Los, ihr Flaschen,
packt eure Notizblöcke!
Dem Büro in Urawa eilte ein übler Ruf voraus. Ein Reporter, der früher einmal dort gearbeitet hatte, schrieb in der Zeitschrift Tsukuru einen vernichtenden Artikel mit dem Titel »Yomiuri Shimbun: drei Monate der Desillusionierung«. Und für den, dem das noch nicht reichte, gab es noch den Untertitel: »Enttäuschung, Verzweiflung, Leiden und zum Schluss die Entscheidung«.
Der Artikel beschrieb die endlose Reihe von banalen Aufgaben, die man dem Autor aufgezwungen hatte. Er musste sieben Tage in der Woche jeweils 24 Stunden lang zur Verfügung stehen. Ein Redakteur bekam einen Wutanfall, weil der Reporter ein kanji, ein chinesisches Schriftzeichen benutzt hatte, das nicht auf der offiziellen Liste der Zeitung stand. Er beschimpfte den jungen Mann und warf ihm eine Sandale an den Kopf. Um sechs Uhr abends stank das ganze Büro nach Sake, weil der Redakteur den Arbeitstag für beendet erklärte und dann immer eine Flasche öffnete.
In meinem ersten Jahr bei der Zeitung bestätigten sich diese Eindrücke teilweise. Doch das erste Jahr als Reporter ist in Japan ein ausgeklügeltes Initiationsritual, unterbrochen von einigen Arbeitseinsätzen. Wenn der Neuling die Zeit übersteht, geht es ihm ein wenig besser. Wer Glück hat, bekommt dann selbst neue Sklaven, die er herumschubsen kann, während er mehr Zeit hat, die Grundregeln des Journalismus zu entdecken.
Die Yomiuri hatte vor Kurzem beschlossen, ihre Truppen im Urawa-Büro zu verstärken, weil die ewige Konkurrentin, die Asahi, ihr Büro in Urawa ihrer shakaibu, also der Redaktion für Tokio und das Land, unterstellt hatte. Während unser Büro sich nur auf die mageren Ressourcen des Regionalbüros stützen konnte, standen der Asahi daher 100 Reporter zur Verfügung, die im Falle einer großen Story nach Saitama geschickt werden konnten. Deshalb hatte die Yomiuri sich dafür entschieden, die Arbeitskräfte aufzustocken.
Vier Frischlinge dienten in der Schlacht um Urawa als Kanonenfutter: Tsuji, Kouchi, Yoshihara und ich. In japanischen Firmen sind die Leute, die zeitgleich mit einem eingestellt werden, und vor allem jene, mit denen man seinen ersten Einsatz bestreitet, die familienähnlichste Gruppe, der man je angehören wird. Zwischen Kollegen, die doki sind, also »derselben Zeitphase« angehören, entsteht eine enge Bindung, die so lange besteht, wie sie in der Firma bleiben, oft sogar noch länger.
Ich hatte enormes Glück. Meine künftigen Kollegen gefielen mir auf den ersten Blick, als wir uns beim Yomiuri-Gelöbnis zum ersten Mal trafen – und sie schienen mich auch zu mögen.
Jun Yoshihara war 22, also zwei Jahre jünger als ich, und sah wie ein Popstar aus. Er hatte an der Universität Waseda Volkswirtschaft studiert, war groß, fit und so bleichgesichtig, dass er wie ein Europäer wirkte. Eine kurze Zeit lang nannten wir ihn »The Face« (das Gesicht), und in Gedanken nenne ich ihn heute noch so.
Naoki Tsuji oder »Frenchie« war 25, ebenfalls Waseda-Absolvent und hatte französische Literatur studiert. Von uns vieren war er der Intelligenteste. Er war immer tadellos frisiert, trug maßgeschneiderte Anzüge und las ständig irgendeinen unbekannten japanischen Roman oder ein französisches Meisterwerk. Er strahlte Geist und gute Kinderstube aus.
Das alles passte natürlich überhaupt nicht zur Yomiuri, und wahrscheinlich wurde er deshalb von den älteren Reportern besonders schikaniert, die sich über seine bloße Existenz ärgerten. Vielleicht hätte er bei der Asahi mehr Erfolg gehabt. Heute ist Naoki ein erfolgreicher Autor, der vier Romane veröffentlicht hat.
