Willkommen in Kabukicho!
Nach einem kurzen und ziemlich langweiligen Abstecher in die Lokalpolitik Saitamas sollte ich wieder als Polizeireporter arbeiten, und diesmal in Tokio. Endlich würde ich zeigen können, was in mir steckte! Als wir Neulinge unser künftiges Aufgabengebiet zugeteilt bekamen, wurde ich in die Hölle geschickt – zur Sittenpolizei.
Ich war inzwischen seit etwa drei Jahren verheiratet, und Frau Sunao Adelstein war nicht gerade erfreut darüber, dass ich mich ins Sündenbabel begeben sollte. Meine Frau hatte ich bei einer Veranstaltung getroffen, über die sie für Nikkei Publications berichtet hatte, und es war mir gelungen, sie um eine Verabredung zu bitten. Sie war 29 und wollte verheiratet sein, bevor sie 30 war. Nach mehreren Verabredungen unterbreitete sie mir ihre Bedingungen: Wir konnten drei Monate lang miteinander ausgehen, aber wenn ich sie dann nicht heiraten würde, wäre es aus. Sie war amüsant, zweisprachig und sexy (das ist sie immer noch), und ihr Angebot war verlockend. Im Gegenzug lauteten meine Bedingungen: Heirat ja, aber Kinder frühestens in drei Jahren. Nachdem sie damit einverstanden war, verlobten wir uns und wurden tatsächlich am Tag vor ihrem 30. Geburtstag getraut – im Rathaus von Urawa während meiner Mittagspause.
Meine Frau war aufgeregt, weil wir nach Tokio umziehen würden, und ich war es ebenfalls. Endlich raus aus der Provinz! Ich war wieder Polizeireporter in der Großstadt.
Eigentlich war es der vierte Distrikt der Tokioter Polizei, aber in Wirklichkeit war es wie ein Kriegsgebiet. Zum vierten Distrikt gehörten die Polizei von Shinjuku (fast der ganze Stadtbezirk) und das berüchtigte Kabukicho, einst der größte, brisanteste und einträglichste Rotlichtbezirk in Tokio. Unter Gouverneur Shintaro Ishihara bemühte sich die Tokioter Polizei, ihn zu säubern, und schließlich war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Anlass dazu war vermutlich das schreckliche Feuer im Gebäude Meisei 56 im September 2001, bei dem 44 Menschen starben. Das Haus gehörte Shigeo Segawa, einem Sexindustriellen und Yakuza, der auch als Soapland-König bekannt war. Er verstieß in seinen Gebäuden immer wieder gegen Sicherheitsbestimmungen.
Das Unglück machte die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, was für ein gesetzloses Viertel Kabukicho geworden war. Und es war sicher, dass etwas geschehen musste, vielleicht keine radikale Säuberung, aber immerhin musste durchgesetzt werden, dass die Sicherheitsbestimmungen eingehalten wurden. Immerhin!
Was die Verderbtheit anbelangte, konnte kein anderer Distrikt es mit Kabukicho aufnehmen: Drogen, Prostitution, sexuelle Sklaverei, Bars mit üblen Abzockmechanismen, Singlebörsen, Massagesalons, SM-Salons, Pornoshops und Pornoproduzenten, teure Hostessenclubs, billige Salons mit Oralsex, mehr als hundert verschiedene Yakuza-Gruppen, die chinesische Mafia, Schwulenbars, Sexclubs, Läden, die getragene Unterwäsche von Schülerinnen verkauften, und eine Einwohnerschaft, die ethnisch unterschiedlicher war als irgendwo sonst in Japan. Es war wie ein fremdes Land mitten in Tokio. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie zwielichtig Kabukicho damals wirklich war. Ich wusste nur, dass ich darüber berichten sollte.
Ich war seit Jahren nicht mehr dort gewesen und fragte mich, ob der mysteriöse Tarot-Automat wohl noch dort stand, der 1991 meine Zukunft so genau vorhergesagt hatte. Vielleicht war es ja Zeit für ein Update, denn Rat konnte ich wirklich gebrauchen. Denn der vierte Distrikt war eine schwere Aufgabe.
Immerhin schickte man mich nicht alleine los. Okimura erhielt von Inoue den gleichen Auftrag. Okimura war wie ich 1993 zur Yomiuri gestoßen und wusste über Kabukicho viel besser Bescheid als ich. Er war bereits in Yokohama gewesen, einem anderen Brennpunkt der Kriminalität, und hatte sich an der Front bewährt. Er hatte eine der schönsten Hostessen in Yokohama geheiratet und sich dadurch mindestens einen Redakteur der Zweigstelle Yokohama zum Feind gemacht, der damals auch um diese Frau geworben hatte. Okimura hatte im College Kickboxen trainiert und sah immer noch schlank und fit aus.
Die Polizeireporter standen unter dem Kommando von Kollegen, die im Hauptquartier der Tokioter Polizei stationiert waren. Sie befahlen, wir gehorchten. Außerdem waren wir von der Gnade der yu-gun (Reservisten) abhängig, die uns jederzeit aus dem Einsatz zurückrufen konnten, wann immer sie uns brauchten. Inoue hatte angeordnet, dass wir Jungreporter dieses Jahr praktische Erfahrungen sammeln durften und nicht nur als Laufburschen für die älteren Kollegen dienen sollten. Das war ein interessantes Experiment.
