Zehntausendundeine Zigarette
Manchmal überrascht es mich, wie oft ich wieder dort lande, wo ich begonnen habe.
»Hier ist eine Schachtel mit dem edelsten Tabak, den man für Geld kaufen kann«, sagte ich, als Sekiguchi die Tür öffnete, und hob den Beutel mit der Aufschrift »zollfrei« hoch. Er war erstaunt, mich zu sehen – eigentlich sollte ich gar nicht in Japan sein. Aber das kümmerte ihn nicht. Ich war im Januar 2006 gegen fünf Uhr nachmittags unangekündigt bei ihm erschienen. Er war allein zu Hause – zu einer vernünftigen Zeit, was selten vorkam.
Er musste
zweimal hingucken, dann rief er aus: »Jake! Ein gutes
neues Jahr!«
»Ihnen auch. Ich dachte, ich bringe Ihnen die Neujahrskarte diesmal persönlich vorbei.« Ich überreichte sie ihm. Meine ganze Familie war darauf abgebildet. Es waren nette Fotos von Beni und Ray, meinem Sohn. Sunao und ich sahen zufrieden aus. Wir hatten Grüße auf Japanisch und Englisch auf die Karte geschrieben. Es war wahrscheinlich das erste Mal seit Jahren, dass ich Zeit gehabt hatte, mich hinzusetzen und eine anständige Karte zusammenzustellen.
Sekiguchi amüsierte sich über unser sechseckiges pseudojapanisches Haus auf den Fotos.
»Danke für die Karte. Aber haben Sie noch nie etwas von Briefmarken gehört? Oder kennt ihr Barbaren im Mittleren Westen so etwas nicht? Kommen Sie rein. Meine Frau und die Kinder sind beim Einkaufen, sie kommen so in einer Stunde zurück.«
Ich zog an der Haustür die Schuhe aus, stellte sie so hin, dass die Spitzen zur Tür zeigten, und ging hinein. Dabei sprach ich die obligatorischen Worte »Ojama shimasu« (Entschuldigen Sie bitte die Störung).
Als ich meinen Schirm an den Kleiderständer hängte, betrachtete er meine Füße. »Heute passen Ihre Socken nicht zueinander. Sunao und die Kinder sind also in Amerika geblieben, oder?«
Ich lachte. Seine Augen waren scharf wie immer.
Er dankte mir für die Kiste mit Zigaretten, dann holte er einen Aschenbecher, der erstaunlich sauber war.
Er zog eine Packung heraus, betrachtete sie sehnsüchtig, zuckte mit den Schultern und öffnete sie. Ich blieb bei meinen Nelkenzigaretten. Er zündete meine Zigarette an, ich seine.
Sekiguchi legte das Gesicht ein wenig in Falten, als er den Nelkentabak roch. »Diese Dinger riechen jedes Mal wie Weihrauch. Wissen Sie ... noch bin ich nicht tot.« Er inhalierte tief.
»Was meinen Sie damit?«
»Waren Sie früher nicht ein kleiner Mönch? Weihrauch wird bei Beerdigungen verwendet. Sie brauchen ihn nicht jetzt zu rauchen, tun Sie es dann für mich, wenn die Zeit gekommen ist. Kein Grund zur Eile. Aber es wird bald so weit sein.«
»Ist es wirklich so schlimm?«
»Ja, ich bin so früh zu Hause, weil ich gestern eine Chemotherapie hatte. Ich konnte danach nicht arbeiten. Normalerweise gehe ich jeden Tag hin. Was soll ich auch sonst tun? Golf spielen? Die Ärzte sagen, dass mir noch ungefähr ein Jahr bleibt, vielleicht zwei.«
Sekiguchis Krebs hatte sich ausgebreitet. Er hatte ausgerechnet im Appendix begonnen und rasch Metastasen gebildet. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als wäre er geheilt, aber der Krebs war immer noch da und fraß sich unaufhörlich weiter. Als man ihn zum zweiten Mal diagnostizierte, war es viel zu spät.
Wäre Sekiguchi ein mächtiger Gangster wie Tadamasa Goto gewesen, hätte er die beste Behandlung der Welt bekommen. Mehrere Ärzte hätten seine Werte analysiert, ihn untersucht und seine Fortschritte Tag und Nacht überwacht. Er hätte in der Klinik der Tokioter Universität eine ganze Suite für sich allein gehabt. Aber er war nicht Tadamasa Goto, sondern nur ein einfacher Polizist, der nie über den Rang eines Polizeimeisters hinausgekommen war, und er hatte nicht viel Geld.
