Das Königreich des Menschenhandels

Die Menschen zollen den Toten auf unterschiedliche Weise Respekt. Ich hätte normalerweise Blumen auf ihr Grab gelegt, doch der Leichnam war noch nicht gefunden worden. Darum zog ich stattdessen einen 10 000-Yen-Schein aus der Brieftasche und gab ihn Fujiwara-san vom Polaris Project Japan. Polaris betreibt in Tokio eine Hotline für die Opfer von Menschenhändlern, und die Leute dort tun ihr Bestes, um die Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam zu machen.

Fujiwara-san sagte, dass die Zahl der Telefonanrufe bei Polaris im letzten Jahr ein wenig zugenommen hätte. Die meisten Anruferinnen waren koreanische und osteuropäische Frauen. Sie dankte mir für die Spende und fragte, ob einer meiner Bekannten russisch spreche. Ich versprach, ihr jemanden zu vermitteln.

Ich glaube, dass ich an meinem Beruf zu zweifeln begann, als ich anfing, mich mit dieser widerwärtigen Seite der japanischen Sexindustrie zu befassen. Erst als es zu spät war, merkte ich, dass mich das Ganze langsam ausbrannte.

Natürlich stumpft man mit den Jahren als Polizeireporter ab, denn würde man um jedes Opfer trauern oder das Leid der Familie mitempfinden, wäre man bald reif für die Klapsmühle. Mord, Brandstiftung, bewaffneter Raub, Familiensuizid – das alles wird zur Routine. Man neigt dazu, die Opfer zu entmenschlichen, und manchmal ärgert man sich sogar darüber, dass sie einem den freien Tag oder einen geplanten Urlaub verderben. Das hört sich schrecklich an, und das ist es auch. Aber so läuft es eben.

Eigentlich hatte ich angenommen, dass ich schon eine Menge über die dunkle Seite Japans wusste. Ich hatte über Lucie Blackman berichtet, einem Serienmörder nachgespürt, fast eine Leiche berührt, die unter Strom stand, einem Mann zugeschaut, der sich selbst
angezündet hatte, und vieles mehr. Ich dachte, dass ich ziemlich abgehärtet sei.

Irgendwie war ich zynisch geworden – und auch kalt. Und wenn ein Reporter anfängt zu erkalten, ist es sehr schwer für ihn, dies wieder zu ändern. Wir alle bauen uns einen Panzer um die Seele, um die Gefühle bewältigen zu können, die Selbstbeherrschung zu bewahren und unsere vielen Termine einhalten zu können. Das müssen wir auch.

Ich hatte über Kabukicho berichtet und war in Roppongi Hinweisen hinterhergejagt. Die Mädchen in der »Maid Station« hatten ganz offen über ihre Situation gesprochen. Ich war mittlerweile auch ziemlich vertraut mit den rechtlichen Aspekten der japanischen Sexindustrie, hielt aber sexuelle Ausbeutung nur für ein Gerücht, das puritanische Bürokraten im Westen verbreiteten – Leute, die Japans Sexkultur eben nicht kannten. Aber ich sollte bald eines Besseren belehrt werden.

Im November 2003 klingelte mein Telefon.

Eine Ausländerin, die ich nicht kannte und die leidlich gut japanisch sprach, war dran. Da ich nicht wirklich verstand, was sie von mir wollte, schlug ich ihr vor, lieber englisch zu sprechen.

»Eine Freundin hat mir Ihre Nummer gegeben. Sie ist Stripperin im ›Kama Sutra‹ und meinte, Sie könnten mir vielleicht helfen.«

»Worum geht es?«

»In dem Club, in dem ich arbeite, gibt es ein paar neue Mädchen aus Polen, Russland und Estland, und ich glaube, dass sie ... gezwungen werden.«

»Was meinen Sie damit genau?«

»Sie werden zu ihrer Arbeit gezwungen und nicht dafür bezahlt.
Sie sind eine Art Sklavinnen.«

»Wie bitte?«

»Ja, Sklavinnen. So würde ich es bezeichnen.«

»Und was machen Sie dort?«

»Sie können mich ruhig als Prostituierte bezeichnen«, erwiderte sie ohne jegliche Spur von Verlegenheit. »Offiziell bin ich Englischlehrerin, aber ich gehe mit Männern ins Bett, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Und Sie tun das freiwillig?«

»Natürlich. Aber diese neuen Mädchen, die sie in den Club gebracht haben ... bei denen ist das anders. Sie wollen das nicht machen. Man hat sie irgendwie dazu gezwungen, es zu tun. Sie weinen ständig und dürfen das Haus tagsüber nicht verlassen.«

»Aha«, sagte ich nur, eine eher armselige Reaktion, aber ich war für den Moment sprachlos und musste diese Informationen erst einmal verarbeiten. Dann fragte ich die Anruferin, was ich ihrer Meinung nach tun solle.

»Sie sind doch Zeitungsreporter. Schreiben Sie einen Artikel und finden Sie heraus, was da vor sich geht. Entlarven Sie diese Bastarde und helfen Sie den Frauen, da rauszukommen.«

Das war ziemlich viel verlangt. Schließlich hatte ich bisher noch gar nichts von einer solchen Praxis gewusst. Ich wollte schon sagen, dass ich mich um die Sachen kümmern würde, als mir plötzlich auffiel, dass ich ihre Stimme kannte. »Sagen Sie, kennen wir uns eigentlich?«

»Ja, als Sie an dem Artikel über Lucie Blackman gearbeitet und mit den Mädchen in der Bar gesprochen haben, haben wir miteinander geredet.«

Sie hieß Helena. Das war natürlich nicht ihr richtiger Name, aber er passte zu ihr. Wir trafen uns im ersten Stock eines Starbucks-Cafés in Roppongi. Sie trug einen schwarzen Rock, eine eng anliegende schwarze Lederjacke über einer lindgrünen Bluse und kniehohe schwarze Lederstiefel. Sie sah wirklich gut aus. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und als Make-up trug sie lediglich etwas granatapfelfarbenen Lippenstift. Oberhalb der Oberlippe hatte sie einen Leberfleck.

Ich stellte mich vor, so als würden wir uns zum ersten Mal treffen, und gab ihr meine Karte. Sie gab mir ihre erst später. Dann unterhielten wir uns über das Wetter und nippten an unserem Kaffee. Schließlich erzählte sie mir ihre Geschichte.

Helena war 2001 von Australien nach Japan gekommen. Zunächst hatte sie an einer Sprachenschule englisch unterrichtet und nebenbei ein wenig als Hostess gearbeitet. Eines Abends war sie nach dem Unterricht mit einem ihrer Schüler, einem Geschäftsmann in den Fünfzigern, etwas trinken gegangen und hatte ihn schließlich in ein Liebeshotel begleitet. Als er sich verabschiedete, gab er ihr 10 000 Yen (etwa 500 Dollar) und meinte, das sei die Erstattung ihrer »Reisekosten«. Nach und nach gabelte Helena immer mehr Freier auf und nahm dann eines Tages einen Job in einem exklusiven Club namens »Den of Delicious« an, um sich ein regelmäßiges Einkommen zu sichern. Sie behielt ihre privaten Kunden, kümmerte sich aber tagsüber um Laufkundschaft.

»Ich bin freiwillig Prostituierte. Ich mag Sex, und ich verdiene damit viel mehr Geld als als Englischlehrerin. Für mich ist das in Ordnung. Aber ich habe ein Problem damit, wenn Frauen zur Prostitution gezwungen werden. Und ich habe ein großes Problem mit den Dreckskerlen, die sie dazu zwingen.

In Roppongi sind zwei Männer für das Ganze zuständig, sie beliefern auch den Club in Shibuya, in dem ich arbeite, mit Mädchen. Der eine ist Japaner – alle nennen ihn Slick16 –, der andere ist ein niederländischer Jude namens Viktor. Ihnen gehören fünf oder sechs Clubs. Sie werben Ausländerinnen meist aus ärmeren Ländern durch Anzeigen oder Agenten an, bringen sie nach Japan, stecken sie in Sexclubs und beuten sie aus. Die Frauen sind total abhängig von diesen
Bastarden und enden als Sexsklavinnen.

Angeblich wird ihnen zunächst mehr Geld versprochen, als sie sich vorstellen können. Aber sobald sie hier sind, sieht alles ganz anders aus. Wenn sie etwas zu essen haben wollen, müssen sie ihren Körper verkaufen, eine andere Wahl haben sie meist nicht. Und von ihrem Lohn werden jede Menge Abzüge gemacht. Slick erzählt ihnen, sie müssten für ihn arbeiten, weil sie keine Arbeitserlaubnis hätten. Er aber habe eine Erlaubnis dafür. Wenn sie nicht für ihn arbeiten wollten, müsse ihnen klar sein, dass sie in Roppongi keine andere Arbeit fänden. Ich kenne eine Frau, die zur Polizei gegangen ist, aber die Beamten dort haben ihr gedroht, sie zu verhaften, und dann musste sie ihnen auch noch zu Diensten sein.