Yasushi Kouchi hatte den Spitznamen »Chappy« (Kerlchen). Er war 24 und hatte ein Diplom in Internationalen Beziehungen der Universität Tsukuba. Da er früh seine Haare verloren hatte, sah er älter aus, als er war. Er war einer der zuverlässigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe, und seine rasche Auffassungsgabe hat mich einige Male gerettet.
Wir waren schon eine sonderbare Truppe: »The Face«, Chappy, Frenchie und der gaijin. Aber wir halfen einander vom ersten Tag an. Und ich war sehr, sehr bald auf ihre Hilfe angewiesen, denn ein unbedeutender Vorfall hätte meine Karriere schon früh beenden können.
Es war der
Abend vor unserem ersten offiziellen Arbeitstag. In
einer Izakaya-Kneipe
stieg eine Willkommensparty, und obwohl ich schrecklich erkältet
war, ging ich hin, da das quasi Pflicht war.
Die ganze Belegschaft war da: Hara, der Chefredakteur mit der Figur eines Sumo-Ringers und einem tiefen, fröhlichen Lachen, in einem italienischen Anzug und mit einer Rolex. Er trug Dauerwelle, eine Brille, die der Nasenspitze gefährlich nahe saß, und seine Haare kringelten sich um die Ohren herum, sodass er fast ein wenig jüdisch aussah.
Ono, der nur leihweise im Urawa-Büro war, war der Chef der Polizeireporter in der Präfektur und somit der unmittelbare Vorgesetzte von uns Neulingen. Er sah wie eine kleinere Version von Hara aus, und seine Augen glichen Schlitzen in einem Kürbis. Ono war sehr stolz darauf, eigentlich Shakaibu-Reporter zu sein, und schon nach fünf Minuten hatte er klargestellt, dass er kein gewöhnlicher Regionalreporter war und nicht ewig hier in der Pampa bleiben würde.
Dann waren da noch Hayashi und Saito, die beiden Redakteure. Saito sprach einen solchen Dialekt, dass es sich anhörte, als fehlten ihm ein paar Zähne. Wenn er nüchtern war, konnte er sehr hilfsbereit sein. Hayashi war klein (und empfindlich, was diese Tatsache betraf) und galt als trinkfreudiger Sklaventreiber. Zum Glück für uns war er meist betrunken.
Shimizu, der für die Dateneingabe in den Computer verantwortlich war, hatte einen Schnurrbart, gelbe Zähne, keine Haare auf dem Kopf und gehörte zum unersetzlichen Inventar des Büros.
Yamamoto war hinter Ono die Nummer zwei unter den Polizeireportern und der Mann, der mein Mentor und bisweilen Folterer werden sollte. Sein Gesicht sah fast mongolisch aus. Nakajima, sein Handlanger, hatte ein langes Gesicht, keine Haare mehr und hatte auf dem College Naturwissenschaften als Hauptfach studiert. Er entsprach dem klassischen Bild eines Wissenschaftlers: kühl, analytisch, trocken. Aber er war besser gekleidet als alle anderen.
Und schließlich Hojo, der Fotograf des Büros, dessen Nase so rot war und so viele geplatzte Blutgefäße aufwies, dass er Ire hätte sein können. Als Dienstältester durfte er ungestraft alles zu jedem sagen, und genau das tat er an diesem Abend.
Wir Neulinge mussten uns an den Tisch ganz hinten in der Kneipe stellen und uns vorstellen. Ono war der Erste, der unsere Becher mit Sake füllte, und danach verbrachten wir den Rest des Abends damit, seinen Becher zu füllen und dabei jedes Mal kampai (Prost) zu sagen. In Japan schenken Untergebene ihren Vorgesetzten Sake ein und nur gelegentlich erwidern Letztere den Gefallen.
Ono und Hara erzählten Geschichten aus dem Krieg, und ich versuchte, krank und angetrunken, dem Gespräch zu folgen. Plötzlich hob Hara sein Glas für einen Trinkspruch. Da der Sake leider meinen Schnupfen nicht geheilt hatte, bahnte sich mitten in Haras Toast auf einmal ein gewaltiger Niesanfall seinen Weg durch meine Nasenhöhlen und explodierte, bevor ich die Hand ans Gesicht führen konnte. Ein enormer Schleimball flog aus meiner Nase und streifte »The Face« und Chappy, ehe er sein Ziel traf: den arglosen Hara, meinen ersten Chef, der meine Zukunft in seinen Händen hielt.
