Was geschah mit Lucie Blackman?

Ich musste Tim Blackman in Großbritannien anrufen. Das hatte ich versprochen. Kaum hatte ich ihn an der Strippe, wollte er wissen, was mit seiner Tochter Lucie passiert war. Mr. Blackman hatte die Tokioter Polizei auf der Suche nach Lucie so verärgert, dass niemand mit ihm reden wollte. Die Kripobeamten wussten, dass er alle Informationen an die Presse weiterleiten würde, und das gefiel ihnen nicht. Und er wusste, dass sie ihn nicht auf dem Laufenden halten würden. Er wollte die Informationen von jemandem erfahren, den er kannte, nicht erst aus Zeitungen. Und ich hatte ihm versprochen, ihn anzurufen – jederzeit, bei Tag oder Nacht –, sobald es echte Neuigkeiten gab. Jetzt war es so weit.

Lucie Blackman, seine älteste Tochter, wurde seit dem 1. Juli 2000 vermisst. Damals konnte ich das nicht ahnen, aber der Fall sollte ein bedeutender Punkt in meiner Karriere werden. Unter dem oberflächlichen Lack der leichtlebigen, aggressiven japanischen Sexindustrie lauerte eine ganze Welt aus Verderbtheit und sexueller Ausbeutung, von der ich keine Ahnung hatte. Das Wort »Menschenhandel« gehörte bisher noch nicht zu meinem Vokabular, ja, passte nicht einmal in mein Vorstellungsvermögen. Es dauerte Jahre, bis ich wirklich verstand, was ich da erlebte, als ich nach Lucie suchte.

Lucie, eine Britin, kam am 4. Mai 2000 nach Japan. Sie arbeitete nebenberuflich als Stewardess für British Airways, doch ihre beste Freundin Louise Phillips hatte sie dazu überredet, als Hostess in Japan gutes Geld zu verdienen und sich dabei zu amüsieren. Lucie hatte in der Heimat einige Schulden angehäuft, und als Stewardess war sie ständig müde, weil sie mit dem Jetlag nicht zurechtkam. Ein »bezahlter Urlaub« oder »Arbeitsurlaub« hörte sich daher gut an.

Louises Schwester hatte ein paar Jahre in Japan als Hostess gearbeitet, kannte viele Tricks und wusste, was man dabei verdienen konnte. Lucie und Louise kamen als Touristinnen zusammen in Japan an und nahmen sich sofort eine Wohnung in einem zwielichtigen Gaijin-Haus, einem Apartmentgebäude, in dem die meisten Mieter Ausländer waren. Die Kaution war niedrig, von der üblichen Provision für den Vermieter war keine Rede, und Visa wurden fast nie überprüft.

Gesetzlich ist es zwar verboten, in Japan mit einem Touristenvisum zu arbeiten, aber damals duldeten es die Behörden noch. Die meisten ausländischen Mädchen, die als Hostessen arbeiteten, wurden nach ein paar Wochen darauf hingewiesen, dass sie gegen das Gesetz verstießen – so konnte man sie bei Lohnverhandlungen und allen anderen Gelegenheiten gut unter Druck setzen.

Die große blonde Lucie war überaus attraktiv. Sie und Louise gingen nach Roppongi, einem bekannten Treffpunkt für Ausländer und solche Japaner, die gerne Ausländer kennenlernen wollen. In der wirtschaftlichen Blütezeit der späten Achtzigerjahre war dies eine teure Gegend mit schicken Diskotheken, die 30 Dollar Eintrittsgeld verlangten und strenge Kleidervorschriften hatten. Doch als die Wirtschaft schwächelte, öffneten sich die Türen für den Pöbel, und das Viertel wurde allmählich von billigeren Hostessenkneipen übernommen, von kleinen Nachtclubs, Massagesalons, Bars mit Prostituierten, Bars, in die Angestellte nach Feierabend gingen und in denen sie jederzeit Drogen bekamen, und riesigen Clubs, die den Abschaum der ausländischen Bevölkerung mit billigem Fusel versorgten und keinen Eintritt verlangten. Die klassischen Clubs zogen nach Nishi-Azabu um.

Roppongi ähnelt in vieler Hinsicht Kabukicho, ist aber verwahrloster und voller gaijin. Deshalb heißt das Viertel auch »Gaijin Kabukicho«. Die Polizei hat hier schon längst kein Interesse mehr daran, die Gegend sauber zu halten, denn wenn dort Verbrechen geschehen, sind die Opfer meist Ausländer. Als Lucie ankam, hatte der Abstieg des Viertels gerade begonnen.

Am Neunten arbeiteten Lucie und Louise im »Casablanca«, einem Hostessenclub schräg gegenüber dem »Seventh Heaven«, Roppongis erster Stripbar mit Ausländerinnen. Damals waren noch neun andere Mädchen in diesem Club, und alle außer Louise waren blond. Sie verdienten 5000 Yen (rund 50 Dollar) pro Stunde, hinzu kamen noch Provisionen für die Getränke12 und die Sonderwünsche einzelner Gäste.