Viktor erzählt herum, dass er seit sechs Jahren hier ist. Er hat mit Tänzerinnen angefangen und sich zum Zuhälter hochgearbeitet. Er ist sehr stolz auf sich. Er sagt, dass er genau weiß, welche Mädchen japanische Männer haben wollen: blonde und blauäugige. Er profitiert davon, dass die Frauen total hilflos sind, weil sie dann tun müssen, was er ihnen sagt.

Viktor spielt gerne den netten Burschen – außer wenn es um Geld geht. Dann wird er zum Teufel. Slick ist verheiratet und hat eine Tochter.«

Helenas Geschichte klang echt. Warum hätte sie auch lügen sollen? Dennoch war ich noch nicht gänzlich überzeugt. Schließlich hatte sie das alles nur beobachtet und war selbst kein Opfer. Für mich war das eine Geschichte aus zweiter Hand, und vielleicht wollte sie sich ja auch nur an jemandem rächen. Daher sagte ich ihr, dass ich zuallererst mit einem dieser Mädchen persönlich sprechen müsse.

Das verunsicherte sie etwas. »Wenn man das Mädchen dabei erwischt, bekommt es wirklich richtigen Ärger, das ist Ihnen doch klar, oder?«

Nachdem ich ihr versprochen hatte, äußerst vorsichtig zu sein, war Helena bereit, mich einem der Mädchen vorzustellen. Dann trennten wir uns.

Zunächst wollte ich mich nun selbst etwas umhören.

Zuerst fiel mir Sekiguchi ein, aber das war nicht sein Revier. Dann dachte ich an Alien Cop, der mich so fachkundig durch Kabukicho geführt hatte. Er war vom Revier in Shinjuku zur Tokioter Polizei versetzt worden und konnte sich eventuell einige brauchbare Informationen beschaffen. Er wäre sicher eine gute Quelle, doch seine Hilfe würde mich etwas kosten. Zumindest einen abendlichen Streifzug durch die Stadt, wahrscheinlich einige Zeit in einer Bar oder einem Stripclub mit Ausländerinnen. Auf jeden Fall würde es nicht billig werden. Zum Glück hatte ich inzwischen bereits einige Beziehungen.

Daher rief ich einen mir bekannten Rechtsanwalt an, der für eine Firma arbeitete, die beliebte Kampfsportturniere veranstaltete. Ich konnte ihn dazu überreden, mir zwei Karten für Plätze in der zweiten Reihe zu besorgen. Die Karten gab ich dem Geschäftsführer des Stripclubs »Eighth Circle of Hell« als Bezahlung für einen Abend dort.

Dann schrieb ich Alien eine SMS und wir verabredeten uns.

Zunächst erzählten wir einander, was wir in letzter Zeit alles getan hatten, dann berichtete ich ihm, während eine vollbusige Rothaarige namens Jasmine auf seinem Schoß saß, von Helenas Geschichte. Als ich fertig war, runzelte Alien die Stirn, schob Jasmine von seinem Schoß und sagte zu ihr: »Hol bitte Zigaretten, Engelchen. Ich muss etwas mit meinem Freund besprechen. Komm in fünf Minuten zurück.« Jasmine gehorchte.

»Wissen Sie was«, wandte sich Alien dann an mich und saugte an seiner Zigarette, »ich werde mich mal umhören. Was Ihre Freundin erzählt hat, stimmt wahrscheinlich. Mir sind schon einige solche Frauen aufgefallen, aber ich kann nicht viel für sie tun. Das ärgert mich.«

»Es ärgert Sie?«

»Ich mag die Frauen dieser Branche. Ich weiß, dass ich für ihre Zuwendung bezahle, aber trotzdem mag ich sie. Es ist wie ein Spiel. Aber wenn eine Frau nicht in dieser Branche arbeiten will, wenn sie dazu gezwungen wird, dann hört der Spaß auf. Dann ist es kein Spiel mehr. Ihre Freundin hat vollkommen recht: Wenn sie nicht dafür bezahlt werden, ist das nicht in Ordnung.«

Er zog einen Notizblock aus der Tasche, und ich gab ihm die Informationen, die ich hatte, so zum Beispiel die Anschrift von Slicks Büro und den Grundbuchauszug, auf dem »J Enterprise« als Eigentümer angegeben war.

Jasmine brauchte länger als fünf Minuten. Während wir warteten, wurde unser Gespräch wieder persönlicher.

»Jake, gehen Sie mit einer dieser Frauen in den Clubs ins Bett? Sie scheinen Sie zu mögen. Das merkt man.«

»Sie mögen mich ja gerade, weil ich nicht mit ihnen ins Bett gehe. Das unterscheidet mich von ihren anderen Kunden.«

»Weil Sie weiße Frauen nicht mögen?«

»Nein, weil es keine gute Idee wäre.«

»Wieso?«

»Weil sie mir manchmal Informationen liefern und wir keinen Sex mit unseren Informantinnen haben sollen. Außerdem bin ich kein Junggeselle mehr, und meine Frau fände es auch nicht lustig, wenn ich womöglich irgendeine Krankheit mit nach Hause brächte.«

»Gut, aber was tun Sie, wenn ein heißes Mädchen mit einer Information, die Sie dringend brauchen, nur rausrücken will, wenn Sie mir ihr schlafen?«

»Klar, für eine wichtige Information würde ich mit einer Frau schlafen. Ich bin eine echte Informationshure. Und was ist mit Ihnen, Alien? Schlafen Sie jemals mit einer Informantin?«

»Natürlich. Das ist eine Art Lohnzulage. Außerdem bin ich nicht verheiratet und habe keine Kinder.«

»Dann wäre ich also ein Schwein, wenn ich das tun würde, was Sie tun?«

»Nein, ich finde Sie nur seltsam. Kein seltsamer gaijin, sondern ein seltsamer Mensch. Sie haben Grundsätze und halten sich daran, auch wenn es eigenartige Grundsätze sind. Das bewundere ich. Und Sie sind ein guter Kerl. Also verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wenn ich Ihnen jetzt etwas sage ... Früher oder später werden Sie gegen Ihre Grundsätze verstoßen. Denn das Laster ist stärker. Wie heißt es doch so schön: Wer sich zu den Hunden legt, bekommt Flöhe. Auch Sie werden Flöhe bekommen.«

»Ich besorge mir ein Flohhalsband.«

»Ha! Das klappt nicht. Sie werden dann nicht für Geld oder für Informationen mit einer Frau schlafen, sondern weil es Ihnen richtig erscheint. Wie ein Händedruck. Sie bewegen sie auf glattem Eis. Und Sie werden nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben, Sie werden gar nicht auf den Gedanken kommen, dass es falsch sein könnte. Der Job verdirbt Ihren Charakter. Sie sollten sich besser versetzen lassen. Sie haben wirklich Glück, dass Sie schon verheiratet sind. Ich könnte nie heiraten.«

»Warum nicht?«, fragte ich überrascht.

»Weil ich zu viel Zeit mit Leuten verbringe, für die Sex keinerlei Bedeutung hat. Mir bedeutet er auch schon nichts mehr. Ich könnte daher einer Frau auch nicht treu sein, und ich würde nicht glauben, dass sie mir treu sein könnte. Monogamie ist Quatsch. Sex ist das Gleiche wie der Austausch von Neujahrskarten, ein Ritual. Natürlich weiß ich, dass der Rest der Welt anders denkt, für andere ist Sex eine große Sache. Aber ich bin nicht mehr in Einklang mit der realen Welt, und ich werde es nie wieder sein. Ich könnte nie ein normales Mädchen heiraten, weil die Kluft zwischen uns zu groß wäre. Ich könnte vielleicht eine Prostituierte heiraten, aber die müsste mir versprechen, hauptsächlich mit mir Sex zu haben, da ich sonst vielleicht eifersüchtig werden würde. Oder ich könnte eine Polizistin heiraten, die bei der Sitte gearbeitet hat. Aber sicher keine Hostess, das sind Blutsauger.«

»Das klingt alles ziemlich trostlos.«

»Warten Sie’s nur ab. Sie werden es schon noch verstehen. Aber was dieses Geschwätz über Monogamie und Betrug anbelangt – eines habe ich gelernt: Geben Sie nie etwas zu. Wenn Sie die Frau lieben, mit der Sie zusammen sind, dann lügen Sie. Nach einem Geständnis haben Sie vielleicht ein gutes Gefühl, aber Sie zerstören damit das Leben eines anderen Menschen. Das ist egoistisch. Geben Sie also nie etwas zu.«

»Gerade von einem Polizisten hätte ich diesen Rat nicht erwartet.«

»Ich sage Ihnen das nur, weil ich glaube, dass Sie ein gutes Herz haben. Wenn Sie mit mir über diese Mädchen reden, merke ich, dass es Ihnen zu schaffen macht. Sie sind wie ich. Sie mögen diese Frauen und darum kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie nie etwas zu.«

Alien Cop lieferte mir ein paar interessante Informationen. Und drei Tage später, nachdem ich auf eigene Faust an Türen geklopft und Gefälligkeiten gegen Informationen getauscht hatte, wusste ich über Slick und Viktor Bescheid. Vieles bestätigte Helenas Bericht, und manches füllte bestehende Lücken.