Eine schreckliche Stille trat ein, die ewig zu dauern schien.
Dann schlug mir Chappy mit einer Zeitung auf den Kopf und johlte: »Jake, du bist wirklich ein Barbar!« Auch Yoshihara versetzte mir einen Hieb. Das brach das Eis, und alle lachten, auch Hara, der sich mit einer Serviette, die »The Face« ihm flink gereicht hatte, die Brille abwischte. Ich verbeugte mich ausgiebig, um mich zu entschuldigen, aber da schlug mir auch Hojo mit seiner Serviette auf den Kopf und fragte: »Weißt du, wie man dieses Ding benutzt, du Idiot?«
Innerhalb
weniger Sekunden war aus einer furchtbar peinlichen
Situation ein Scherz geworden. Sogar Ono amüsierte sich.
»Du bist wirklich ein mutiger gaijin«, meinte er, »ich kenne niemanden, der so etwas je getan und überlebt hat.«
Ich verbeugte und entschuldigte mich erneut, aber Ono machte eine wegwerfende Bewegung, als sei nichts geschehen. Er goss mir wieder Sake ein und befahl mir, auszutrinken.
Danach schleppte uns Shimizu in seinen Lieblingsclub, und ich kann mich nur noch daran erinnern, dass Ono laut Karaoke sang. Irgendwann schob mich jemand in ein Auto und schickte mich nach Hause.
Mein neues Apartment war klein und lag über einem traditionellen Teeladen mit Konditorei, fünf Minuten mit dem Fahrrad vom Büro in Urawa entfernt. 1993 wollten noch immer viele Leute nicht an Ausländer vermieten, aber die Firma hatte die Wohnung für mich besorgt und als Bürge unterschrieben. Das Wundervollste daran war das Badezimmer. In meinen fünf Jahren als College-Student in Japan hatte ich nie in einem Apartment mit eigenem Bad gewohnt. Deshalb musste ich entweder das öffentliche Bad oder eine Münzdusche benutzen. Fünf Minuten heißes Wasser für 100 Yen in der Münzdusche, 300 Yen für das öffentliche Bad.
Als ich
meinen schmerzenden Körper in dieser Nacht in meiner
eigenen Badewanne ausstreckte und dabei hoffte, nur einen leichten
Kater zu bekommen, fühlte ich mich großartig. Ich hatte einen Job,
hatte einen potenziell tödlichen Niesanfall überlebt und besaß eine
Badewanne. Kann ein Mensch sich mehr wünschen?
Am nächsten Tag, dem 15. April 1993, erschien ich morgens um halb neun im Urawa-Büro der Yomiuri Shimbun und setzte mich mit den anderen Neuankömmlingen in die Eingangshalle. Verglichen mit dem makellosen Büro in Chiba war dieses Büro, milde ausgedrückt, ein Rückschritt. Chappy holte tief Luft und sagte: »Das ist ein Rattenloch. Ich hatte mir etwas Besseres erhofft.« Frenchie meinte: »Es sieht auf jeden Fall nicht aus wie das typische Zeitungsbüro in der Firmenbroschüre.« »The Face« murmelte nur, er habe von noch schlimmeren Büros gehört.
Das Büro belegte den größten Teil des ersten Stocks eines Bürogebäudes in einer Wohngegend. Nur der Chef hatte sein eigenes Zimmer mit Tür, der Rest des Büros war offen, keine Kabinen, keine Privatsphäre. Der Empfangsbereich am Fenster war nicht besonders gemütlich. Drei Kunstledersofas standen um einen langen Tisch, der mit Zeitungen überladen war. Auch unter ihm stapelten sich Zeitschriften. Die Jalousien an den Fenstern waren mit einer Nikotinschicht bedeckt, die wie Fliegenleim alles einfing, von Staub bis zu Insekten.
Es gab zwei
große Schreibtischgruppen. Die beiden Redakteure hatten den Tisch
nahe der Mitte. Die älteren Reporter saßen an den drei Tischen im
hinteren Teil des Raumes und genossen den Luxus eines Sofas an der
Wand. Es gab auch eine Dunkelkammer und neben ihr einen Raum mit
einer Tatamimatte, wo die Nachtschicht schlief. Dort gab es auch
ein Bad mit Dusche und einen Schreibtisch mit Schubladen voller
Pornos. Die Redakteure konnten da ihre Nickerchen machen, aber für
die anderen Reporter war er tagsüber tabu. Die Schreibtische der
vier Neuen standen mitten im Büro. Dort
waren wir am verwundbarsten.