Er konnte es sich nicht einmal leisten, zu Hause zu bleiben und sich zu erholen. Er musste immer noch jeden Tag zur Arbeit gehen. Selbst in Japan war es teuer, nicht zu sterben.
»Wissen Sie, ich habe endlich aufgehört zu rauchen. Ein wenig spät, aber immerhin hab ich’s getan.«
»Tut mir leid. Ich hätte die Dinger nicht mitbringen sollen.«
»Nein, nein. Eine letzte Zigarette mit Ihnen, das gefällt mir irgendwie. Sogar mit diesen beschissenen Premiumzigaretten. Vielleicht rauche ich eine von Ihren.«
»Bedienen Sie sich.« Ich bot ihm eine an.
Er nahm sie, klopfte damit sanft auf den Tisch, betrachtete sie von oben bis unten, zündete sie an und inhalierte.
»Süß. Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Also, erzählen Sie mir, was es Neues gibt, während ich dieses Ding rauche. Ich hoffe, Sie hatten einen guten Grund, wieder nach Japan zu reisen, andernfalls trete ich Ihnen nämlich in den Arsch. Denn ich halte es für keine gute Idee, so früh zurückzukommen.«
Er hatte recht. Er hatte fast immer recht. Er hatte auch recht gehabt, als wir vor ein paar Monaten im Hotel in Shinjuku das nette Gespräch mit den Abgesandten von Goto geführt hatten. Seither hatte sich viel verändert. Ich hatte im November 2005 bei der Yomiuri gekündigt, etwa einen Monat, nachdem Gotos Leute mich bedroht hatten.
Eigentlich sollte der Goto-Artikel mein letzter Knüller sein, eine Art krönender Abschluss. Aber das hatte nicht geklappt, und ich hatte keine Lust, an einem weiteren Artikel zu arbeiten, der sowieso nicht an prominenter Stelle gedruckt werden würde. Die Yomiuri erlaubte mir, den größten Teil meines ausstehenden Urlaubs zu nehmen, und ließ mich ziehen. Ich hatte gerne für die Yomiuri gearbeitet, aber seit Anfang 2005 forderten die Artikel über den Menschenhandel ihren Tribut, und meine unangenehme Begegnung mit Gotos Leuten genügte, um mich zum Packen zu veranlassen. Die Leute von der Yomiuri waren sehr verständnisvoll, und ich durfte nach meinem Ausscheiden sogar meine Betriebsversicherung behalten.
Also kehrte
ich nach Hause in den Mittleren Westen zurück. Dort meldete ich
mich für einen juristischen Eignungstest an, denn ich wollte Jura
studieren. Ich bemühte mich aufrichtig, ein neues Leben zu führen.
Keine Zigaretten. Keine Trinkgelage bis drei Uhr morgens. Keine
Freunde, die mich nach Mitternacht anriefen. Kein
Herumhängen mit Polizisten, Stripperinnen oder Prostituierten.
Nichts, was gefährlicher war als ein Rasenmäher.
Dann schickte mir mein Kumpel Ken, der für die CIA arbeitete, eine E-Mail. Das amerikanische Außenministerium finanzierte eine umfangreiche Studie über den Menschenhandel in Japan. Er sagte, dass er mich für den Job empfohlen habe, und wollte wissen, ob ich interessiert sei. Ich las die Mail mehrere Male.
Und ich dachte lange darüber nach. Mit Goto hatte ich anscheinend alles geklärt. Wir hatten eine Art Friedensvertrag geschlossen. Trotzdem wollte ich meine Familie nicht mit nach Japan nehmen, denn ich traute diesen Ganoven nicht. Das Angebot hörte sich gut an, und das Gehalt war nicht schlecht. Außerdem konnte ich etwas Gutes tun, vielleicht konnte ich mit ausreichender finanzieller Unterstützung viel mehr tun als bisher. Aber wollte ich wirklich in die Welt des Lasters zurückkehren, die ich hinter mir gelassen hatte?
Ich dachte an meine Zukunftspläne, daran, was ich Sunao versprochen hatte. Dann, ohne vorher mit jemandem darüber zu reden, sagte ich zu.
Ich wusste, dass es falsch gewesen wäre, nein zu sagen. Es war eine Art Pflicht. Vielleicht hätte ich es aber lieber als eine Art Versuchung ansehen sollen.