Die Firma, die hinter den Geschäften stand, war J Enterprise, eine GmbH in Roppongi, die bei den japanischen Behörden nicht angemeldet war. Die Firma gehörte Slick Imai, der sie auch leitete. Viktor war sein Partner. Die beiden brachten Ausländerinnen nach Tokio und dann in Sexclubs und Massagesalons. Slick führte vier Clubs in Roppongi – »Club Angel«, »Den of Delights«, »Club Divine« und »Club Codex« –, belieferte den »Den of Delicious« in Shibuya und betrieb nebenbei einen Begleitservice. Er war der »König des ausländischen Fleisches« im Bezirk und kassierte so monatlich umgerechnet 20 000 Dollar.

Die meisten Mädchen holte sich Slick aus Israel sowie aus Ungarn, Polen und anderen osteuropäischen Ländern. Er suchte über die Seite www.jobsinjapan.com Hostessen. Ein 22-jähriges kanadisches Mädchen, das auf die Anzeige geantwortet hatte, war zuerst von
einem Anwerbebüro in Deutschland betreut worden, ehe es dann nach Japan kam. Im Jahr 2003 hieß die Firma Entertainment Valentina, aber dieser Name kann sich geändert haben. Meist wurden den Mädchen astronomische vier Millionen Yen (40 000 Dollar) im
Monat versprochen, wenn sie als Hostessen arbeiteten und reiche
Geschäftsleute zum Essen begleiteten. Die Firma zahlte einem Agenten in ihrer Heimat eine Gebühr von 3000 Euro für das Flugticket der Frau und eine Unterkunft in Tokio.

Wenn die Mädchen in Tokio eintrafen, wurden sie abgeholt und in ein Apartment der Firma gebracht, das sie sich mit anderen Mädchen teilen mussten. Spätestens jetzt erfuhren sie, was genau von ihnen erwartet wurde. Finanzieller Druck, Lügen, subtile (und weniger subtile) Drohungen gegen ihre Familie und schlichte Indoktrinierung besorgten den Rest.

Die Mädchen arbeiteten täglich neun Stunden in einem Sexclub und verdienten etwa 100 Dollar am Tag. Davon wurden ihnen
75 Dollar als Gebühren abgezogen. Übrig blieben also 25 Dollar täglich, weitaus weniger als die versprochenen 40 000 Dollar im Monat. Alle hatten Touristenvisa, die einen dreimonatigen Aufenthalt, aber keine Berufstätigkeit erlaubten. Das hatte für Slick und Viktor den Vorteil, dass sie ständig frische Mädchen bekamen und von den überhöhten Flugkosten profitierten. Viele Mädchen schuldeten Slick
sogar Geld, wenn sie das Land wieder verließen.

Viktor, der groß war und gut aussah, war angeblich mit einer Japanerin verheiratet, was zur Folge hatte, dass er in Japan Geschäfte machen durfte.

Ein Informant im Justizministerium entdeckte eine Gesellschaft, die unter Slicks Namen registriert gewesen war: R & D. Diese 1993 gegründete Firma hatte Autos importiert, Kleidung verkauft und Beratungen und Versicherungen angeboten. Anscheinend hatte sie ihre Tätigkeit inzwischen eingestellt. Der Direktor der Firma, Ko Kobayashi, war bereits mit dem Gesetz zur Verhütung der Prostitution in Konflikt geraten und 1989 in Shizuoka (einem Revier der Goto-gumi) verhaftet worden, weil er taiwanesische Frauen ins Land gebracht hatte, um sie als Prostituierte arbeiten zu lassen. Slick war angeblich Vorstandsmitglied der Firma gewesen. Es war also klar, dass er schon seit Langem mit Frauen handelte.

Alien Cop hatte jedoch auch eine ziemlich unangenehme Neuigkeit für mich: Er konnte Slick nichts anhaben. Das hatte ich bereits erwartet, denn Slick hatte ja einen wichtigen Hinweis im Fall Lucie Blackman gegeben. Solange also die Tokioter Polizei keinen neuen Chef für den Bezirk Roppongi bekam, durfte Slick tun, was er wollte. Ein einziges Mal in seinem Leben hatte Slick etwas Gutes getan, und deshalb mussten so viele weiter leiden.

Viktor warb die meisten Frauen direkt in Europa an. Er war für die Logistik zuständig und arrangierte auch Sexreisen in die Malediven, womit er noch mehr Geld verdiente.

Anfang Dezember hatte ich schließlich genug Material zusammen, um einen Artikel zu schreiben. Den Entwurf zeigte ich meinem damaligen Vorgesetzten Yamakoshi. Da es sich um eine sensationelle Story handelte, wollte er jedoch zuerst noch etliche Dinge geklärt haben. Er schickte den Artikel und mich zu Mr. Bowtie, dem furchterregendsten und anspruchsvollsten Redakteur und Reporterveteran im Ressort Landesnachrichten.

Bei einem Kaffee erklärte mir Bowtie unmissverständlich, was er brauchte. Zuerst sollte ich mit den Mädchenhändlern sprechen und ihren Standpunkt anhören. Dann sollte ich ein »unschuldiges
Opfer« finden.

»Was meinen Sie denn damit?«

»Was glauben Sie denn, was ich meine, Sie Blödmann? Es ist wohl kaum ein Verbrechen, ein paar Nutten nach Japan zu bringen, die pro Nacht einige tausend Dollar auf dem Rücken verdienen wollen und dann erfahren müssen, dass sie weniger kriegen. Ich will ein Mädchen haben, das hereingelegt wurde, eine wirklich Unschuldige. Ich will eine traurige Story. Wenn sie nur eine unterbezahlte, mit ihrem Job unzufriedene Hure ist, dann ist das keine Story.«

»Sie verstehen wohl nicht, was da los ist.«

»Oh doch. Ich weiß, was da läuft, und ich sage Ihnen nur, was wir brauchen. Sie wollen einen Artikel schreiben, und Sie wollen, dass die Leute Mitleid mit diesen unschuldigen Frauen haben und die Frauenhändler hassen. Wenn Sie das aber nicht schaffen, dann haben Sie keine Story und dann vergeuden Sie meine und Ihre Zeit.«

Seine Art gefiel mir zwar nicht, aber ich wollte diesen Artikel unbedingt schreiben, denn der Fall lag mir sehr am Herzen. Also bat ich Helena um Hilfe. Sie verriet mir, wo ich Veronika finden konnte, eine jener Frauen, denen die Flucht gelungen war. Zum Glück hatte Veronika vor ihrer Flucht ihren Pass heimlich an sich nehmen können.

Veronika war klein und mager. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem nachlässigen Pferdeschwanz frisiert. Sie sah nicht gut aus. Selbst dick aufgetragenes Make-up konnte die dunklen Ringe unter ihren Augen nicht verbergen. Sie trug einen weißen Ledermantel mit Pelzkragen und ihr linkes Ohr sah zerquetscht aus.

Sie war 26 Jahre alt und stammte aus einem kleinen Dorf 80 Kilometer von Warschau entfernt. »Ich habe eine Anzeige im Internet gesehen: ›Arbeiten Sie in Japan als Hostess! Jede Frau kann in kurzer Zeit sehr viel Geld verdienen. Wir suchen blonde Frauen.‹ Auf diese Anzeige habe ich mich gemeldet.

Ich fuhr dann nach Warschau und traf Mikel, den Vertreter einer Talentagentur. Er zeigte mir Bilder eines richtig luxuriösen Clubs und meinte, dass ich dort mit japanischen Männern tanzen und auf Englisch plaudern müsse. Für eine Stunde bekäme ich 100 Dollar. Da meine Tochter sechs war, bat ich meine Mutter, sich um sie zu kümmern, und flog nach Tokio. Man hatte mich angewiesen, ins ›Hotel Ana‹ zu gehen. Dort traf ich Viktor zum ersten Mal. Er kam aus den Niederlanden, war sehr attraktiv und spielte den perfekten Gentleman. Ich war richtig erleichtert.