Das Polizeirevier Shinjuku war zehn Minuten zu Fuß von Kabukicho entfernt. Das Haus war ziemlich neu und überragte die benachbarten Gebäude. Es hatte mindestens sechs Stockwerke. Vor dem Haus stand immer ein Polizeibeamter, an dem man vorbeimusste, um in das Gebäude zu gelangen. Als ich ihm erzählte, dass ich Reporter bei der Yomiuri war, zuckte er nicht mit der Wimper, warf nur einen Blick auf meinen Ausweis und ließ mich durch. Offenbar war die Polizei in Tokio, zumindest im Revier Shinjuku, besser an Ausländer gewöhnt.
Fast jeder Tokioter Stadtbezirk hat ein Polizeirevier mit einem Presseclub. Das Revier Shinjuku beherbergte den Presseclub des vierten Bezirks. Ich fuhr mit dem Aufzug nach oben. Dort erwartete mich ein gigantischer, quadratischer Raum mit einer Reihe von Schreibtischen für jede Zeitung und jeden Fernsehsender. Neben der Tür befand sich ein abgesperrter Raum mit vielen Futons, in dem man sich zum Schlafen hinlegen konnte.
Der Mann hinter dem Schreibtisch, den ich bekommen sollte, schnarchte, als ich dorthin kam. Er hing auf seinem Sessel so weit nach hinten, dass er fast nach hinten weggekippt wäre. Seine Arme hingen schlaff am Rumpf herab, seine Nase zeigte zum Himmel, sein Haar war struppig. Er machte gurgelnde Geräusche und sein Hemd war mit Reiskräckerkrümeln bedeckt. Deshalb nannte ich ihn sofort Krümel.
Die junge Reporterin von der Asahi, die zwei Plätze von ihm entfernt saß – für mich Frau Bohnenstange –, schürzte entrüstet die Lippen, als ich eintrat. Sie warf mir einen komischen Blick zu, schaute mir in die Augen, sagte aber nichts. Nun ließ ich meinen Rucksack mit Büchern, meiner Kamera und meinem Computer lässig auf Krümels Schreibtisch fallen. Der laute Plumps schreckte Krümel auf, dabei rutschte er vom Stuhl und landete vor meinen Füßen.
»Tut mir leid.« Etwas Besseres fiel mir gerade nicht ein.
Krümel griff nach einer halb leeren Reiskräckerschachtel und stand auf.
»Kein Problem. Hab nur ein wenig Schlaf nachgeholt. Also ...«
»Also was?«
»Also Sie lösen mich ab, stimmt’s?«
»Ja.«
»Nun, ich kann Ihnen nicht viele Informationen geben. Denn ich bin noch nicht lange im vierten Bezirk, und wir Bezirksreporter sind offen gesagt so sehr mit Kleinkram beschäftigt, dass wir kaum hier sind.«
»Das sagte Inoue-san auch. Aber dieses Jahr will er die Bezirksreporter wirklich an die Front schicken, als Vorbereitung für die Arbeit im Hauptquartier.«
Er zog ein rotes Notizbuch aus einem Notizbuchstapel auf dem Tisch und sagte: »Aha. Ich wünschte, das wäre bei mir auch so gewesen. Hier ist die Liste mit den Anschriften der Polizisten. Lang ist sie nicht.«
Nein, sie war wirklich nicht lang, und sie war seit über einem Jahr nicht mehr aktualisiert worden. Wenn das alles war, was er hatte, musste ich ganz von vorne anfangen und mir selbst eine Liste mit den Namen und Anschriften von Polizeibeamten zusammenstellen, damit ich sie abends besuchen konnte. Nun überreichte er mir Verlautbarungen der Distriktpolizei, Zeitungsausschnitte, einen Stadtführer von Kabukicho und einen Plastikbeutel voller Visitenkarten.
Dann fragte ich Krümel, wie ich es in diesem Distrikt zu einem erfolgreichen Reporter schaffen könnte.
Nachdem er einige Zeit an einem Reiskräcker herumgekaut hatte, verriet er mir, was seiner Meinung nach einen guten Polizeireporter ausmachte.
»Im Grunde genommen sind Sie Kanonenfutter, Adelstein. Die Bezirksreporter sind Laufburschen für ihre Kollegen im Tokioter Polizeiclub und im Hauptbüro. Alles, was die örtliche Polizei hier von sich aus unternimmt, ist eh unwichtig, und Sie haben schon Glück, wenn es wenigstens in die Lokalausgabe kommt. Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie hier einen Knüller aufreißen, und niemand ist ärgerlich, wenn Sie die Arbeit gemütlich angehen. Lernen Sie ein paar Polizisten kennen, schreiben Sie ein paar Klatschgeschichten, füttern Sie die echten Polizeireporter mit ein paar Informationen – dann machen Sie alles richtig.«
»Aber ich dachte, dass Kabukicho eine Brutstätte des Verbrechens ist.«
»Das stimmt. Aber da ist nichts Berichtenswertes. Hier werden ständig Menschen ermordet oder verletzt. Aber wen kümmert es, wenn irgendein Chinese, ein Yakuza-Schläger oder sonst wer umgenietet wird? Die Polizei nicht und die Öffentlichkeit schon zweimal nicht. Auch wenn ein Fall noch so sehr nach Mord riecht, dann steht in neun von zehn Fällen im Polizeibericht Körperverletzung mit Todesfolge oder Totschlag. Und warum? Weil sie dann keine gründliche Untersuchung vornehmen müssen. Selbst wenn sie einen chinesischen Skimmer10 mit 36 Messerstichen finden, nennen sie es Tod durch Unfall. Wahrscheinlich würden sie den Vorfall nicht einmal öffentlich machen.«
»Aber was ist denn dann berichtenswert?«
»Alles, was eine Berühmtheit, einen ganz normalen Bürger oder einen Jugendlichen betrifft. Mehr nicht. Wenn Yakuza einander verprügeln und es nach einem Bandenkrieg aussieht, dann ist es vielleicht einen Artikel wert.«
»Ich dachte, ich soll mir den Namen, die Anschrift und die Telefonnummer jedes wichtigen Kripobeamten im Polizeirevier beschaffen.«
»Ja, das heißt es, aber das ist unmöglich. Es ist nicht mehr wie früher. In der alten Zeit sind Sie zum stellvertretenden Polizeichef gegangen, und der hat Ihnen dann eine Liste mit den Namen und Adressen jedes Dezernatsleiters gegeben. Aber das macht heute niemand mehr, schon gar nicht der Maulwurf.«
»Der Maulwurf?«
»So nennen wir den Vizepolizeichef hier, weil er andauernd die Augen zusammenkneift, als könne er kein Licht vertragen. Er hat immer nur in der Verwaltung gearbeitet und hält es für seine Pflicht, Ihnen Informationen vorzuenthalten, auch Pressemitteilungen. Er tut, was er kann, um Ihnen jede Geschichte zu vermasseln, an der Sie arbeiten. Der Mann ist völlig wertlos und hasst Journalisten. Viel Glück mit ihm.«
Frau Bohnenstange kicherte.
