leute zu sein.«

Ich nippte noch einmal an meinem Kaffee, dann stand ich auf, da unser Gespräch anscheinend beendet war.

»Sagen Sie, was ist eigentlich mit Ihrer Freundin passiert?«

»Mit welcher Freundin?« Die Frage machte mir Angst.

»Sie wissen schon, welche Braut ich meine.«

»Nein.«

»So eine Gaijin-Nutte. Hieß sie nicht Helena?«

Mir wurde richtig flau im Magen und mir fiel keine schlagfertige Entgegnung ein. Daher setzte ich mich wieder und nahm noch einen Schluck Kaffee.

»Ich kenne eine Frau namens Helena, die ich schon seit einiger Zeit suche. Schon sehr lange.«

»Sie werden nie mehr etwas von ihr hören, denn Sie haben sie umgebracht, wissen Sie das?«

Dabei setzte der Bastard ein großes, fettes, glückliches Grinsen auf. So wie Kinder, wenn man ihnen einen Witz erzählt und sie mit der Pointe herausplatzen. Er ließ die Worte wie einzelne Murmeln von seinen Lippen rollen: »Sie hat in Ihrem Auftrag die International Entertainment Association ausspioniert, stimmt’s? Dabei wurde sie erwischt und dann nach Ebisu in ein Büro gebracht. Sie hatte Ihre Visitenkarte dabei. Aber sie wollte nicht reden. Sie wollte Ihren mageren Arsch unbedingt retten.«

Dann berichtete er ausführlich, was sie mit ihr gemacht hatten. »Sie brauchten ein paar Stunden dazu. Sie haben sie eine Weile gefoltert. Geschlagen. Auch vergewaltigt, mit Dingen, die herumlagen. Sie hat heftig geblutet. Wahrscheinlich ist sie an einem Schwanz erstickt, der in ihrem Mund steckte. Oder an Erbrochenem. Vielleicht wollten sie sie ja gar nicht töten, aber sie hat einfach nicht geredet.«

Das Ganze erzählte er wie beiläufig und machte sich nicht einmal die Mühe, leiser zu sprechen. Als er fertig war, fügte er noch hinzu: »Es war Ihre Schuld, dass sie herumgeschnüffelt hat. Hätte die Goto-gumi Sie für einen verkappten Polizisten gehalten, wären Sie damals auch umgebracht worden. Sie sind eine echte Plage.«

»Das ist doch totaler Quatsch.«

»Woher kenne ich dann ihren Namen?«

Darauf wusste ich keine Antwort. Von mir hatte er ihn nicht bekommen. Ich hatte einige meiner Informanten gebeten, sie zu suchen, und vielleicht hatte einer von ihnen mit Zyklop darüber gesprochen. Das konnte ich aber nicht erwähnen, ohne meinen Informanten zu gefährden. Ich dachte nach.

»Hallo, sind Sie noch da? Jetzt reißen Sie keine Witze mehr, was?«

Dabei zog er einen braunen Umschlag aus seinem Rucksack und knallte ihn auf den Tisch.

»Betrachten Sie das als Geschenk. Ich habe Ihnen mal etwas geschuldet, deshalb habe ich für Sie herumgefragt, und jetzt sind wir quitt.«

»Was ist da drin?«

»Fotos. Warum einen so hübschen Körper vergeuden? Sie haben die Fotos gemacht und den anderen Mädchen in den Clubs gezeigt, damit die wissen, was mit ihnen passiert, wenn sie lästig werden. Werfen Sie einen Blick darauf, dann wissen Sie, dass ich Sie nicht anlüge.«

Ich holte die Fotos heraus. Sie waren schrecklich. Ich habe keine Lust, sie genauer zu beschreiben.

Es war eine Frau. Vielleicht war es Helena, ich weiß es nicht. Das Haar war wie ihres, lang und kastanienbraun. Die Augen waren glasig, sie wirkten nicht wie ihre, aber tote Augen sehen wahrscheinlich immer anders aus. Ich suchte nach dem Leberfleck, den sie auf der Oberlippe hatte, fand ihn aber nicht. Allerdings hatte man ihr die Lippen abgeschnitten – keine sehr subtile Botschaft.