Viktor fuhr mit mir zu meiner künftigen Wohnung. Er sagte, dass ich mich ruhig etwas entspannen solle, da ich bestimmt müde sei vom langen Flug. Ich könne auch erst am nächsten Tag anfangen zu arbeiten. Er brachte mich in ein Apartment im dritten Stock eines Hauses in Nishi-Azabu. Ich erinnere mich noch genau an die Adresse. Ein kolumbianisches und ein kanadisches Mädchen wohnten bereits dort. Drei Frauen in einem winzigen Raum, das fand ich schon etwas irritierend. Dann öffnete Viktor eine Schublade und wies mich an, alle meine Wertsachen hineinzulegen, auch meinen Pass, damit nichts gestohlen würde. Ich tat, was er sagte.

Am nächsten Tag gegen fünf Uhr nachmittags kamen Viktor und Slick, ein Japaner, in das Apartment. Sie brachten uns in den Club, der ganz anders aussah als auf den Fotos, die man mir in Polen gezeigt hatte. Viktor teilte uns ziemlich unfreundlich mit, dass wir hier arbeiten würden. Ich war richtig wütend. Dann erklärten uns die beiden Männer, was wir tun sollten. Wir sollten Männer massieren und mit der Hand befriedigen. Für Oralsex sollten wir 4000 Yen (40 Dollar) bekommen. Allerdings mussten wir auch jeden Tag 7500 Yen (75 Dollar) bezahlen, einerlei, ob wir Kunden hatten oder nicht. Wenn wir nicht zahlten, galt der Betrag als Kredit, den wir abbezahlen mussten. Als Erstes stellten sie uns die Flugkosten in Rechnung und behaupteten, wir seien ihnen bereits 300 000 Yen (3000 Dollar) schuldig. Die Wohnung kostete 10 000 Yen (100 Dollar) am Tag. ›Also, haltet euch ran‹, sagten sie. ›Wenn ihr mehr Geld verdienen wollt, könnt ihr mit einem Kunden auch ins Bett gehen. Dafür kriegt ihr 20 000 Yen (200 Dollar). Da ihr drei Monate im Land bleiben dürft, könnt ihr alle Schulden zurückzahlen, wenn ihr fleißig seid.‹

Ich war entsetzt, aber ich konnte nichts tun. Nachdem ich die Bar verlassen hatte, irrte ich in Tokio herum, denn ich kannte den Weg zum Apartment nicht und fand erst nach zwei oder drei Stunden wieder zurück. Ich wollte meinen Pass und mein Flugticket holen und nach Hause zurückkehren, aber die Schublade war leer. Also konnte ich nur warten.

Als ich wieder auf Viktor traf, wirkte sein Gesicht so überheblich und triumphierend, dass ich wütend wurde und ihn anfuhr: ›Was zum Teufel machen Sie mit mir? Geben Sie mir sofort meinen Pass zurück und mein Flugticket. Sie sind ein Dieb, und wenn Sie mir die Sachen nicht zurückgeben, werde ich zur Polizei gehen.‹ Er antwortete vollkommen ruhig: ›Wir haben das Ticket gekauft, also gehört es uns und nicht dir. Ich stehle nichts, du undankbare Nutte. Geh doch zur Polizei. Du hast keinen Pass, oder? Sie werden dich als illegale Ausländerin festnehmen und ausweisen, aber du schuldest uns dann trotzdem noch Geld. Und wir werden es uns zurückholen. Ich weiß, wo deine Familie lebt, und meine Freunde wissen es auch.‹

Ich hatte ja meine Tochter bei meiner Mutter zurückgelassen und der Mann, der mich angeworben hatte, wusste, wo wir wohnten. Nach Viktors Drohung bekam ich daher große Angst um meine Familie. Ich fürchtete, dass sie meine Tochter und meine Mutter umbringen würden, wenn ich wegliefe. Wenn ich hätte fliehen können, dann hätte ich meine Botschaft aufsuchen müssen. Aber auch da fürchtete ich, dass Viktor dazwischenfunken könnte, vielleicht hatte er sogar Freunde in der Botschaft. Mein Gott, ich war so dumm.

Ich hatte keinen Platz zum Schlafen, kein Geld und konnte nirgendwo hingehen. Also blieb mir nur diese Arbeit. So etwas hatte ich
noch nie getan. Sie hatten gesagt, dass wir für eine einfache Massage 1000 Yen (10 Dollar) bekämen. Ich hasste es, aber ich tat es. Die Männer anzufassen war schlimm genug, aber sie wollten immer Oralsex. Dafür bekam ich mehr Geld. In der ersten Woche massierte ich nur, aber Viktor und Slick verlangten 10 000 Yen (100 Dollar) am Tag für die Wohnung. Also versuchte ich es mit Oralsex, aber das ging mit den fremden Männern einfach nicht. Ich musste immer würgen. Allmählich begann ich auch, mich selbst zu hassen. Eines Tages ging ich dann weinend zum Geschäftsführer des Clubs. Er sagte, dass er nicht wisse, wo mein Pass sei. Ich weiß nicht, was er dann mit Viktor besprochen hat, aber er brachte mir meinen Pass zurück und riet mir, woanders Arbeit zu suchen. Dann erlaubte er mir, von seinem Telefon aus meine Mutter und meine Tochter anzurufen. Ich beschwor sie, einen sicheren Ort aufzusuchen. Sie sagten, dass Viktor schon einmal angerufen habe. Am liebsten wäre ich sofort nach Hause gefahren, aber ich konnte nicht, weil ich kein Geld hatte.

Also fragte ich in einem anderen Hostessenclub nach Arbeit, aber Viktor erfuhr sofort davon. Er kam in den Club und sagte: ›Du kannst nicht in Roppongi arbeiten. Ich habe dich in der Hand, und niemand wird einer undankbaren Hure wie dir einen Job geben.‹ Slick war auch dabei.

Ich bin wirklich nicht nach Japan gekommen, um Prostituierte zu werden. Man hat mir Arbeit als Hostess versprochen. Da mir der Geschäftsführer mein Ticket und meinen Pass gegeben hatte, beschloss ich, am nächsten Tag wegzulaufen. Ich unterhielt mich mit ein paar Frauen, die in der gleichen Situation waren, und wir beschlossen, zur Polizei zu gehen. Aber letztlich hatten alle derart Angst, dass nichts daraus wurde. Sie fürchteten, verhaftet zu werden und dann die Schulden nicht mehr zurückzahlen zu können. Außerdem wäre dann ein Anwalt nötig gewesen und alle wussten, wie furchtbar japanische Gefängnisse sind.

Viktor ist unnachgiebig und Slick auch. Die Hölle wäre noch zu gut für sie. Sie veranstalten auch Sexreisen für Geschäftsleute. Bei den Malediven haben sie ein großes Schiff, und die Mädchen fahren als Begleiterinnen mit. Die Männer können jeden Abend mit einem anderen Mädchen ins Bett gehen, wenn sie wollen. Ein polnisches Mädchen hat mir von einer dieser Reisen erzählt. Man hatte ihr 200 000 Yen (2000 Dollar) für fünf Tage versprochen, aber auch ihr zog Viktor einen gewissen Betrag als Miete ab und zahlte ihr schließlich nur die Hälfte aus. ›Das war doch wie Urlaub für dich‹, meinte er. ›Und 100 000 Yen sind gut genug für eine Urlaubsreise.‹

Ich verstehe nicht, dass die japanische Polizei das zulässt. Sie weiß doch, was da vor sich geht. Wahrscheinlich denken sie, dass alle Frauen, die nach Japan kommen, Prostituierte sind. Ich habe auch schon überlegt, in Polen zur Polizei zu gehen, wenn ich wieder zu Hause bin, aber ich habe solche Angst um meine Familie.

Im November ist eine Russin namens Karina auf eine solche Reise mitgefahren, ich war auch dabei. Karina hat sich ständig mit den Kunden gestritten, aber eines Abends war sie einfach weg. Viktor sagte, dass sie Magenschmerzen vorgetäuscht habe und dann, nachdem sie sie auf der Insel ins Krankenhaus gebracht hätten, weggelaufen sei. Aber niemand glaubte ihm. Ich habe gesehen, wie sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer geschlichen ist, in dem sie die Nacht verbracht hatte, und es sah ganz bestimmt nicht so aus, als wolle sie weglaufen. Als sie dann nicht mehr kam, ging ich in ihr Zimmer. Sie war nicht da, aber neben dem Bett entdeckte ich Blut, und es sah aus, als habe jemand versucht, es zu entfernen. Es roch stark nach Putzmitteln. Natürlich bekam ich Angst, aber ich konnte niemanden fragen, das wäre zu gefährlich gewesen. Ich konnte nicht einmal mit den anderen Frauen darüber reden. Ein Mann an Bord gehörte zur japanischen Mafia. Am Tag nach Karinas Verschwinden hatte er eine tiefe Schnittwunde im Gesicht. Vielleicht hat sie sich ja gewehrt, und er hat sie dann getötet. Das glaube ich jedenfalls. Möglicherweise war es auch nur ein Zufall. Das würde ich gerne glauben.