Auf fast jedem Schreibtisch stand ein Tastentelefon, aber damals noch kein Computer. Es gab eine zentrale Datenstelle, wo Artikel eingetippt und zum Redigieren ans Hauptbüro geschickt wurden. Wir mussten unsere Artikel telefonisch an diese Stelle durchgeben, und Shimizu tippte sie dann noch einmal ab und formatierte sie. Das Ganze war ziemlich ineffizient.
Ono kreuzte
gegen neun müde und schlecht gelaunt auf. An-scheinend hatte er in
dem Anzug geschlafen, den er am Abend
zuvor getragen hatte. Er stellte sich vor den Empfangstisch
und starrte uns an.
»Wer zum Teufel hat euch gesagt, dass ihr hier sitzen dürft?«, schrie er.
Wir standen sofort auf.
Doch dann lachte er, und wir durften uns wieder setzen. Dann überreichte uns Nakajima ein Exemplar des Handbuchs für Polizeireporter, Version 1.1 mit dem Titel Ein Tag im Leben eines Polizeireporters, einen Beeper, den wir an der Hüfte tragen sollten und der immer eingeschaltet sein musste, und einige Dokumente: Artikelsammlungen, eingeteilt in Kategorien wie Raub, Mord, Körperverletzung, Brandstiftung, Drogen, Organisiertes Verbrechen, Preisabsprachen, Verkehrsunfälle und Taschendiebstahl.
»Dies sind Beispiele für Artikel, die ihr als Polizeireporter schreiben werdet«, erklärte Nakajima. »Schaut sie euch genau an und prägt euch den Stil ein. Ich erwarte, dass ihr das in einer Woche auch könnt. Hier habt ihr alles, was ihr braucht, um einen Artikel zu schreiben. Also, an die Arbeit!«
Das war der Anfang und das Ende unserer offiziellen Ausbildung zu Polizeireportern.
Der nächste Punkt auf der Tagesordnung war die Aufzählung unserer täglichen Pflichten neben dem Schreiben. Wenn wir beispielsweise abends ins Büro kamen, mussten wir die Essensbestellungen der höherrangigen Kollegen entgegennehmen. Während der Nachtschicht mussten wir das Archiv auf den neuesten Stand bringen.
Die Regeln für das Archiv waren unglaublich kompliziert. Es war genau vorgeschrieben, wo wir das Datum eines Artikels notieren mussten, wie wir aufschreiben sollten, aus welcher Ausgabe er stammte, wo wir ihn abheften und eine Kopie ablegen mussten und mit welchem Vermerk Artikel der Landesausgabe und Titelstorys zu versehen waren. Das Handbuch für den Umgang mit dem Archiv war erheblich dicker als das Handbuch für Polizeireporter.
Zu unseren weiteren Pflichten gehörte auch das Schreiben von Minibiografien für eine Spalte mit dem Titel »Der kleine König unseres Hauses« in der kostenlosen Lokalzeitung des Verlages. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um Geburtsanzeigen. Damit wir Erfahrungen mit Nachrichten aller Art sammelten, sollten wir auch die Ergebnisse lokaler Sportveranstaltungen notieren, Statistiken führen und Wettervorhersagen schreiben. Das alles erforderte natürlich unterschiedlichste Schreibstile.
Dann bekamen wir einen Monatsplan, aus dem hervorging, wer Frühschicht, Spätschicht oder Nachtschicht hatte und wer für den Sport zuständig war. Im Terminkalender einiger älterer Kollegen sah ich kleine Quadrate mit diagonalen Linien. Als ich fragte, was das sei, antwortete Nakajima:
»Das sind die Urlaubstage.«
»Aber bei uns fehlen diese Kästchen«, meinte ich.
»Das liegt daran, dass ihr keinen Urlaub habt«, antwortete er.