Ich hatte nicht viel Zeit, die Fotos anzuschauen, bevor er sie mir aus der Hand riss und wieder in den Umschlag und dann in den Rucksack steckte.

Ich hatte Mühe, mich nicht zu übergeben, und zu verbergen, dass ich mich sehr, sehr elend fühlte. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass die Schwerkraft stärker geworden war und mich auf meinem Stuhl festnagelte.

»Wie dem auch sei, gute Arbeit. Goto ist weg vom Fenster. Das macht das Leben für mich ein wenig leichter.«

»Ich habe noch eine Frage.«

»Aber ich habe keine Antworten mehr.«

»Hat Goto angeordnet, sie zu ermorden? Falls sie ermordet wurde.«

»Was denken Sie?«

»Ich glaube gar nichts. Ich will nur wissen, was passiert ist.«

»Das kann ich mir vorstellen. Vielleicht hat ihn jemand angerufen und gefragt, was sie tun sollen. Vielleicht haben sie aber auch auf eigene Faust gehandelt. Ich weiß es nicht. Warum fragen Sie Goto nicht selbst?«

»Glauben Sie denn, er würde es mir sagen?«

»Nein, aber es wäre lustig, wenn Sie ihn fragen würden. Selbst wenn er den Befehl erteilt hat, bezweifle ich, dass er sich daran erinnern würde.«

»Warum erzählen Sie mir das alles?«

»Damit Sie es wissen. Damit Sie erkennen, was passiert, wenn man nicht das tut, was man tun soll.«

»Was hätte ich denn tun sollen?«

»Sie hätten einen Artikel darüber schreiben sollen, dass Tadamasa Goto einen Handel mit dem FBI geschlossen hat, um sich in den USA eine Leber transplantieren zu lassen – und dass er dafür einige Mitglieder der Kodo-kai verpfiffen hat. Das hätten Sie tun sollen. Dann wäre seine Karriere sofort beendet gewesen.«

»Aber genau das habe ich jetzt getan. Ich habe Goto und drei andere Dreckskerle entlarvt, die in der UCLA eine Leber bekommen haben.«

Zyklop grinste. »Tja, über die anderen drei hätten Sie besser nicht schreiben sollen. Die hätten sie nicht einmal kennen sollen. Eine Menge Leute sind sauer darüber, dass Sie so tief gegraben haben. Ich gebe zu, dass Sie ein besserer Reporter sind, als ich dachte. Aber Sie sind dumm, begriffsstutzig, stur und rücksichtslos, doch das macht wohl einen guten Journalisten aus.«

Wir saßen stumm am Tisch.

Dann streckte er sein Kinn vor und hob die Augenbrauen.

»Und?«

»Und was?«

»Bedanken Sie sich nicht, wenn Ihnen jemand etwas schenkt?«

»Danke.« Mehr konnte ich nicht sagen.

»Gern geschehen. Tja, es muss hart sein zu wissen, dass sie noch am Leben wäre, wenn Sie sich richtig verhalten hätten. Das muss echt weh tun. So etwas kann einem Journalisten echt die Karriere versauen. Denn wer traut noch einem Reporter, dessen Informanten umgebracht werden?«

»Wenn das, was Sie sagen, stimmt … dann ja.«

»Sie wissen, dass es stimmt, Sie feiger Scheißkerl. Ich lüge nicht.«

»Doch«, sagte ich, allmählich wütend, »Sie lügen. Sie haben mich schon einmal belogen, und ich habe keinen Grund anzunehmen, dass Sie jetzt nicht lügen.«

»Warum sollte ich Sie anlügen?«

»Weil Sie ein rachsüchtiger Wichser sind und wollen, dass ich mich so mies fühle wie Sie.«

Er kicherte. Er war eindeutig bekifft.