Drei Wochen später, am 1. Juli, rief Lucie ihre Freundin aus Shibuya an und sagte: »Ich treffe heute einen Kunden aus dem Club. Er kauft mir ein Handy. Ich bin so aufgeregt.« Am Abend rief sie Louise erneut an und sagte, dass sie sich auf dem Heimweg befinde. Aber sie kam nie zu Hause an.

Am 3. Juli erhielt Louise einen sehr seltsamen Anruf. Ein Japaner, der sich Akira Takagi nannte, behauptete, dass Lucie sich einer Sekte in der Präfektur Chiba angeschlossen habe. »Sie kann jetzt nicht nach Hause kommen, aber machen Sie sich keine Sorgen um sie.«

Natürlich machte sich Louise große Sorgen, daher ging sie zur britischen Botschaft und bat dort um Rat. Dann erstattete sie bei der Polizei von Azabu eine Vermisstenanzeige. Zunächst wollte die Polizei den Fall zwar nicht bearbeiten, aber da die Botschaft unterrichtet war, konnte man das Verschwinden und den rätselhaften Anruf unmöglich ignorieren. Wäre dieser Anruf nicht gewesen, hätte es vielleicht nie richtige Ermittlungen gegeben. Am Neunten beschloss das Dezernat für Mord, Raub und andere Gewaltkriminalität, den Fall zu übernehmen. Von da an lag er nicht mehr in den Händen der lokalen Polizei, sondern war ein Problem des Hauptquartiers.

Etwa um diese Zeit rief mich ein älterer Polizeireporter an. Nishijima, auch Pablo genannt, bat mich um Hilfe bei dieser Story, die noch gar keine echte Story war, denn die Tokioter Polizei hatte noch keine offizielle Stellungnahme abgegeben und die Yomiuri begann gerade erst mit den Nachforschungen. Es war noch sehr wenig über Lucies Verschwinden bekannt. Pablo ermahnte mich, vorläufig noch Stillschweigen zu bewahren.

Ich mochte Pablo sehr. Er war ein guter Reporter und obendrein ein Gentleman. Yamamoto und Pablo waren beide der Tokioter Polizei zugeordnet und schrieben über Gewaltverbrechen und internationale Kriminalität. Pablo war Yamamotos rechte Hand. Er sah nicht aus wie ein Japaner. Denn irgendwo in seinem Stammbaum gab es einen amerikanischen Ahnen, dem er ein beinahe lateinamerikanisches Aussehen verdankte. Einer unserer Kollegen meinte oft scherzhaft, es gebe sogar drei Ausländer in der Abteilung für Inlandsnachrichten: einen Mongolen (Yamamoto), einen Juden (mich) und einen Mexikaner (Pablo).

Am Telefon war Pablo erfrischend ehrlich: »Also, Jake, es sieht so aus, als wärst du reif für einen Wechsel. Das Opfer ist Ausländerin, ebenso alle ihre Freundinnen. Wir brauchen jemanden, der zu ihnen passt und mit Leuten reden kann, die Lucie und ihre Familie kennen. Dieser Mann bist du. Hast du Interesse?«

Selbstverständlich hatte ich Interesse.

Ehrlich gesagt hielt ich den ganzen Rummel damals zunächst für übertrieben. Ich vermutete, dass Lucie eine von den vielen Gaijin-Hostessen war, die mit ihrem Freund oder mit einem reichen alten Knacker nach Thailand oder Bali gereist waren, und nur vergessen hatte, jemandem Bescheid zu sagen.

Trotzdem bat ich um Erlaubnis, meine normalen Pflichten etwas zu vernachlässigen und ein paar Wochen lang der Tokioter Polizei zu helfen. Am 9. Juli, als die Ermittlungen offiziell aufgenommen wurden, ging ich in die Polizeizentrale, wurde hereingewinkt und stieg hinauf in den achten Stock. Pablo und Yamamoto warteten schon auf mich. Misawa, der Vorsitzende des Presseclubs, schlief auf dem Sofa.

Yamamoto war guter Laune und begrüßte mich herzlich. »Jake, lange nicht mehr gesehen. Na, nimmst du noch Heroin?«

»Nein, Yamamoto. Ich verkaufe es nur noch an Schulkinder.«

»Wirklich? Kein Wunder, dass du so dick geworden bist.«

Das stimmte. Nein, natürlich hatte ich weder aufgehört, Heroin zu konsumieren, noch hatte ich es je konsumiert. Aber ich hatte ziemlich zugenommen.