»Stimmt das denn?«, fragte ich sie.
»Absolut. Aber vielleicht geht er mit einem Ausländer ja anders um, wer weiß?«
Das tat er allerdings nicht. Als ich den Maulwurf fragte, wann ich den Polizeichef sprechen könne, um mich vorzustellen, lehnte er das ab. Als ich fragte, wann ich mit Kripobeamten der einzelnen Dezernate sprechen dürfe, sagte er: »Nie.« Auf jede Frage gab der Maulwurf mehr oder weniger die gleiche Antwort.
»Ich bin für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Wenn Sie etwas wissen wollen, dann fragen Sie mich. Außerdem kümmern sich die Tokioter Kollegen um alle großen Fälle. Belästigen Sie also unsere Leute nicht.«
Zum Glück für mich hatte der Polizeichef von Misawa, dem erfahrensten und angesehensten Polizeireporter der Yomiuri, von mir gehört, und während der Maulwurf mich noch abzuwimmeln versuchte, kam der Chef aus seinem Büro und bat mich zu sich. Als ich auch ihn fragte, ob ich bei den Dezernatsleitern vorsprechen dürfe, wies er den Maulwurf an, das zu veranlassen. Ich merkte, dass der Maulwurf bei dieser Anweisung zusammenzuckte, aber er tat, was man ihm aufgetragen hatte.
Natürlich lag es nicht nur an meinem charmanten Auftreten, dass der Chef auf meiner Seite war. Ich hatte mich gründlich vorbereitet und wusste, dass der Polizeichef ein starker Raucher war und Lucky Strikes mochte. Daher hatte ich einen Freund gebeten, sich im Duty-free-Shop damit einzudecken. Die Zigaretten waren in einer Kiste verpackt, nicht in Papier, was damals wohl ungewöhnlich war. Und eine Kiste Zigaretten konnte in Japan viel bewirken.
Nachdem ich unter den wachsamen Augen des Maulwurfs mit etwa zehn Polizeibeamten Visitenkarten ausgetauscht hatte, fuhr ich zurück in den Presseclub.
Die Bohnenstange wartete schon auf mich und stellte mich meinen Kollegen vor. Wir plauderten ein wenig und ich gab die üblichen Antworten: Ja, ich bin ein netter Kerl. So bin ich zur Yomiuri gekommen. Ja, ich kann Sushi essen. Ja, ich mag Polizisten. Ja, ich kann japanisch lesen und schreiben.
Als ich
mich über den Maulwurf beklagte, war schnell klar, dass niemand ihn
leiden konnte. Insofern trug er viel dazu bei, die Clubmitglieder
enger zusammenzuschweißen. Da es an diesem Tag
keine aufregenden Nachrichten gab und auch keine Mitteilungen
angekündigt worden waren, belegte ich gleich nach dem Mittagessen
einen Futon im Ruheraum, schaltete das Licht aus und schlief. Der
vierte Bezirk sollte die Hölle sein? Pah. Er war der Himmel, das
Schlaraffenland. Jedenfalls glaubte ich das, als ich
einschlief.
Aber das Schlaraffenlandgefühl hielt nicht lange an. Denn um zwei Uhr nachmittags rief uns der Maulwurf zu, dass die Polizei von Shinjuku bald eine Festnahme wegen des Verstoßes gegen das Gesetz zur Prostitutionsbekämpfung bekannt geben werde. Shimozawa-san, der stellvertretende Dezernatsleiter, wollte uns im Büro des Polizeichefs das Wichtigste mitteilen. Nachdem ich den Presseclub in Tokio angerufen hatte, um die Kollegen davon zu unterrichten, eilten wir in das Büro, wo der Polizeichef hinter seinem Schreibtisch stand. Der Einsatzleiter stand davor und verteilte Handzettel. Ein anderer Beamter saß in einer Ecke und machte Notizen. Die Pressemitteilung war nicht sehr ergiebig, wie immer bei der Tokioter Polizei. In Saitama war das ganz anders gewesen.