»Sie glauben also, ich habe mir das nur ausgedacht, um Sie zu ärgern?«

»Ich weiß nicht, sagen Sie es mir doch.«

»Wenn Sie das glauben wollen, bitte sehr. Wir sind fertig miteinander.« Damit stand er auf und ich stand auch auf.

»Hören Sie«, sagte ich und versuchte ihn aufzuhalten, »sagen Sie mir einfach, dass Sie die Wahrheit sagen. Geben Sie mir eines dieser Fotos. Das kann ich dann jemandem zeigen, eine Fotoanalyse machen lassen, die Knochenstruktur vergleichen oder so. Wenn sie es ist, will ich es wissen. Mehr will ich nicht.«

Er hielt den Rucksack in der Hand. Dann stellte er ihn wieder auf den Tisch – sodass ich ihn leicht hätte packen können. Anscheinend wollte er mich herausfordern. Dann verschränkte er die Arme, neigte den Kopf zur Seite und starrte mich an. Er lächelte sogar ein klein wenig, fast unmerklich.

»Sie beleidigen mich.«

»Sie haben mich belogen. Sie haben mir nicht gesagt, wer Sie waren und was Sie wollten. Sie haben mich manipuliert. Sie haben mit mir gespielt wie mit einem Trottel. Woher soll ich wissen, dass Sie jetzt nicht lügen? An meiner Stelle würden Sie genauso reagieren.«

Zyklop war unbeeindruckt. »Ich bin aber nicht Sie. Und wenn ich Sie wäre, dann wäre ich ein Mann und würde Goto umbringen. Das wäre nicht schwer. Ich kann Ihnen sagen, wo Sie ihn finden und wo Sie ihn allein antreffen.«

»Ich bin aber kein Yakuza.«

»Sie sind auch kein Mann.«

»Und Sie sind kein echter Yakuza.«

»Dummes Geschwätz.«

»Nein, Sie waren nicht einmal auf Shibatas Beerdigung. Wo bleibt die Loyalität, der Respekt?«

»Ich war dort. Aber Ihren weißen Gaijin-Arsch habe ich nicht gesehen.«

Er nahm den Rucksack vom Tisch und zuckte mit den Schultern. »Wenn ich Ihnen je etwas schuldig war, dann schulde ich Ihnen jetzt nichts mehr. Wir sind quitt.«

»Geben Sie mir nur ein Foto. Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann kann ich das nachprüfen. Nur ein verdammtes Foto von ihrem Gesicht. Das ist alles, was ich will.«

»Wie viel würden Sie dafür bezahlen? Das sind wertvolle Dinge.«

»Wie viel wollen Sie denn?«

»Mehr als Sie haben.«

»Ich brauche eine vernünftige Antwort.«

»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück, aber gehen Sie mir besser aus dem Weg.«

»Ich weiß nicht, ob das möglich ist.«

Er beugte sich ein wenig vor und sagte ganz leise: »Einmal hatten Sie Glück. Fordern Sie Ihr Schicksal nicht heraus. Sie durften weiterleben, weil Sie nützlich waren. Jetzt, da Goto weg ist, könnten manche Leute das aber anders sehen. Wenn Sie mir oder meinen Kollegen in die Quere kommen, zerquetschen wir Sie. Es gibt Mittel und Wege, das zu tun, ohne Sie auch nur mit einem Finger zu berühren.« Dann drehte er sich um und ging zu seinem Flugsteig. Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt ist. Und ich werde ihn bestimmt nicht suchen.

Ich weiß, dass Helena ein neues Leben anfangen wollte. Sie hatte Geld auf der Bank, und sie hatte ein Haus gekauft. Sie war schön, fürsorglich, tapfer und sehr lustig, wenn man deftigen Humor mag. Ein Teil von mir will glauben, dass sie ihre Sachen gepackt, alle Verbindungen abgebrochen und ein neues Leben begonnen hat. Seit damals bin ich mit einigen ihrer Freundinnen in Kontakt geblieben, und ich schicke immer noch Neujahrsgrüße an ihre alte E-Mail-Adresse. Sie kommen immer als unzustellbar zurück. Aber ich hoffe, dass ich eines Tages eine Antwort erhalte. Manchmal, wenn ich durch Tokio gehe, meine ich sie zu sehen, ihre Stimme zu hören, aber sie ist es nie.