Gegen ein Uhr nachts erhielten wir einen Intensivkurs im Schreiben von Sportnachrichten. Plötzlich kam ein Anruf aus dem Polizeipresseclub. In Tsurugashima war ein Mann erstochen in einem Kombiwagen aufgefunden worden. Die Nachricht stammte von der Polizei der Präfektur Saitama, die anscheinend die Mordkommission einsetzen wollte.
Aufgeregt rief Ono: »Los, ihr Flaschen, packt eure Notizblöcke, eure Kameras und macht euch auf die Socken.« Morde waren in Saitama wie überall in Japan immer eine wichtige Nachricht, die landesweit von Bedeutung war – was viel über den Sicherheitsstandard eines Landes aussagt. Eine Ausnahme war es nur, wenn das Opfer ein Chinese, ein Yakuza, ein Obdachloser oder ein farbiger Ausländer war. Dann sank der Nachrichtenwert um 50 Prozent.
Ono erklärte das weitere Vorgehen: »Wir fahren an den Schauplatz des Verbrechens und machen Interviews. Ihr müsst alles über den Toten herausfinden – wer er war, wann man ihn zuletzt gesehen hat, wer an seinem Tod interessiert sein könnte – und ein Foto ergattern. Wir brauchen ein Porträtfoto. Es ist mir egal, woher ihr es bekommt, aber bringt es mit. Wenn ihr irgendetwas Interessantes findet, dann informiert den Reporter im Presseclub oder das Urawa-Büro. Los jetzt.«
Also brachen wir auf. Da neue Mitarbeiter in den ersten sechs Monaten noch kein Auto fahren durften, fuhren zwei von uns mit Yamamoto und anderen Reportern mit und die anderen beiden riefen ein Taxi.
Die Fahrt von Urawa nach Tsurugashima dauerte lang. Die Ortspolizei von Nishi Iruma hatte mit den Ermittlungen bereits begonnen und das Dezernat eins – für Mord und Gewaltverbrechen – des Polizeihauptquartiers der Präfektur hatte seinen Chef geschickt. Als ich am Tatort eintraf, brachte mich Yamamoto auf den neuesten Stand:
In der Nacht zuvor hatte die Ehefrau so gegen 23 Uhr den 41-jährigen Ryu Machida tot in einem Kombiwagen gefunden, der mitten in einem Industriegebiet stand. Er lag auf dem Rücksitz und hatte eine Stichwunde in der linken Brustseite. Offenbar war er verblutet. Machida war drei Tage vorher auf dem Weg zur Arbeit zuletzt gesehen worden. Da er nicht nach Hause gekommen war, hatte seine Familie bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben und schließlich um eine Suchaktion gebeten.
Ich war aufgeregt, endlich war ich mit offizieller Yomiuri-Visitenkarte und -Armband vor Ort. Aber der Tatort war abgeriegelt. Die Polizei hatte ein großes Gebiet um das Auto herum mit gelbem Band umzäunt, und auf einem Schild stand »Betreten verboten«. Es waren keine Menschen zu sehen. Pflichtbewusst ging ich herum, klopfte an Türen und versuchte, jemanden zu finden, der etwas gesehen hatte. Doch die meisten Leute blieben stumm vor Erstaunen, als sie mein weißes Gesicht sahen, und sagten dann, wenn sie sich erholt hatten, nur: »Nein.«
»The Face« und Chappy hatten auch nicht mehr Glück.
In einer
Fabrik für Autoteile stellte ich mich einem älteren Angestellten
als Jake Adelstein von der Yomiuri Shimbun vor. Seine Reaktion sollte ich, wie sich bald
herausstellen sollte, noch öfters erleben:
»Ich brauche nichts.«
»Aber ich verkaufe nichts.«
»Ich habe schon eine Zeitung abonniert.«
»Ich verkaufe keine Zeitungen. Ich bin Reporter der Yomiuri.«
»Ein Reporter?«
»Ja, ein Reporter.« Dann überreichte ich ihm meine Visitenkarte.
»Hmmm.« Er las die Karte dreimal. »Aber Sie sind ein gaijin, nicht wahr?«
»Ja, ich bin ein Gaijin-Reporter, der für die Yomiuri arbeitet.«
»Und warum sind Sie hier?«
Solche oder so ähnliche Szenen erlebte ich mehrmals, weil mich alle zunächst für einen Zeitungsjungen hielten. Ein Mann in mittlerem Alter, der im Pullover an die Tür kam, beklagte sich sogar darüber, dass seine Morgenzeitung nicht rechtzeitig zugestellt wurde.