Nach der Reise haben sie mir ein bisschen zusätzliches Geld gegeben, wahrscheinlich eine Art Schweigegeld. Aber als alle wieder zu Hause waren, wollte sich sowieso niemand an diese schrecklichen Erlebnisse erinnern.

Es hat auch keinen Sinn, zur Polizei zu gehen, denn die würden einen als Hure nicht ernst nehmen.

Ich will mit keinem Mann mehr zusammen sein. Ich fühle mich nur noch schmutzig, nicht einmal mehr wie eine Frau, wie ein Nichts.«

Veronika redete lange und ich machte mir Notizen. Ihr Bericht unterschied sich kaum von dem, was ich sonst so gehört hatte. Die Motive für die Reise nach Japan und einige Details waren unterschiedlich, aber die Geschichte war im Wesentlichen immer die gleiche.

Am liebsten hätte ich mir sofort Viktor vorgenommen, aber dafür brauchte ich erst einmal seine Telefonnummer.

Also verbrachte ich einen Abend im »Dispario« und bestellte Drinks für Kiki, das verrückteste israelische Mädchen, das ich je getroffen habe. Sie war Viktors ehemalige Freundin.

Ich versuchte, ihr Viktors Nummer zu entlocken, aber sie war entweder gewarnt worden oder hatte Angst – vielleicht auch beides. Auf jeden Fall kam ich nicht wirklich weiter, und langsam ging mir das Geld aus. Zwei Stunden und 20 000 Yen (200 Dollar) später war Kiki zwar stark betrunken, schwieg aber immer noch, zumindest bezüglich der Sache, die ich von ihr wissen wollte. Sie konnte kaum noch aufrecht sitzen. Also stützte ich sie und begann ihre Schultern zu massieren.

»Du massierst großartig. Wo hast du das gelernt?«

»An einer schwedischen Massageschule.«

Sie lachte. »Du Lügner, aber mach weiter.«

Also massierte ich ihr den Nacken und fünf Minuten lang die
Hände. Dann hörte ich auf und sagte: »Kiki, ich muss jetzt nach Hause.«

Sie legte den Kopf auf meinen Schoß und schaute zu mir hoch. »Geh bitte nicht.«

»Ich muss noch Berichte schreiben. Wenn du mich nach der Arbeit anrufst, dann komme ich zu dir und verpasse dir eine Ganzkörpermassage.«

Sie hob die Augenbrauen. »Eine Ganzkörpermassage? Okay, du bist gebucht.«

Und tatsächlich rief sie mich um drei Uhr morgens total betrunken an und wollte massiert werden. Also fuhr ich wieder in den »Dispario-Club«, dann gingen wir in ein Liebeshotel. Kaum waren wir im Zimmer, da streifte sie die Kleider ab, sprang aufs Bett, atmete aus und seufzte: »Ich bin so müde. Massier mich!«

Das tat ich etwa 20 Minuten lang, für sie gerade lange genug, um sich zu entspannen, aber nicht, um einzuschlafen. Eine gute Massage soll eigentlich nicht sexuell erregen, aber ich verabreichte ihr keine gute Massage, denn ich wollte sie erregen, und es klappte.

Plötzlich drehte sie sich um und meinte: »Das tut so gut, du darfst mich jetzt ficken.«

»Ich will dich nicht ficken. Ich habe wirklich andere Dinge im Kopf.«

»Was denn?«

»Ich brauche zum Beispiel Viktors Telefonnummer.«

»Warum willst du die verdammte Nummer?«

»Weil er mir Geld schuldet.«

Das schien ihr einzuleuchten. Sie zog eine Grimasse, gab mir aber dann die Nummer, die ich schnell notierte.

»Jetzt darfst du mich ficken«, sagte sie.

»Ich verlange nichts für die Massage, aber ich müsste etwas für ein gutes Ende verlangen.«

Sie setzte sich auf und starrte mich an. »Was?«

»Ich habe gesagt, dass ich dich nicht ficken werde, aber ich kann es dir trotzdem besorgen. Allerdings gehört das nicht zu einer normalen Massage, deshalb musst du dafür zahlen.«

Sie lachte, griff nach ihrem Kleid auf dem Stuhl, zog ein Bündel 10 000-Yen-Scheine heraus und warf es mir zu. »Hier ist dein Geld, du gieriger Junge. Und jetzt besorg’s mir.«

Also brachte ich sie mit meinen Fingern zum Orgasmus.

Danach erlosch sie wie ein Licht. Ich deckte sie zu, legte ihre Kleider zusammen und sammelte die Geldscheine auf. Vielleicht hätte ich unter anderen Umständen an Sex mit ihr gedacht. Hätte ich die Nummer nicht bekommen und davon ausgehen können, dass Sex sie gesprächig machen würde, dann hätte ich es getan. Eine Sekunde lang war ich über mich selbst überrascht. Wahrscheinlich hätte ich danach ein schlechtes Gewissen gehabt, aber ich hätte es wohl getan.

Wie dem auch sei, jetzt hatte ich, was ich wollte, und war zufrieden. Ich beschloss, nach Hause zu fahren und nach Beni und Sunao zu schauen, ehe ich zur Arbeit fuhr. Vielleicht konnten wir noch zusammen frühstücken. Als ich dem Taxifahrer allerdings das Ziel nannte, gab ich die Zentrale der Tokioter Polizei an. Das merkte ich jedoch erst, als wir schon dort waren, und dann hatte ich keine Lust mehr, noch einmal wegzufahren.

Damals fühlte ich mich im Presseclub fast mehr zu Hause als zu Hause. Und wenigstens würde ich hier niemanden aufwecken. Also fuhr ich mit dem Aufzug in den Presseclub, holte Kleider aus meinem Spind, duschte und legte mich zufrieden in den Ruheraum.

Slicks Nummer kannte ich bereits vom Fall Lucie Blackman her. Doch bevor ich ihn interviewte, wollte ich erreichen, dass er sich irgendwie selbst belastete. Daher ließ ich eines der Barmädchen aus dem »Dispario« bei ihm anrufen. Dies ist ein Protokoll der Tonbandaufnahme:

»Hallo. Spreche ich mit Slick?«

»Ja, hier ist Slick.«

»Mein Name ist Cindy Semenara. Ich suche einen Job als Hostess oder Begleitdame. Eine Freundin hat mir geraten, Sie anzurufen.«

»Wenn Sie mit mir reden wollen, dann kommen Sie her. Woher sind Sie?«

»Ich bin aus Kanada.«

»Okay.«

»Wohin soll ich denn kommen?«

»Wo sind Sie jetzt?«

»Ich bin in Roppongi. Was für Jobs haben Sie denn anzubieten?«

»Ich bin auch in Roppongi. Wie wär es mit sieben oder acht Uhr?«

»Aber ich weiß ja noch gar nicht, um welche Jobs es geht.«

»Nun, wie wäre es mit einem Club oder so? Einem Nachtclub.«

»Na ja, eigentlich hatte ich an einen Job als Hostess gedacht.«

»Ja, klar. Ein Job als Hostess, kein Problem. Vielleicht können Sie in einer Bar arbeiten. Aber wenn Sie darüber reden wollen, dann kommen Sie her.«

»Ich wüsste erst noch gerne, um was für eine Art Club es sich handelt.«

»Ein Club nur für Gentlemen. Mein Club, ganz in der Nähe, ein echt guter Club. Woher haben Sie eigentlich meine Telefonnummer?«

»Meine Freundin Anna hat mal in einem Ihrer Clubs gearbeitet. Sie hat gesagt, dass ich auch Viktor anrufen soll. Allerdings habe ich kein richtiges Visum, nur ein Touristenvisum. Ist das okay?«

»Kein Problem. Ich kümmere mich um alles. Kein Problem.«

»Ich habe Erfahrung als Begleithostess in Kanada.«

»Auch das können Sie machen.«

»Eigentlich suche ich so einen Job.«

»Wo sind Sie jetzt?«

»In der Nähe vom ›Hotel Ana‹.«

»Kennen Sie das ›Almond Café‹? Können Sie dort hinkommen?«

»Ich habe auch gehört, dass Sie Kreuzfahrten zu den Malediven organisieren. Das käme für mich auch in Frage.«