Vor zwei Tagen hatte die Polizei von Shinjuku den Eigentümer und Manager eines Clubs namens »The Mature Hot Wives Party Palace« in Kabukicho festgenommen, weil seine Angestellten Prostituierte waren. Er betrieb das Etablissement seit über einem Jahr und hatte fast 400 000 Dollar verdient. Shimozawa zeigte uns eine Anzeige des Clubs in der Tokyo Sports, einer beliebten Zeitung, die in der Stadt an jedem Bahnhof verkauft wurde:
»Heiße, reife Frauen dürsten nach Liebe und wollen ihre Bedürfnisse befriedigen. Nichts ist schöner, als es mit der Frau eines anderen Mannes zu treiben, vor allem mit einer Frau in den besten Jahren.Rufen Sie an.«
Die Anzeige zeigte mehrere Frauen Ende 30, die meisten mit einem schwarzen Balken über den Augen, der ihr Gesicht teilweise verdeckte. Akimoto hatte auch im Internet und per SMS geworben, für damalige Verhältnisse eine Sensation.
Die Website bot dem Kunden noch den Vorteil, dass er die Seite ausdrucken und vor Ort vorzeigen konnte, um so einen Rabatt von mehreren tausend Yen zu bekommen. Die Website war sehr professionell gestaltet und verfügte über eine Auflistung sämtlicher Dienstleitungen, die ich aber nicht verstand. Was waren wakamesake oder shakuhachi?
Shimozawa erklärte uns alles, nur nicht die Auflistung.
»Im Gegensatz zu vielen Sexclubs in Kabukicho bietet dieser Club offen honban an. Sie haben mehr als 30 abrufbereite Frauen und 10 im Salon. Wir vermuten, dass das organisierte Verbrechen dahintersteckt. Haben Sie noch Fragen?«
Niemand außer mir hob die Hand.
»Was bitte ist honban?«, fragte ich.
Shimozawa sah mich überrascht an.
»Sie wissen nicht, was honban ist?«
»Nein.«
Die Bohnenstange kicherte.
»Das ist richtiger Geschlechtsverkehr mit dem Penis in der Scheide«, antwortete er ungerührt.
»Aber passiert das nicht in allen Sexclubs?«
»Eigentlich nicht.«
»Aber wenn die Kunden ihren Penis nicht einführen, was machen sie dann mit ihm?«
Shimozawa lachte. »Haben Sie jemals über die Abteilung für Verbrechensverhütung berichtet?«
»Nein.«
»Dann wissen Sie also nicht, wie sie funktioniert?«
»Wie was funktioniert?«
»Die Sexindustrie.«
»Nicht wirklich.«
»Nun, dann sollten Sie sich unbedingt darüber informieren.«
Nagoya-kun von Kyodo fragte, ob berühmte Leute da gewesen seien, als die Polizei den Club durchsuchte und den Betreiber verhaftete. Aber es waren wohl keine gesehen worden.
Nun hatte ich noch eine Frage: »Wie viele Prostituierte wurden festgenommen?«
»Keine.«
»Und wie viele Freier?«
»Keine.«
»Nur der Manager?«
»Nur der Manager.«
Die anderen schauten mich an, als wäre ich schwachsinnig. Aber für mich ergab das Ganze keinen Sinn. Warum nahm die Polizei nur den Chef fest, wenn es ein Gesetz gegen Prostitution gab? Ich spürte ganz deutlich, dass ich mich hier auf unbekanntem Gelände befand. Auch wenn ich gerne noch einiges gefragt hätte, hielt ich lieber den Mund, weil ich das Gefühl hatte, dass die Beamten langsam ungeduldig wurden. Dann musste ich an eines meiner japanischen Lieblingssprichwörter denken: »Etwas nicht wissen und fragen ist einen Moment lang peinlich. Etwas nicht wissen und nicht fragen ist eine lebenslange Schande.« Also beschloss ich, lieber wie ein Idiot zu wirken und eine Menge Fragen zu stellen, als so zu tun, als wüsste ich Bescheid.
Daher fragte ich schließlich erneut: »Dieser Club rühmte sich damit, dass alle Frauen verheiratet seien. Wie viele waren aber tatsächlich verheiratet?«
Shimozawa brauchte gar nicht auf seinen Notizblock zu schauen. »Gute Frage. Nur etwa ein Drittel von ihnen war verheiratet. Die meisten waren geschieden oder ledig.«
Als ich nach der Pressekonferenz meinen Computer einpackte, kam der Polizist, der in der Ecke gesessen hatte, zu mir und stellte sich vor. Später erfuhr ich, dass er »Alien Cop« genannt wurde. Er war fast 1,90 Meter groß – riesig für einen Japaner –, sehr mager, mit rasiertem Schädel und pechschwarzen Augen. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, eine marineblaue Krawatte und schwarze Slipper.
»Sie kennen sich mit dieser Materie nicht besonders aus, oder? Sind Sie neu als Polizeireporter?«
»Ich habe bisher über das organisierte Verbrechen berichtet.«
»Ach so, das ist natürlich etwas ganz anderes.«
»Ja, das habe ich gemerkt. Ich muss wohl noch einiges darüber lesen.«
»Das Rotlichtviertel von Tokio ist kompliziert. Bücher helfen ihnen da nicht weiter. Sie können natürlich die Gesetze studieren, aber was schriftlich niedergelegt ist, ist nicht das, was auch durchgesetzt wird.«
Dann gab er mir die Karte einer Bar in Kabukicho.