Also
beschloss ich, meine Taktik zu ändern. »Hallo«, begann ich, »ich
bin Reporter bei der Yomiuri
Shimbun und arbeite an
einem
Artikel. Hier ist meine Karte. Es tut mir leid, dass ich Ausländer
bin und Ihre Zeit in Anspruch nehmen muss, aber ich würde Ihnen
gerne ein paar Fragen stellen.«
Das beschleunigte zwar den ganzen Prozess, aber die Ergebnisse waren immer noch gleich null. Doch meine Kollegen hatten auch nicht mehr Erfolg. Also wurden wir in die Firma gechickt, in der das Opfer gearbeitet hatte. Dort hatten sich bereits zahlreiche Reporter der anderen Medien versammelt. Da wir kurz nach Feierabend eintrafen, strömten die Arbeiter aus dem Gebäude, aber man hatte ihnen wohl verboten, mit der Presse zu reden, denn wir stießen auf eine Mauer des Schweigens.
Ich lief noch etwas umher, um vielleicht doch noch fündig zu werden, und stieß auf einen Mann in einem grünen Overall, der einen LKW belud. Als ich ihn grüßte, blinzelte er nicht einmal, als er mein unjapanisches Gesicht sah. Ich fragte ihn, ob jemand einen Grund gehabt haben könnte, seinen Kollegen umzubringen.
»Na ja, er
hatte eine Affäre mit einer Kollegin«, antwortete er. »Und das
wussten alle. Es könnte also seine Frau oder vielleicht seine
Geliebte gewesen sein. Wollen Sie ihren Namen wissen?«
Natürlich wollte ich. Als ich Schwierigkeiten hatte, den Namen richtig aufzuschreiben, nahm er mir den Notizblock aus der Hand und notierte ihn. Ich dankte ihm überschwänglich, aber er winkte ab.
»Sie haben
nichts von mir gehört, und ich habe nie mit Ihnen
gesprochen.«
»Alles klar.«
»Yoshiyama,
die Geliebte, ist seit ein paar Tagen nicht mehr zur
Arbeit gekommen. Ende der Geschichte.«
Ich rief sofort Yamamoto von einem öffentlichen Telefon aus an. Aber ich war so aufgeregt, dass er mich zuerst nicht verstand. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, ließ er sich alle Einzelheiten berichten. Dann wies er mich an, mit Yoshihara an der Sache weiterzuarbeiten.
Zunächst riefen wir jede Frau namens Yoshiyama, die wir im Telefonbuch finden konnten, an. Yoshihara stieß dann endlich auf die Richtige, denn ein Mann gab an, sie könne nicht ans Telefon kommen, weil sie gerade mit der Polizei rede. Volltreffer!
Unser nächster Befehl lautete, zur Pressekonferenz ins Revier der Polizei von Nishi Iruma zu gehen. Kanda, der Lokalreporter, war schon dort und sprach mit dem stellvertretenden Polizeichef. Junge Reporter der Asahi und von der Lokalzeitung in Saitama schwärmten herum, aber die dickste Menschentraube stand am Kaffeeautomaten.
Kanda hatte
bereits einen Becher Kaffee in der Hand. Er war ein erfahrener
Reporter, fleißig und aggressiv. Er trug eine Metallrandbrille, die
den größten Teil seines Gesichts verdeckte, und hatte
einen langen, fettigen Pony, der ihm über die Brille hing. Er rief
mich zum Tisch des Polizeibeamten und stellte uns vor. Nachdem wir
die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht hatten, zog Kanda mich in
eine Ecke, gratulierte mir zu meiner Arbeit, verbot mir aber, auf
der Pressekonferenz etwas zu sagen.
»Wenn du auf einer Pressekonferenz eine wichtige Frage stellst, machst du deinen Knüller kaputt. Man fragt nur nach Einzelheiten zu Fakten, die ohnehin jeder kennt, nicht nach Details, die noch im Dunkeln liegen. Also schau zu und hör zu.«
Die Pressekonferenz fand in einem Konferenzraum im ersten Stock statt. Fernsehleute bahnten sich einen Weg durch die Menge, und Journalisten stellten ihre Kassettenrekorder auf das Podium, wo der Leiter der Mordkommission sprechen würde.