»Darüber reden wir, wenn wir uns treffen. Ginge es in einer Stunde?«

»Wie schaut es denn mit der Bezahlung aus? Wie viel würde ich bekommen?«

»Für welchen Job?«

»Für den Begleitservice.«

»Wenn Sie gut sind, vielleicht 1,5 Millionen Yen (15 000 Dollar) im Monat.«

»Und was muss ich dafür tun? Nur einen runterholen oder auch Oralsex oder ...?«

»Alles, alles.«

»Bekomme ich das ganze Geld oder geht da für Sie eine Provision ab?«

»Darüber reden wir später.«

»Ich möchte nur wissen, worauf ich mich einlasse.«

»Wenn Sie sehr gut sind, können Sie zwei bis drei Millionen Yen (20 000 bis 30 000 Dollar) im Monat verdienen. Das ist durchaus möglich.«

»Kümmern Sie sich auch um eine Unterkunft?«

»Ich habe da etwas Neues am Laufen. Eine neue Bar.«

»Können Sie mir eine Wohnung besorgen? Ich habe zurzeit nämlich nur eine ganz kleine Bude.«

»Wir können Ihnen eine Wohnung geben.«

»Kann ich ein Visum für Künstler bekommen oder eine Arbeitserlaubnis?«

»Das glaube ich nicht.«

»Das klingt ja alles ganz gut, aber gibt es da wirklich kein Problem, wenn ich mit einem Touristenvisum arbeite?«

»Nein, gar kein Problem.«

»Ist eigentlich Prostitution hier erlaubt?«

(Slick lacht.) »Darüber möchte ich am Telefon nicht reden. Wenn wir uns treffen, können wir alles besprechen. Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie im ›Almond Café‹ sind, dann komme ich. Irgendwann in der nächsten Stunde.«

Mein Gesicht war in Roppongi schon ziemlich bekannt, daher gab ich, auch wenn sich Slick wahrscheinlich nicht an mich erinnern würde, vorsichtshalber Matchie, einem Jungreporter, das Band und bat ihn, Slick für den Artikel zu interviewen. Ich war mir sicher, dass das nicht gefährlich für ihn war, doch leider brachte er mir wenig Brauchbares. Deshalb beschloss ich, ihn beim zweiten Interview zu begleiten.

Wir trafen uns im »Club Katy«. Seit seinem Gespräch mit Matchie hatte Slick an seiner Geschichte noch etwas gefeilt. Er wirkte auf seine lockere Art richtig charmant. Ich hatte eine Verkörperung des Bösen erwartet und bekam stattdessen Goebbels.

»Viktor nimmt ihnen nur deshalb die Pässe ab, damit sie ihre Versprechen halten«, begann er.

Sein Englisch war nicht sonderlich gut, aber ich verstand ihn. Als er ins Japanische wechselte, gab er zu, dass er ein- oder zweimal einen Pass von Viktor bekommen und ein paar Tage behalten hatte. Viktor kenne er seit acht Jahren. »Wir sagen den Mädchen immer von Anfang an, dass es um Arbeit in einem Sexclub geht, wenn sie nach Japan kommen. Was Veronika17 betrifft, wir haben auch ihr die Konditionen klar und deutlich genannt, aber sie wollte nicht tun, was sie versprochen hatte. Wir haben sie nie betrogen.«

Er gab zu, dass er und seine Helfershelfer Mädchen über das Internet anwarben – etwa über die Seite www.jobsinjapan.com – oder sie von einem Untergrundnetzwerk nach Japan geliefert bekamen. »Ein Agent in Deutschland bat mich darum, Jobs für Frauen zu suchen, die bereit waren, als Prostituierte zu arbeiten«, sagte er beiläufig.

Anscheinend wollte er gar nicht erst leugnen. Er redete zwar mit mir, sprach mich aber nicht direkt an. Offenbar wollte er Matchie, seinen Landsmann, davon überzeugen, dass er nur ein missverstandener Geschäftsmann war, dass die ganze Sache also lediglich falsch dargestellt worden war.

»Viktors Version klingt da aber ganz anders«, warf ich ein, obwohl das nicht ganz stimmte. »Er sagt, dass Sie der Mann fürs Grobe seien, die Mädchen belügen und ihnen das Geld wegnehmen. Rufen Sie ihn doch an, wenn Sie mir nicht glauben – hier ist seine Nummer.« Dabei reichte ich ihm mein Handy mit Viktors Nummer auf dem Display.

Das brachte ihn doch etwas aus dem Gleichgewicht, er fluchte unterdrückt, spielte mit seinem Pferdeschwanz und blähte die Backen auf. »Viktor ist ein verdammter Lügner«, knurrte er nach einer Weile und mahlte dabei mit den Zähnen.

Dann entschloss er sich dazu, auszupacken. Als er fertig war, hatten wir genug Stoff für den Artikel. Er hatte zugegeben, Pässe wegzunehmen, gelegentlich Zwang auszuüben, ein Zuhälter für Ausländerinnen zu sein und japanische Gesetze zu brechen.

Der Artikel erschien am 8. Februar 2004 in der Morgenausgabe. Die Reaktion innerhalb der Yomiuri war gut, und ich war begeistert. In meiner Naivität erwartete ich, dass jetzt etwas geschehen werde – dass vielleicht sogar die Gerechtigkeit siegen würde.

Wie konnte ich nur so dumm sein! Glaubte ich wirklich, dass die Tokioter Polizei Slick und Viktor verhaften, ihre Clubs schließen und die Frauen befreien würde?

Slim, der Leiter der neu geschaffenen Abteilung eins des Dezernats für das organisierte Verbrechen – er war dem Pensionsalter nahe –, hatte meist mit illegalen Ehen und illegaler Einwanderung zu tun. Nachdem er den Artikel gelesen hatte, rief er mich an, weil er mit mir darüber reden wollte.

Aufgeregt packte ich meine Akten, meine Notizen und meine Telefonnummern zusammen und ging um zehn Uhr morgens in Slims Büro.

Er war sehr freundlich. »Gute Arbeit, Jake. Ein sehr interessanter
Artikel.«

»Danke«, gab ich selbstzufrieden zurück. »Werden Sie gegen diese Ganoven vorgehen?«

»Das würde ich wirklich gerne tun. Glauben Sie denn, dass eine dieser Frauen mit mir reden würde?«

»Das lässt sich sicher arrangieren. Aber Sie müssen sie dann natürlich schützen.«

»Ich fürchte, wir müssen sie eher festnehmen und ausweisen, weil sie keine Arbeitserlaubnis hat, sondern nur ein Touristenvisum. Aber aufgrund ihrer Zeugenaussage könnten wir die zwei Kerle immerhin wegen des Verstoßes gegen die Einreisebestimmungen und vielleicht wegen einiger anderer Delikte verhaften. Dann könnten wir ihren Laden dichtmachen.«

Das gefiel mir gar nicht. »Aber warum müssen Sie die Frau denn festnehmen? Glauben Sie ernsthaft, dass jemand mit Ihnen redet, wenn ihm dafür Gefängnis blüht?«

»Tja, so ist nun mal das Gesetz. Und wir müssen die Gesetze befolgen.«

Ich blätterte durch meine Akten und zog eine Anweisung der Landespolizeibehörde heraus. »Hier steht doch, dass alle Polizisten in Japan sich ernsthaft bemühen müssen, Menschenhandel zu unterbinden, und dass sie sich um die Opfer dieser Verbrecher kümmern sollen.«

Slim schnaubte. »Jake, das ist doch purer Behördenquatsch. Das hat mit der Realität nichts zu tun. Wir dürfen es einfach nicht ignorieren, wenn jemand hier illegal arbeitet, und wir dürfen niemanden schützen, nicht einmal die Opfer. Es gibt keine Kriterien, die jemanden als Opfer von Menschenhändlern erkennbar machen. Und darum ist es unmöglich, diese Leute anzuklagen. Die Opfer gelten als illegale Arbeiterinnen und werden zwangsweise abgeschoben. Da es dann keine Zeuginnen gibt, ist auch keine Anklage möglich. Wenn wir aber eine der Frauen, die von diesen Kerlen betrogen wurden, nicht festnehmen würden, dann wäre das eine grobe Pflichtverletzung.«

Theoretisch konnte ich also eine Menge Frauen vor der Ausbeutung retten, aber dafür hätte ich meine Informantinnen, einschließlich Helena, verpfeifen müssen. Ich hätte sie opfern müssen, und das konnte ich nicht. Wütend und niedergeschlagen gab ich ihm Viktors und Slicks Telefonnummern, packte meine Sachen zusammen und wollte mich verabschieden.