Beamte der Mordkommission versuchen ihren Verdächtigen oft mit folgendem Satz ein Geständnis zu entlocken: »Kokuhaku shinai to hotoke ga ukabarenai.« In Kriminalfilmen hört man diesen Satz häufig. Frei übersetzt bedeutet er: »Wenn Sie nicht gestehen, kann die Buddhanatur des Toten nicht aufsteigen. Dann findet er niemals Frieden.« Denn einem japanischen Volksglauben zufolge sind Mordopfer zwischen zwei Inkarnationen gefangen wie ein hungriger Geist, bis ihr Tod gesühnt ist. In der buddhistischen Mythologie sind sogar Himmel und Hölle nur zwei Stadien der Existenz. Wir sind dazu verdammt, immer wieder zu sterben und neu geboren zu werden, bis wir als Menschen frei von Hass, Unwissenheit und Gier sind. Was dann geschieht – nun, darauf gibt es keine klare Antwort. Ich vermute, dass es eine sehr angenehme Existenzebene sein wird.

Wenn es möglich ist, von einem Toten verfolgt zu werden, nehme ich an, dass Helena mich heimsucht. Oder ich suche mich selbst heim. Ich bin ziemlich sicher, dass sie nicht mehr am Leben ist, obwohl ich gerne etwas anderes denken würde. Hin und wieder träume ich von ihr. Manchmal ist sie verständnisvoll, ein andermal sehr wütend. Manchmal will sie nur umarmt werden. Ich schlafe nicht sehr gut. Ich habe seit März 2006 nicht mehr gut geschlafen. Falls sie tot ist, wird sie vielleicht erlöst, wenn Goto diese Welt verlässt. Dann kann sie endlich nach Hause gehen. Ich wüsste gerne, dass sie angekommen ist.

Als ich die letzten Beweisstücke sammelte, schloss ich Freundschaft mit einer von Gotos Geliebten. Kurz bevor sie im Mai 2008 Japan verließ, trafen wir uns noch einmal auf dem internationalen Flughafen Narita. Ich schimpfte über Goto, und sie hörte geduldig zu. Wahrscheinlich hasste sie ihn mehr als ich. Mitten in meiner Tirade unterbrach sie mich.

»Jake, haben Sie je daran gedacht, dass sie ihn so sehr hassen, weil Sie ihm ähnlich sind?«

»Nein, das habe ich noch nie gedacht.«

»Ihr seid beide arbeits- und adrenalinsüchtige, schamlose Frauenhelden mit starker Libido. Ihr trinkt zu viel, ihr raucht zu viel, und ihr fordert Loyalität. Ihr seid großzügig zu euren Freunden und rücksichtslos zu euren Feinden. Ihr tut alles, um zu bekommen, was ihr haben wollt. Ihr seid euch sehr ähnlich. So sehe ich Sie.«

»Das glaube ich nicht.«

»Denken Sie darüber nach.«

»Wollen Sie damit sagen, dass wir Zwillinge sind?«

Sie lachte. »Nein. Es gibt zwei große Unterschiede.«

»Da bin ich aber erleichtert. Welche sind es?«

»Sie genießen es nicht, wenn andere leiden, und Sie hintergehen Ihre Freunde nicht. Das sind gewaltige Unterschiede.«

Se küsste mich leicht auf die Wange und ging zur Sicherheitskontrolle und zu ihrem Flugzeug. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich glaube, es geht ihr sehr gut in ihrem neuen Leben.

Früher einmal wollte ich buddhistischer Priester werden. Ich wollte ein guter Mensch sein, etwas für die Welt tun. Als ich im Tempel lebte, versuchte ich es. Ich rauchte nicht, ich trank nicht, ich versuchte, den Edlen Pfad zu gehen. Sehr erfolgreich war ich damit nicht.