Er las alles vom Blatt ab: »Das Opfer, Machida, wurde anscheinend vor einigen Tagen getötet, wahrscheinlich an dem Abend, als er verschwand. Die lange Messerklinge durchdrang offenbar das Herz und tötete ihn sofort. Die offizielle Todesursache ist Blutverlust. Das Opfer wurde wohl im Auto getötet, da sich dort Blutspritzer befinden. Wir sprechen mit seinen Freunden und seinem Arbeitgeber, um Hinweise zu finden. Es wurde auch eine offizielle Ermittlungsgruppe gebildet, deren Namen wir heute Abend noch bekannt geben werden. Das ist vorläufig alles. Fragen?«
Zunächst hob niemand die Hand. Offenbar wollten die Journalisten bei der offiziellen Pressekonferenz keine wichtigen Fragen stellen, sondern die Polizisten lieber nach der Konferenz löchern. Trotzdem fühlte sich jemand dann doch verpflichtet, irgendetwas zu fragen.
»Ihren Berichten zufolge hat die Ehefrau die Leiche gefunden. Wie kam das?«
»Sie hat
die Gegend mit einer Freundin abgesucht und das Auto
stehen sehen. Der Tote befand sich darin.« Für mich war das ein
wichtiger Hinweis.
»Wann wurde die Polizei darüber informiert, dass Machida vermisst wurde?«
»Zwei Tage nach seinem Verschwinden.«
»Warum hat die Familie so lange gewartet?« Diese Frage stellte ein Asahi-Reporter mit gerunzelter Stirn.
Doch der Polizist biss nicht an. »Tja, wie lange darf man denn warten? Würde Ihre Frau eine Vermisstenanzeige aufgeben, wenn Sie heute Nacht um zwei Uhr noch nicht zu Hause wären?«
»Meine Frau? Ganz bestimmt.«
Einige lachten. Der Rest der Pressekonferenz war unergiebig, und die Gruppe zerstreute sich dann auch schnell.
Wir fuhren zurück nach Urawa und verglichen unsere Notizen. Als Yamamoto gegen drei Uhr morgens vom Haus des Polizeichefs zurückkehrte, den er um weitere Informationen gebeten hatte, ergänzte er unsere Erkenntnisse. Die Frau, die Frau Machida bei der Suche geholfen hatte, war jene Yoshiyama, die angeblich eine Affäre mit ihm gehabt hatte. Für die Polizei war sie natürlich die Hauptverdächtige.
Der nächste
Tag brachte nichts Neues. Wir befragten Nachbarn und konnten
nachweisen, dass die Polizei Yoshiyama verhörte. Doch sie
verweigerte die Aussage. Am Morgen des nächsten Tages gab sie
jedoch ihrem Mann gegenüber alles zu. Nachdem er die Polizei
gerufen hatte, wurde die Täterin festgenommen, und wir konnten
die Nachricht gerade noch in der Abendausgabe
unterbringen:
»Yoshiyama war Teilzeitbeschäftigte in der Firma, in der Machida arbeitete. Die beiden hatten seit Frühjahr des vergangenen Jahres eine Affäre, die Machida beenden wollte.
Am Zwölften trafen sie sich nach der Arbeit auf einem Parkplatz in der Nähe und unternahmen dann eine dreistündige Fahrt. Gegen 21 Uhr parkte Machida das Auto in der Nähe der Fabrik, und es kam zu einem Streit. Yoshiyama stach ihn mit einem langen Messer in die Brust und tötete ihn. Sie behauptete, Machida habe die Beziehung und sein Leben beenden wollen und sie habe ihm lediglich diesen Wunsch erfüllt.
Yoshiyama war eine Bekannte von Frau Machida. Deshalb bot sie Frau Machida an, ihr bei der Suche nach ihrem Mann zu helfen. Die Polizei hat die Waffe noch nicht gefunden, wohl aber eine Saftdose mit Yoshiyamas Fingerabdrücken.«
Im September 1994 wurde Yoshiyama zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Das Ganze war kein besonders aufregender Fall, doch ich konnte ein paar Pluspunkte sammeln, weil ich so früh Hinweise auf die Täterin gefunden hatte. Natürlich war das mehr dem Glück als meinem Geschick zu verdanken, aber: Im Journalismus zählt immer das Ergebnis, nicht der benötigte Aufwand.