»Ich mache um neun Uhr Feierabend. Treffen wir uns doch in dieser Bar. Dann führe ich Sie durch Kabukicho und erkläre Ihnen, was da läuft.«
Dankbar nahm ich den Vorschlag an, denn es kommt nicht oft vor, dass ein Polizist einen Journalisten unter seine Fittiche nimmt.
Zuerst musste ich aber noch einen Artikel über einen »Heiße-Frauen«-Club fertig schreiben. Nachdem ich etwa eine Stunde daran gearbeitet hatte, schickte ich ihn an meinen Redakteur. Danach ging ich zur Buchhandlung Kinokuniya, kaufte ein Buch über das japanische Strafgesetz und blätterte es durch. Es war in der Tat nicht leicht zu verstehen, Alien Cop wusste, wovon er sprach.
Die Bar, in der ich den Beamten treffen sollte, war eine richtige Spelunke. Winzig, eher wie ein begehbarer Schrank. Die Obsidiantheke an der Bar zog sich durch den ganzen Raum. Hocker gab es nicht, auch keine Fenster und Tische. Es war so dunkel, dass ich ein wahres Feuerwerk entfachte, als ich mir eine Zigarette anzündete. Der Geschäftsführer trug einen Smoking und hatte sich eine Glatze rasiert. Ich wollte mir gerade ein Getränk bestellen, als er sagte: »Sie trinken einen Whiskey.« Dann schenkte er mir ein.
Wenn man mit einem Polizisten trinkt, lautet die erste Regel: Du darfst nur Sake, shochu, Bier oder Whiskey trinken. Exotische Mischungen sind verpönt. Wenn du einen Blue Hawaii bestellst, kannst du gleich deine Sachen packen und anfangen, über Familienangelegenheiten zu schreiben.
Alien Cop kam 30 Minuten zu spät. Er trug Bluejeans, rote Slipper und ein AC/DC-Hemd. War ich vielleicht zu fein angezogen? Er nickte dem Geschäftsführer zu, der nickte zurück, goss ihm einen Whiskey ein und gab dem Glas mit der Präzision eines schottischen Curlingteams bei Olympischen Spielen einen Stoß, sodass es genau zu meinem Begleiter rutschte. Sofort führte dieser das Glas an den Mund, dann knallte er es wieder auf die Theke.
»Also, wie soll ich Sie nennen? Adelstein-san? Jake-san?«
»Jake genügt.«
»Okay, Jake-san. Sie finden das ganze Thema ein wenig verwirrend?«
»Nun ja. Wenn Prostitution illegal ist, dann müssten doch alle Etablissements in dieser Gegend geschlossen werden!?«
»Hängt davon ab, wie Sie Prostitution definieren. Wollen wir spazieren gehen? Ich habe frei, und das hier ist vertraulich.«
Also gingen wir hinaus in die Nacht.
Wir begannen unseren Rundgang durch Kabukicho in der Nähe des »Tokyo Topless«, eines legendären Stripclubs. Alien deutete im Vorbeigehen auf einige Läden und berichtete aus seinem Leben bei der Sitte.
An einem Abend im Jahr 1999 sah Kabukicho wie ein hell erleuchtetes Märchenland aus, nur dass die Neonreklamen Oralsex anstatt Kinderspielzeug anpriesen. Vor den Häusern und mitten auf den Straßen gingen aufdringliche Schlepper auf potenzielle Kunden zu, packten sie am Ärmel oder drückten herumbummelnden Büroangestellten Flugblätter in die Hand. Aus einigen Häusern drangen aus Lautsprechern die rauchigen Stimmen von Frauen, die fantastische sexuelle Freuden versprachen – 200 Dollar für 40 Minuten. Einige Clubs zeigten auf beleuchteten Werbetafeln am Eingang Bilder halbnackter Frauen, die dort arbeiteten. Überall gab es Shops, Bars und jede Menge Werbung.
»Warum wurden denn bei diesem Fall keine Prostituierten festgenommen? Gab es da einen Handel oder so etwas Ähnliches?«
»Sie müssen wissen, dass das Gesetz gegen Prostitution im Grunde die Prostituierten schützt.«
»Wie das?«
Während wir am »Bareo« vorbeigingen, zeigte er auf eine thailändische Prostituierte, die in einer Gasse auf Freier wartete.
»Ich könnte sie festnehmen, wenn sie Männer offen zum Sex auffordern würde. Das ist verboten, aber wenn die Männer zu ihr hingehen, ist das in Ordnung. Also, das Ganze läuft so: Nach dem Krieg haben viele Leute ihre eigenen Kinder an die Sexhändler verkauft, als eine Art Sklaven.«
Ich nickte.