Also war ich wieder in Japan, bevor das Jahr zu Ende ging, und besuchte erneut die Orte, an denen ich bereits so viel Zeit verbracht hatte. Ich wollte unbedingt Sekiguchi sehen, wahrscheinlich lag mir mehr an seiner Zustimmung als an seinem Rat.
Das alles erzählte ich ihm und er war mit meiner Erklärung zufrieden.
»Sie haben einen Freund bei der CIA? Ich habe schon immer geahnt, dass hinter Ihrem vertrottelten Erscheinungsbild mehr steckt. Aber jedes Mal, wenn ich mit Ihnen rede, verwerfe ich den Gedanken wieder. Nun ja, es ist sicher eine gute Sache, eine wichtige Sache. Und die Bezahlung hört sich gut an. Aber Ihre Familie bleibt in Amerika, oder?«
»Selbstverständlich.«
»Gut. Denn was Sie vorhaben, ist gefährlich. Erlauben Sie mir ein paar Worte zu den Yakuza. Sie dürfen schreiben, was Sie wollen, solange es um Bandenkriege, Tätowierungen oder sexuelle Ausbeutung geht. Aber wenn Sie herausfinden wollen, womit die wirklich ihr Geld verdienen, welche Firmen ihnen gehören, dann begeben Sie sich auf ein gefährliches Pflaster. Machen Sie sich nichts vor – der Menschenhandel ist eine Einkommensquelle für diese Leute. Kinderpornografie. Prostitution. Das alles bringt ihnen große Profite ein. Diesen Leuten geht es nur um Geld, und Ihre Artikel könnten ihnen das Geschäft verderben.«
Ich wollte wissen, ob er glaubte, dass mein »Waffenstillstand« mit Goto halten würde.
»Ich bin ziemlich sicher, dass er von Ihrer Kündigung bei der Yomiuri weiß. Nein, ich bin ganz sicher. Für ihn sind Sie ein ehemaliger Reporter. Sie können jetzt tun, was Sie wollen, solange er nichts davon erfährt. Aber Sie müssen äußerst vorsichtig sein. Tokio ist sein Revier, und Sie laufen ohne Erlaubnis darin herum. Seien Sie sehr, sehr vorsichtig, wenn Sie für Ihren Bericht recherchieren. Achten Sie genau darauf, wen Sie anrufen, wen Sie treffen, was Sie sagen. Kapiert?«
Ich nickte. Während wir weiterplauderten, kam seine Frau mit ihren Töchtern nach Hause.
Wir umarmten uns und unterhielten uns eine Weile. Frau Sekiguchi machte Yakisoba für uns, dann massierte sie ihrem Mann die Beine, die steif wie Bretter waren, wohl eine Nebenwirkung der Chemotherapie.
Nach etwa einer Stunde rief ich ein Taxi. Sekiguchi brachte mich noch zur Tür und bedeutete seiner Frau und seinen Kindern, im Zimmer zu bleiben.
Dann gab er mir die Kiste mit den Zigaretten und die geöffnete Packung zurück und sagte: »Danke, aber genug damit. Doch ich weiß die gute Absicht zu schätzen.«
»Kann ich verstehen. Ich wollte, ich könnte mehr für Sie tun.«
Er schüttelte nur den Kopf und wedelte abwehrend mit den Händen.
»Jake, ich kenne Sie jetzt seit einem Jahrzehnt. Kaum zu glauben, nicht? Sie haben viel erreicht, seit Sie ein naiver kleiner Jungreporter waren. Ich bin stolz darauf, Sie zu kennen. Ich glaube, Sie tun das Richtige, aber Sie müssen vorsichtig sein. Denken Sie auch an die Menschen, die Sie lieben. Wenn Sie sich mit sexueller Sklaverei befassen, treten Sie vielen Leuten auf die Zehen. Manche ziehen sich dann vielleicht zurück ... Melden Sie sich.«
Dann klopfte er mir fest auf die Schulter, wartete, bis ich ins Taxi eingestiegen war, und winkte mir zum Abschied. Seine Frau und die Kinder kamen ebenfalls heraus und winkten mir zu.
Seine Warnung zeigte mir, dass er mich mochte, was mich freute, aber ich war kein unerfahrener Reporter mehr, der den Unterschied zwischen Taschendiebstahl und bewaffnetem Raub nicht kennt. Ich wusste, was ich tat. Das glaubte ich zumindest.