Am 8. April 2009 legte Tadamasa Goto in einem Tempel in Kanagawa das buddhistische Gelübde ab und begann ein Studium, um Priester zu werden. Natürlich war das mehr ein Publicitygag als der ernste Wunsch, für all das Elend Buße zu tun, das er angerichtet hatte. Er wartete gerade auf seinen nächsten Prozess und wollte wahrscheinlich einen guten Eindruck auf den Richter machen. Gerüchten zufolge hat die Führung der Yamaguchi-gumi ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt – denn er weiß zu viel und ist dafür bekannt, dass er Geschäfte mit der Polizei macht. Vielleicht glaubt er, dass es dem Image der Mafia schaden könnte, einen Priester zu ermorden, oder er hofft, dass ein Rosenkranz ihn ebenso gut schützen kann wie eine kugelsichere Weste. Vielleicht bereut er aber sein bisheriges Leben wirklich, nachdem er seine Macht verloren hat und in Todesangst leben muss.

Trotzdem ärgert es mich ein wenig. Ich finde es blasphemisch.

Aber wenn er wirklich Schuldgefühle hat, wenn er echte Reue empfindet – nun, dann wünsche ich ihm alles Gute.

Ich weiß, dass ich als guter Mensch anfing. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es geblieben bin.

Ich bereue nicht viel. Vielleicht habe ich ja als Spielfigur begonnen, aber ich habe das Spiel gespielt, so gut ich konnte. Ich habe Gift mit Gift bekämpft und mich dabei wohl selbst vergiftet. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich habe versucht, meine Leute zu schützen, und meine Arbeit getan, und letztlich ist das eine Art Sieg.

Ich finde es erstaunlich, dass er und ich Amateurbuddhisten sind. Bei ihm dürfte es eher Berechnung als Glaube sein. Andererseits – vielleicht hat er wirklich ein schlechtes Gewissen. Möglich wäre es.

Ich lese gerne buddhistische Sutras, obwohl ich kein Konvertit bin. Ich glaube nicht an Karma oder Reinkarnation. Ich würde gerne daran glauben, würde gerne glauben, dass das Böse bestraft und das Gute belohnt wird, dass die Liebe den Hass und die Wahrheit die Lüge besiegt und jeder bekommt, was er verdient. Wenn man sich in der Welt umschaut, muss man kein Zyniker sein, um zu erkennen, dass dies leider nicht der Realität entspricht.

Vielleicht liegt es an meiner jüdischen Erziehung, dass ich die Strenge des traditionellen Buddhismus schätze. Die einzige Möglichkeit, Fehler wiedergutzumachen, besteht darin, das Richtige zu tun. Ein »Tut mir leid« genügt nicht. Es gibt keine Freikarte aus dem Gefängnis. Das finde ich richtig.

Die heiligen Schriften sind ein gewisser Trost für mich, vor allem das Hokukyo, eine Sammlung buddhistischer Sprüche. Wenn Goto den Edlen Pfad ernsthaft studiert, wird er es früher oder später lesen. Einige Passagen möchte ich ihm besonders ans Herz legen.

Alle Wesen zittern vor der Gewalt.

Alle Wesen fürchten den Tod.

Alle Wesen lieben das Leben.

Denk daran, du bist wie sie,

und sie sind wie du.

Wem also willst du weh tun?

Wer nach Glück strebt,

indem er anderen schadet,

die nach Glück suchen wie er,

wird niemals glücklich sein.

Weder im Himmel noch im tiefen Meer

noch auf dem höchsten Berg

kannst du dich vor deiner Missetat verstecken.

Wenn Goto spät in der Nacht auf seinem Futon liegt und sein verpfuschtes Leben noch einmal vor seinem geistigen Auge vorüberziehen lässt, dann denkt er hoffentlich darüber nach, was er getan hat und was seine Handlanger getan haben, und vielleicht denkt er lange und gründlich über diese Worte nach.

Ich werde es bestimmt tun.