»1958 wurde dann Prostitution, so wie sie damals war, verboten. Vorher war es ein amtlich zugelassenes Gewerbe. Man wollte dadurch erreichen, dass Frauen nicht mehr zum Sex gezwungen wurden. Darum verbietet das Gesetz letztlich die Zuhälter, die Bordellbesitzer und die Männer, die Prostituierte anwerben. Die Idee dahinter ist, dass viele Frauen zu diesem Gewerbe gezwungen werden, und man nicht die eigentlichen Opfer bestrafen wollte. Außerdem würde dann auch niemand zur Polizei gehen. Freier und Nutten werden daher nicht bestraft. Wenn die Frau unter 20 ist, bringen wir sie höchstens in ein Heim.«
»Aber warum bestraft man denn die Freier nicht? Wäre das nicht eine Abschreckung?«
»Schon, aber wer hat das Gesetz Ihrer Meinung nach formuliert? Männer natürlich. In den Fünfzigern besuchte wahrscheinlich das halbe Parlament Soapland11. Da gab es ein echtes Problem: Mädchen wurden wie Vieh verkauft, und dagegen musste etwas unternommen werden. Aber deshalb wollten die Männer ihren Schwänzen doch keine Zügel anlegen. Und das ist der Stand der Dinge.«
»Prostituierte und ihre Freier werden also nicht bestraft. Aber was ist mit all den anderen Dingen, die sich hier abspielen? Die sind doch illegal, oder?«
»Nein. Die allgemeine Regel lautet: Solange es nicht zum Geschlechtsverkehr kommt, darf ein Club alle sexuellen Dienste anbieten, die gewünscht werden. Aber der Penis darf nicht in eine Vagina eindringen. Natürlich gibt es da manchmal Abgrenzungsprobleme.«
»Und darum dürfen sie auch Werbung machen, oder?«
»Genau. In Zeitungen, an Plakatwänden, auf Packungen mit Papiertaschentüchern. Schauen Sie sich zum Beispiel diesen Laden hier an.«
Wir standen vor einem Etablissement, das sich allen Ernstes »Pimmelschwester« nannte. Auf der Werbetafel waren Japanerinnen ohne Höschen, aber in weißer Schwesternuniform und mit weißen Häubchen zu sehen, die über einem Mann kauerten. Ihre Hände lagen auf seiner Leistengegend. Der Text war unmissverständlich:
»6000 Yen für 30 Minuten. Unsere Schwestern pflegen Ihren Unterleib und machen ihn gesund. Ausgebildete Schwestern untersuchen jeden Winkel Ihres Körpers und messen die Temperatur oral oder anal, ganz nach Ihren Wünschen. Sonderwünsche möglich.«
»Das ist also erlaubt, oder?«
»Ja, solange es nicht zum Geschlechtsverkehr kommt, gibt es kein Problem. Hier können Sie sogar erkennen, dass dieser Laden eine behördliche Genehmigung besitzt.« Er zeigte auf ein Siegel an der Tür.
Ich studierte die besonderen Angebote, verstand aber viele Begriffe nicht. »Was bedeutet das?«
»Anaru name? Das heißt Anilingus. Sie leckt Ihnen den After, wenn Sie einen Aufpreis zahlen. Sie können auch eine Prostatamassage bekommen. Dabei steckt sie Ihnen einen Finger in den Hintern, während Sie Ihnen einen bläst. Gehört zum Standardprogramm.«
Wir gingen weiter, und Alien erklärte mir, welchen Service die einzelnen Etablissements anboten. Es gab Massagesalons und schicke »Gesundheitsshops«, die meist manuellen und oralen Sex sowie Analmassage und Anilingus offerierten. Einige warben sogar mit Analsex. In sogenannten Imageclubs konnte man unter mehreren Persönlichkeiten wählen: jungfräuliche Bräute, Schulmädchen, Schwestern, Nonnen und Zeichentrickfiguren. Die meisten Frauen trugen irgendein Kostüm für einfache Rollenspiele.
Alien führte mich auch zur »Shinjuku Joshi Gakuen« (Shinjuku-Mädchenschule), dem berühmtesten Etablissement in Kabukicho, dessen Hostessen wie Schulmädchen gekleidet waren. Offenbar erinnerten die Uniformen viele Kunden an ihre ersten Lustgefühle.
»Waren Sie da schon mal drin?«, fragte ich Alien.
»Nein, weder beruflich noch privat. Aber der Club ist beliebt. Es gibt eine große Auswahl an verschiedenen Uniformen, von fast allen Oberschulen in Tokio. Das macht manche Männer ganz schön heiß.«
Sobald die Leute mich sahen, wiesen sie Alien sofort darauf hin, dass der Zutritt für Ausländer verboten war. Das war sicher einer der Gründe dafür, dass ich Kabukicho nie so gut kennenlernte wie meine Kollegen. Aber das hat mir kaum geschadet.
Doch Alien gelang es, mich in einige Wäscheshops, ein Kabarett und einige andere schäbige Lokale zu lotsen, in die ich allein nicht hineingekommen wäre. Selbstverständlich bezahlte ich zum Ausgleich die Rechnung.
Einige Kneipen boten ihren Gästen Oralsex an. Der Kunde zahlte 3000 Yen (etwa 30 Dollar) und bestellte einen Kaffee. Während er den trank, öffnete eine Angestellte seine Hose, wusch seinen Penis mit einem warmen Tuch und befriedigte ihn dann mit dem Mund. So erzählte es mir zumindest Alien, denn Ausländer hatten natürlich keinen Zutritt.
Es gab auch
Stripclubs, in denen das Publikum mitmachen durfte. Alien zog mich
in einen der kleineren Clubs hinein, in dem sich eine Tänzerin zu
japanischer Popmusik bewegte. Dann zog
sie sich aus und masturbierte unter lautem Quietschen mit
gespreizten Beinen auf der Bühne. Angeblich beherrschte sie auch
die Kunst, einen Stift mit der Vagina festzuhalten und etwas zu
schreiben oder sogar Dartpfeile abzuschießen. Wir hatten an diesem
Abend allerdings kein Glück – denn diese spektakuläre Darbietung
fiel aus.