Da beugte sich Slim vor und flüsterte mir zu: »Wie ich sehe, gefällt Ihnen diese Situation nicht. Mir auch nicht. Es ist eine Art Sklaverei. Aber weil es Prostitution ist, sind wir nicht dafür zuständig. Ich kann nur gegen illegale Einwanderung oder Arbeit ohne Erlaubnis vorgehen, je nachdem, welches Visum diese Frauen haben. Menschenhandel fällt in eine Grauzone. Am besten reden Sie mit dem Leiter des Sittendezernats.«

Der Chef des Sittendezernats hatte eine Kopie meines Artikels auf dem Schreibtisch liegen. Er war ein kleiner Mann mit Kraushaar, einer quadratischen, randlosen Brille und einer dröhnenden Stimme. Ich gab ihm den Spitznamen Curly.

»Gute Arbeit, Adelstein. Sie sollten Polizist werden.«

»Danke. Was halten Sie von dem Ganzen? Werden Sie die Kerle verhaften?«

Er sog Luft durch die Zähne ein und erzeugte so ein Geräusch, das man bei älteren Japanern oft hört, wenn man ihnen eine Frage stellt, die sie nicht beantworten wollen. »Es geht da wohl eher um illegale Einwanderung. Haben Sie denn schon mit der zuständigen Abteilung eins gesprochen.«

»Die haben mir gesagt, dass Sie zuständig sind, wenn es um Prostitution geht.«

»Ach, wirklich?«

»Ja.«

Curly nahm meinen Artikel in die Hand und überflog ihn.

»Jake, das Sittendezernat hat eine Menge zu tun. Drogen, Waffen, Lizenzen für legale Sexshops, Schließung illegaler Sexshops und vieles mehr. Selbstverständlich haben wir es hier mit Prostitution zu tun, mit oder ohne Zwang. Sind Teenager unter den Mädchen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Okay, dann fällt der Aspekt Kinderschutz weg. Ich wollte nur sicher sein.«

»Und wie geht es nun weiter?«

»Sie sagen mir, was Sie wissen, vielleicht können wir dann irgendwelche Verstöße gegen das Prostitutionsgesetz nachweisen. Das kostet natürlich Zeit, und für die Beschuldigten ist die Strafe ein Klacks, selbst wenn wir eine Verurteilung erreichen.«

»Okay.«

»Noch etwas: Sind alle Prostituierten Ausländerinnen?«

»Ja.«

»Tja, in unserer Abteilung gibt es nicht viele Beamte, die Fremdsprachen beherrschen. Das heißt, wir müssen das Dezernat für internationale Kriminalität um Hilfe bitten. Ehrlich gesagt sind diese Kollegen aber nicht besonders scharf darauf, uns zu unterstützen, wenn es um ganz banale Prostitution geht.«

»Sie können also nichts tun?«

»Doch, aber es kostet viel Zeit, viel Organisation. Budgetprobleme. Personalprobleme. Sprachprobleme.«

»Gut, aber ich gebe Ihnen trotzdem, was ich habe.«

»Ich nehme es, aber vielleicht kann ich nichts damit anfangen.«

»Aber es sind eindeutig kriminelle Aktivitäten.«

»Es gibt überall kriminelle Aktivitäten. Und unser Personal reicht gerade dafür aus, ein paar symbolische Verhaftungen vorzunehmen, damit die Leute beruhigt sind. Das werden wir auch tun. Aber für uns ist das kein einfacher Fall.«

Das war’s.

Zum ersten Mal war ich von der Polizei restlos enttäuscht. Natürlich mussten sie sich an die bestehenden Gesetze halten, aber ich wollte unbedingt, dass sie etwas unternahmen.

Aber Viktor schaffte immer noch weiter Frauen ins Land und Slick verdiente weiter Geld. Ein paar Clubs änderten nach Erscheinen des Artikels zwar ihren Service. Und manche Leute mieden die Reisen zu den Malediven. Aber so richtig änderte sich nichts. Helena war nicht zufrieden mit mir. Und ich war auch nicht zufrieden mit mir. Ich war so wütend und frustriert, dass ich mein gesamtes Material einem Bekannten in der amerikanischen Botschaft übergab. Zumindest war es gutes Futter für das jährliche Weißbuch über Menschenhandel.

Ich achtete darauf, dass der Artikel korrekt ins Englische übersetzt wurde, und bemerkte erfreut, dass er sich über das Internet rasch verbreitete. Angeblich hatte Viktor auch immer mehr Mühe, neue Frauen anzuwerben.

Ich war richtig begeistert, als das amerikanische Außenministerium Japan im Juni auf die Liste der Länder setzte, die Menschenhandel nicht ernsthaft bekämpften. Japan rangierte nur knapp vor Nordkorea. Das hatte für die Japaner eine Signalwirkung. Nationale Demütigung ist ein Faktor, den man nicht unterschätzen darf, wenn es gilt, die japanische Regierung wachzurütteln.

Ende des gleichen Monats wurde mir noch eine weitere Genugtuung zuteil: Die amerikanische Botschaft veranstaltete an der Universität der Vereinten Nationen ein Symposium über Menschenhandel und lud mich als Diskussionsteilnehmer dazu ein – nicht als Journalist, sondern als Teilnehmer. Ich fühlte mich sehr geehrt.

Auf der Konferenz hielt der Vertreter der Nationalen Polizeibehörde eine Rede, in der er die erstaunlichen Fortschritte seines Landes bei der Bekämpfung des Menschenhandels pries. Ich konnte es mir natürlich nicht verkneifen, danach die Hand zu heben und eine Brandrede zu halten, in der ich von meinen Erfahrungen mit der Tokioter Polizei berichtete und dann anhand der Ausflüchte, die ich selbst zu hören bekommen hatte, erklärte, warum die Anweisungen der Nationalen Polizeibehörde nur wertloses Papier waren. Die Fragen, die nach mir gestellt wurden, waren kaum weniger schonungslos.

Am nächsten Morgen erschien mein Artikel über die Konferenz unter der Überschrift »Japan – Königreich des Menschenhandels? Die USA fordern, dass Japan Menschenhandel als Verbrechen behandelt«. Normalerweise schreiben Journalisten ihre Schlagzeilen nicht selbst, aber in diesem Fall hatte ich dafür gesorgt, dass ich die Überschrift bekam, die ich wollte. Dazu musste ich einem der Jungs im Layout nur eine Flasche Sake im Wert von 8 000 Yen kaufen.

Als ich am selben Tag wieder zur Konferenz ging, wartete ein Trio erzürnter japanischer Bürokraten auf mich. Einer war von der Nationalen Polizeibehörde, einer vom Justizministerium und eine vom Außenministerium. Die Dame war offensichtlich mitgeschickt worden, weil sie englisch sprach. Während die anderen hinter ihr standen, wedelte sie mit der Zeitung vor meinem Gesicht herum und schnaubte: »Diese Schlagzeile ist unentschuldbar.« Dabei vergaß sie ganz ihren Auftrag und sprach japanisch.

Ich nahm ihr die Zeitung ab, las die Überschrift und meinte: »Sie haben vollkommen recht, man hätte die Schlagzeile anders formulieren müssen. Das Fragezeichen hinter ›Japan – Königreich des Menschenhandels‹ müsste eigentlich ein Ausrufezeichen sein. Und der Teil über die Amerikaner ist unwichtig. Die Überschrift sollte eher lauten: ›Japan – Königreich des Menschenhandels! So schlimm wie Nordkorea?«

Ich war so richtig in Fahrt, denn ich hatte etwas aufgedeckt, für das ich wirklich kämpfen wollte. Man gewinnt wohl an Ausstrahlung und Macht, wenn man sich auf einem Kreuzzug befindet. Rechtschaffene Wut kann einen Menschen enorm motivieren. Ich hatte bisher sicher einiges getan, worauf ich nicht besonders stolz war, doch im Vergleich zu den »Fleischhändlern«, über die ich schrieb, kam ich mir wie der Dalai-Lama vor.

Ja, ich war wütend. Und es machte mich rasend, dass die japanische Polizei und die japanische Regierung sich nicht um den damals immer weiter ausufernden Menschenhandel kümmern und nichts damit zu tun haben wollten. Der Polizei konnte ich keine großen Vorwürfe machen, denn Gesetz ist Gesetz, und was hätte sie ohne entsprechende Gesetze gegen den Menschenhandel tun können? Das Problem begann nicht bei der Polizei, sondern auf einer viel
höheren Ebene.

Ich dachte wie ein Polizist, der eine Schießerei in der Unterwelt untersucht. Wen interessiert schon der Schütze? Er befolgt ja nur seine Befehle. Wenn man etwas bewirken will, dann muss man die Person schnappen, die den Schießbefehl gegeben hat.