Alien ging ganz in seiner Rolle als Fremdenführer auf und erklärte mir die gesamte geheime Terminologie der Stripclubs und die verschiedenen Arten. So gab es zum Beispiel Clubs, die separate Räume hatten, die ein Gast mit einer Tänzerin aufsuchen konnte. Für einen zusätzlichen Obolus tat sie, was er brauchte, um zu ejakulieren. Stripclubs mit ausländischen Frauen boten angeblich auch Geschlechtsverkehr an.
Danach zeigte er mir das riesige Vergnügungszentrum/Bürogebäude Furinkaikan, in dem sich Tag und Nacht die örtlichen Yakuza versammelten. Im Erdgeschoss befand sich ein riesiges Café. In Kabukicho gab es mehr als 100 Yakuza-Gruppen mit Büros und Geschäften, und Furinkaikan war ihr Hauptquartier und ihre Versammlungshalle.
Wir gingen
an Liebeshotels und an thailändischen Prostituierten vorbei, die in
der Nähe des Bahnhofs Okubo standen. Iraner bedienten japanische
Schwule in der Toilette eines Parks. In mehreren
Bars arbeiteten Transsexuelle und in einigen sogar Männer in
Frauenkleidern.
In einer schmalen Straße fiel mir ein schmales Gebäude auf, an dem ein Schild hing: »Klinik für sexuelle Belästigung«. Alien erklärte mir, dass es sich hierbei um eine weitere Variante der Schwesternclubs handelte. Allerdings verfügte diese »Klink« über einen echten gynäkologischen Untersuchungsstuhl mit Beinstützen, um möglichst authentisch zu wirken.
Der beeindruckendste Sexclub des Abends war »Bareo«. Innen stand ein echter U-Bahn-Waggon, und wenn der Gast eine Fahrkarte kaufte und einstieg, kletterte ein Mädchen in den Wagen, gab sich als Fahrgast aus und »belästigte« ihn. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, schob die Hände in seine Hose und so weiter. Für eine Zusatzgebühr konnte man mit einem der Mädchen hinausgehen und sich von ihr verwöhnen lassen. Dies war damals der gefragteste Sexclub. Es gab zwar bereits einen oder zwei Clubs, in denen Männer dafür zahlten, eine Frau in einer U-Bahn belästigen zu dürfen, aber der Rollentausch machte diesen Club zum Schlager.
»Amaenbo« in der Nähe des Rathauses war angeblich bei Beamten der mittleren Ebene besonders beliebt. Im Club befand sich eine gläserne Toilette, in der man seine Hostess bei ihren Verrichtungen beobachten konnte. Wer wollte, konnte sich auch auf den Kopf pinkeln lassen.
Ich fand das alles gar nicht so abstoßend, wie ich eigentlich gedacht hatte. Aber ich verzichtete dennoch lieber darauf, die Toilette in Funktion zu sehen.
Wir gingen auch in einen SM-Club. Alien kannte den Besitzer, einen kleinen Burschen mit Pferdeschwanz, der einen Sarong trug, und beschwatzte ihn. Der Chef erlaubte mir schließlich, die Show hinter dem Vorhang zu beobachten. In der Mitte eines riesigen Raumes mit acht oder neun Tischen befand sich eine kleine Bühne mit einer Domina in schwarzem Leder. Ihre Brüste ragten aus ihrem ledernen Oberteil hervor, und in ihren Brustwarzen steckten Dinger, die wie Sicherheitsnadeln aussahen. Ihr Haar war zurückgekämmt und endete in einem Knoten. Nur ein gewaltiger weißer Dildo bestand nicht aus Leder. Sie benutzte das Ding, um einen Mann im mittleren Alter im marineblauen Anzug anal zu befriedigen.
Mehr brauchte ich nicht zu sehen, also gingen wir zurück auf die Straße.
Um ein Uhr morgens waren einige chinesische Prostituierte auf den Straßen unterwegs. Ihnen war anscheinend egal, ob ich Japaner war oder nicht, daher musste ich ständig eine von ihnen abwehren.
Gegen zwei Uhr führte Alien mich in ein Shabu-shabu-Restaurant, in dem halbnackte junge Frauen am Tisch des Gastes Rindfleischgerichte zubereiteten und dann mit ihm flirteten, während er aß. Auch darauf konnte ich gut verzichten.
»Jetzt habe ich es kapiert. Aber was ist noch verboten, außer normalem Geschlechtsverkehr?«
»Nicht viel. Harte Pornografie. Unzensiertes Zeug.«
»Es ist also illegal, Pornografie zu verkaufen, die Oralsex zeigt, sich einen blasen zu lassen, ist aber erlaubt?«
»Ja, genau, Sie kapieren schnell. Man darf es tun, aber man darf nicht zusehen.«
»Und was macht die Polizei?«
»Nun ja, ab
und zu müssen wir Lokale schließen, die offen
Geschlechtsverkehr anbieten. Irgendwo müssen wir eine Grenze
ziehen.«
»Aber wäre es nicht einfacher, auch normalen Sex zu erlauben? Schließlich ist fast alles andere doch legal.«
»Ich glaube, dass das Verbot des normalen Geschlechtsverkehrs die anderen Angebote noch interessanter macht. Es zwingt die Leute, neue erotische Abenteuer zu erforschen. Neben der Standardmethode gibt es da noch viele andere Möglichkeiten.«
Nach dem Essen wollte ich mit einem Taxi nach Hause fahren, aber Alien hatte noch Pläne. Er führte mich in einen koreanischen Massagesalon mit Sauna und versicherte mir, dass hier alles legal war. »He, ich will weder Sie noch mich in Schwierigkeiten bringen. Ich komme gelegentlich hierher. Koh-san wird sich um Sie kümmern. Das ist mein Dessert für Sie.«
Ich wurde in einen kleinen fensterlosen Raum geführt, in dessen Mitte ein Massagetisch stand, an der Wand gab es ein Regal mit verschiedenen Ölen, einem Korb für die Kleider, einigen Vibratoren, einer Flasche Alkohol zum Einreiben, Baumwolldecken und Handtüchern.
Koh-san trug eine beige Schwesternuniform, lange weiße Latexhandschuhe und eine Metallrandbrille mit runden Gläsern. Ihr Japanisch war ziemlich gut. Auf ihr Geheiß zog ich mich aus und legte mich auf den Tisch. Sie massierte mich 20 Minuten lang mit einem sehr klebrigen, klaren Massageöl. Zunächst lag ich auf dem Bauch, dann sollte ich mich umdrehen. Das wollte ich aber nicht, doch sie lachte nur und rollte mich auf den Rücken. Kichernd kommentierte sie meine Anatomie, bat mich zu warten und rief zwei ihrer Kolleginnen, damit sie mich bestaunen konnten. Die Frauen unterhielten sich auf Koreanisch oder Chinesisch und kicherten erneut. Dann gingen sie. Ich fing das Wort katsurei auf, das »beschnitten« bedeutet.
Der Rest der Massage war zwar nicht entspannend, aber auch nicht unangenehm. Nach den vereinbarten 40 Minuten wollte ich aufstehen, aber sie ließ es nicht zu. »Massage nicht vorbei. Bitte warten. Entspannen.« Dann packte sie mit einer Hand meinen Penis und steckte mir einen Finger der anderen Hand in den After.
Wollte Alien Cop meinen Sinn für Humor oder meine Neugier testen? Würde ich ihn beleidigen, wenn ich diesen Service ablehnte? Lange konnte ich nicht darüber nachdenken. Nach meinem Orgasmus schob Koh mich in die Dusche, danach zog ich mich an und ging ins Foyer, wo Alien wartete.
Er strahlte und ich dankte ihm für die gute Masseuse. Was hätte ich auch sonst tun sollen?
»Schon in Ordnung. Jetzt verstehen Sie, worum es in Kabukicho geht. Um sexuelle Lust. Sie wird verkauft und befriedigt. Solange die Salons die Grenze nicht zu weit überschreiten, dürfen sie tun, was sie wollen. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, diese Lokale zu schließen, sondern sie zu überwachen.«
Ich nickte. Dann hatte Alien noch eine Frage an mich: »Mögen Sie Japanerinnen?«
»Ja, schon, ich habe sogar eine Japanerin geheiratet.«
»Mir geht es genauso.«
»Sie mögen Japanerinnen?«
»Nein, ich mag Ausländerinnen. Blonde und rothaarige. Könnten Sie mir vielleicht eine vorstellen? Ich begegne nicht vielen Ausländerinnen – jedenfalls nicht von der Sorte, mit der man sich verabreden möchte.«
Darum ging es also. Ich versprach, mein Möglichstes zu tun, und ich tat es. Das war der Beginn einer langen Partnerschaft, wenn man es so ausdrücken will. Alien Cop war auch der Mann, dem ich den ersten und vielleicht einzigen Knüller im vierten Bezirk verdankte.
Gegen fünf Uhr morgens kam ich nach Hause, Sunao erwartete mich bereits. Sie trug einen Bademantel und tippte einen Artikel über die neuesten Trends bei japanischen Socken, hatte ein Bad für mich eingelassen und gebratenen Reis auf den Herd gestellt.
Als sie mich fragte, wie mein Tag gewesen sei, erzählte ich ihr alles. Natürlich erwartete ich eine Szene, aber sie war weder schockiert noch wütend, sondern hörte interessiert zu, während ich ihr berichtete, was ich an diesem Abend getan und gelernt hatte. Sogar den Massagesalon erwähnte ich.
»Na ja, wenn dieser Polizist dich eingeladen hat, konntest du wohl nicht ablehnen. Aber lass es nicht zur Gewohnheit werden. Ach, hast du eigentlich noch was übrig?«
»Wovon?«
»Sperma. Es ist wieder so weit. Schau in deinen Notizblock, Jakey.«
Also öffnete ich den Notizblock, und tatsächlich – neben dem Datum stand ein großes O in Sunaos Handschrift. O bedeutete Ovulationstag. Einfach ins Bett zu kriechen war also kaum möglich. Ich verzog ein wenig das Gesicht, aber Sunao lächelte nur.
»Keine Sorge, Jake. Heute berechne ich dir nichts. Es geht aufs Haus.«
Anmerkung: Soapland-Belanglosigkeiten
Die Soapland-Clubs in Japan hießen früher toruko, türkische Bäder. Das missfiel einem Türken, der in Japan wohnte, so sehr, dass er eine Kampagne startete, um den Namen ändern zu lassen. Die Yomiuri berichtete Ende der Sechziger- oder Anfang der Siebzigerjahre darüber. Japan beugte sich schließlich dem internationalen Druck und löste das Problem, indem es den Sexshops einen unverfänglichen Spitznamen gab: Soapland.
Übrigens bedeutet das japanische Wort für Oralsex-Puppen übersetzt »Holländische Ehefrau«. Die niederländische Botschaft hat allerdings bisher noch nicht dagegen protestiert. Sollte das passieren, werde ich daraus eine Schlagzeile machen.