Also beschloss ich, die japanische Regierung so gut ich konnte in Bedrängnis zu bringen.

Das eigentliche Verbrechen bestand in diesem Fall darin, dass der Missbrauch von Ausländerinnen stillschweigend geduldet wurde. Dafür brauchte ich Beweise, und ich hatte auch schon eine Idee. Die von der UNO unterstützte Internationale Arbeitsorganisation (IAO) hatte eine Studie über Menschenhandel in Japan durchgeführt, die von der japanischen Regierung bezahlt worden war. Der Bericht war entlarvend: Japan bestrafte Menschenhändler nicht und kümmerte sich nicht um deren Opfer. Daraufhin befahl die japanische Regierung der IAO, den Bericht unter Verschluss zu halten. Er sollte nie veröffentlicht werden.

Aber ich wusste, dass er existierte, und bekam über gewisse Kanäle eine Kopie. Am 19. November 2004 wurde er zum Aufmacher der Yomiuri. Ich musste für einen anständigen Artikel kämpfen, aber es lohnte sich. Am nächsten Tag schrieb ich noch einen Artikel darüber. Mein Informant verriet mir, dass die Regierung einen Aktionsplan gegen Menschenhandel veröffentlichen wollte und dass mein Artikel sie zu drastischen Änderungen veranlasst hatte, um die Opfer besser zu schützen. Endlich hatte ich als Reporter einmal etwas bewirkt, so gering mein Beitrag auch gewesen sein mochte.

Was Viktor und Slick betraf, gab ich ebenfalls nicht auf. Schließlich wanderten beide in den Knast. Das Drogendezernat war auf Slick aufmerksam geworden und hatte seine Clubs durchsucht – damit war er raus aus dem Geschäft. Und irgendjemand lieferte dem japanischen Zoll und der niederländischen Polizei so viele Informationen über Viktors Geschäfte, dass er bald hinter Gittern saß. Anscheinend verriet jemand seinen Namen auch an die örtlichen Yakuza, die ihn windelweich prügelten, weil er in ihr Revier eingedrungen war.

Ich hatte also doch etwas erreicht. Nein, besser gesagt hatten Helena und ich etwas erreicht. Denn sie war so mutig gewesen, den Kontakt zu mir zu suchen, und hatte härter als ich für die Geschichte gearbeitet. Es wäre nur gerecht gewesen, auch sie als Autorin zu nennen.

Letztendlich hörten die Sexreisen zu den Malediven auf und Slicks Clubs wurden durchsucht und geschlossen. Der Gerechtigkeit war also doch zumindest ein wenig Genüge getan worden.

Während ich an den Artikeln über Menschenhändler arbeitete, passierte etwas mit mir. Ich weiß nicht, wann und warum es passierte. Es fiel mir zunehmend schwer, mit den Opfern zu reden und dabei Distanz zu wahren. Ihre Geschichten gingen mir einfach nicht aus dem Kopf, und manche Bilder verfolgten mich ständig. Da war der magere, zahnlose, sechsjährige Sohn einer thailändischen Prostituierten, den sie nicht zum Zahnarzt bringen konnte, weil die Behörden dann hätten erfahren können, dass sie sich beide illegal in Japan aufhielten, und das wollten die Menschenhändler verhindern.

Oder die Koreanerin, die ein Freier brutal zusammengeschlagen hatte. Dann hatte er noch Zigaretten auf ihren Brüsten ausgedrückt. Dieser Kerl, wahrscheinlich ein rangniedriger Yakuza, hatte sie zudem geschwängert und mit Aids angesteckt. Sie glaubte, dass sie von Gott verflucht sei, und es fiel mir schwer, ihr zu widersprechen.

Oder die estnische Frau, die mit einer Sakeflasche geschändet worden war – und zwar so heftig, dass sie operiert werden musste. Der Grund: Sie hatte einen Kunden bespuckt.

Und es gab noch viele andere.

In fast allen Fällen wussten die Frauen nicht, wer sie missbraucht hatte, wo man sie festgehalten hatte und welche Japaner die Hände im Spiel hatten. Sie erinnerten sich zwar an ihr Leiden, konnten aber selten brauchbare Hinweise liefern, die zur Entlarvung der Verantwortlichen hätten führen können. Es war wie ein Kampf gegen Geister. Sobald ein Sexclubbesitzer verhaftet wurde, wurden die meisten Frauen wegen des Verstoßes gegen die Aufenthaltsbestimmungen abgeschoben, sodass für weitere Anklagen die Beweise fehlten. Als ich die Polizisten davon zu überzeugen versuchte, dass sie die Menschenhändler wegen Vergewaltigung, Körperverletzung und anderen Delikten verhaften müssten, erwiderten sie bloß: »Dafür brauchen wir Beweise, und diese Frauen sind schlechte Zeuginnen, weil sie nicht japanisch sprechen. Außerdem haben sie illegal in Japan gearbeitet, was eine Straftat ist, und müssen daher abgeschoben werden. Aber sobald sie einmal abgeschoben sind, ist es schwer, noch Material für eine Anklage zu bekommen.«

Es war ein Teufelskreis. Ich wusste, dass sich nur dann etwas ändern würde, wenn die Gesetze geändert würden, aber das war leider nicht zu erwarten.

Ich versuchte alle nur möglichen Kontakte zu pflegen, um mit den Opfern sprechen zu können. Doch einerlei, wie sehr ich mich auch bemühte, ich fand nie viel über die Täter heraus. Dafür fehlten mir die Möglichkeiten und das Geld. Ich begann, enorme Beträge aus eigener Tasche auszugeben, um den Frauen zu helfen, die ich traf. Manchen verhalf ich zu einer Abtreibung, die in den Akten der
Klinik nicht auftauchte.

Bezüglich Abtreibung war ich geteilter Meinung, aber ich fand, dass keine Frau gezwungen sein sollte, das Kind eines Mannes auszutragen, der sie vergewaltigt oder ihre widerwilligen Dienste gekauft hatte. Einige Male bezahlte ich auch Flugtickets. Ich tat, was ich konnte, und das widersprach natürlich jeglichen Regeln der Objektivität. Nimm dir die Dinge nicht zu sehr zu Herzen! Ich nahm sie mir sehr zu Herzen.

Mit der Zeit verlor ich auch das Interesse an Sex. Er kam mir vulgär, abstoßend und brutal vor. Alles am Sex schien irgendwie unangenehm zu sein. Ich war nicht impotent, nur uninteressiert. Chronische Müdigkeit spielte dabei selbstverständlich auch eine Rolle.

Natürlich hätte ich über all das mit meiner Frau reden sollen, aber ich tat es nicht. Wann auch, ich war ja kaum zu Hause. Ich rief abends an und sagte den Kindern gute Nacht. Manchmal schrieb ich meiner Frau während des Tages E-Mails, aber oft vergaß ich es. Allmählich baute ich eine Distanz auf und ich beobachtete diesen Prozess, als würde ich einen anderen Menschen beobachten. Vielleicht hätte ich es ihr erklären können, aber ich wollte nicht. Da sie sich nicht für meine Arbeit zu interessieren schien, hörte ich auf, darüber zu sprechen. Wir stritten uns. Sie warf mir vor, zu viel Geld für Alkohol auszugeben, und ich wollte nicht zugeben, dass ich es für Frauen ausgab, die sie nicht kannte. Warum? Weil ich fürchtete, dass sie es mir verbieten würde. Wahrscheinlich hätte sie das gar nicht getan, sondern mich unterstützt, aber ich habe ihr keine Chance dazu gegeben.

Wenn Lügen zum Beruf gehört, dann vergessen Sie, wie wichtig Ehrlichkeit für die Liebe ist.

Irgendwann fing ich an im Hinterzimmer des Hauses zu schlafen, wenn ich spät nach Hause kam. Da wir das Schlafzimmer mit den Kindern teilten, war Intimität natürlich sowieso erschwert. Eigentlich hatten wir gar kein Schlafzimmer, nur ein Wohnzimmer, in dem wir unsere Futons ausbreiteten.

Selbst wenn ich früh nach Hause kam, was selten geschah, suchte ich immer öfter nach Gründen, im Hinterzimmer zu schlafen. Dort fühlte ich mich wohler. Denn ich wollte nicht mehr berührt werden, wenn ich schlief.

Ich merkte, dass ich langsam ausbrannte. Wenn meine Eltern mit mir sprachen, fiel ihnen auf, dass ich zerstreut war. Ich begann darüber nachzudenken zu kündigen und nach Hause zu fahren. Ich hielt dies für eine gute, eine schlaue Entscheidung. Die beste Entscheidung für mich, unsere Ehe und die Kinder.