Yamamoto hingegen hatte eine Menge Gewicht verloren. Reporter, die über Mord und Gewaltverbrechen berichten, haben einen sehr anstrengenden Job, und das war wohl die Folge des Stresses. Die Sitte ist auch nicht einfach, aber man wird nur selten mitten in der Nacht wegen einer Festnahme aus dem Bett geklingelt. Sittlichkeitsverbrechen ereignen sich nicht spontan. Das lernte ich im vierten Distrikt. Eine Polizeirazzia in einem Sexclub oder die Beschlagnahme pornografischer DVDs hatten bestenfalls symbolische Folgen für die Gesellschaft, und es handelte sich dabei nicht um Nachrichten, über die man sofort und eingehend berichten musste. Die meisten Aktionen des Sittendezernats schafften es nicht in die Zeitungen, wenn sie überhaupt öffentlich bekannt gegeben wurden. Artikel musste ich zwar trotzdem schreiben, aber mir war bewusst, dass die Arbeit wahrscheinlich umsonst war. Bei Mord und Gewalt ist das anders. In einem Land, in dem es wenig Morde gibt, sind sie fast immer wichtige Nachrichten. Und sie geschehen zu ungewöhnlichen, oft unangenehmen Tageszeiten, man muss sich auch sofort damit befassen. Man sucht unverzüglich den Tatort auf und lässt sich auf
einen knallharten Wettbewerb ein, da jeder aus der sensationellen Geschichte einen Knüller machen will. Ich beneidete Yamamoto nicht um seinen Job.

Pablo schien dagegen ganz in seinem Element zu sein. Er informierte mich mithilfe seiner Notizen rasch über den Sachverhalt. Die Polizei hatte zu diesem Zeitpunkt folgenden Kenntnisstand:

An dem Tag, als Lucie verschwand, hatte man sie zuletzt in einem schwarzen Kostüm mit schwarzen Sandalen und schwarzer Handtasche gesehen. Ihre Brieftasche bestand aus braunem Alligatorleder und war in der Mitte gefaltet. Sie enthielt ein wenig Wechselgeld. Lucie trug ein Halsband mit einem herzförmigen Diamanten und eine quadratische Armani-Armbanduhr. Sie hatte fast anderthalb Jahre lang als Flugbegleiterin für British Airways gearbeitet. Ihr Vater hatte ihr nicht verboten, nach Japan zu gehen. Lucie hatte Geld, und er hatte ihr zusätzliches Geld geschickt. Sie hatte ihren Eltern gesagt, sie werde möglicherweise nach Japan gehen und sich mit Gelegenheitsjobs ein wenig Geld dazuverdienen. Lange wollte sie nicht bleiben.

Die Tokioter Polizei glaubte nicht an die Geschichte mit der Sekte, sondern ging davon aus, dass ein Kunde aus dem Club Lucie entführt und umgebracht hatte. Die Beamten bezweifelten sehr, dass Akira Takagi existierte. Höchstwahrscheinlich hatte der Mörder diese Figur nur erfunden.

Es wurden einige Polizisten des Morddezernats auf den Fall angesetzt, darunter Kripobeamte, die englisch sprachen – oder vorgaben, es sprechen zu können, obwohl sie es nicht konnten – und Erfahrung mit Sexualdelikten hatten. Pablo nannte mir die Namen der zuständigen Beamten. Einen von ihnen kannte ich bereits.

»Also, was soll ich tun?«, fragte ich.

Yamamoto antwortete zuerst. »Wir möchten, dass du mit Leuten im Gaijin-Haus sprichst, in dem sie wohnte, und dich in Roppongi nach Leuten umschaust, die sie gekannt haben, nach allen, die Kunden gewesen sein könnten. Du hast doch sicher einige Freunde dort, oder?«

Eigentlich mied ich Roppongi wie die Pest, und die meisten meiner Freunde waren Japaner. Ich hing lieber in Kabukicho, Shibuya, Ebisu oder sogar Korea-Town herum. Da ich außerdem Sunao
hatte, hatte ich kein Interesse daran, ein Roppongi-Mädchen
aufzugabeln, um ein bisschen Sex ohne Verpflichtungen zu bekommen. Ich nahm auch keine Drogen und hatte kein Faible für großbrüstige ausländische Stripperinnen, Diskos oder teure Restaurants. Und ich hatte keine Lust, mich mit anderen
gaijin zu verbrüdern. Roppongi war also nicht nur Pablo und Yamamoto fremd, sondern auch mir.

Und das sagte ich Yamamoto auch.

Der schüttelte nur den Kopf. »Du bist Amerikaner, aber du gehst nicht nach Roppongi und kennst die Baseballregeln nicht? Dann bist du kein richtiger Amerikaner. In Wirklichkeit bist du ein nordkoreanischer Spion, gib’s zu.«

Pablo warf ein: »Sogar ich gehe ab und zu nach Roppongi, und ich bin Japaner.«

»Pablo-san, du siehst ausländischer aus als ich. Darum nennen wir dich ja auch Pablo. Du gehörst nach Roppongi. Ich bin sicher, dass die philippinischen Mädchen dich lieben.«

»Wirklich, Adelstein? Nun, wenigstens sehe ich nicht wie ein Iraner aus.«

Während Pablo und ich uns noch weiter scherzhaft stritten, zog Yamamoto ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und reichte es mir.

»Wofür ist das denn?«

»Ich gehe nicht oft nach Roppongi«, erklärte er. »Aber ich weiß, dass es ein teures Pflaster ist. Lass dir aber Quittungen geben, wenn möglich.«

Ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte, aber vermutlich war Lucies früherer Club der beste Startpunkt. Als ich dort ankam, hing an der Tür ein Schild »Wegen Renovierung geschlossen«. Kein besonders vielversprechender Start.

Am 12. Juli gab die Tokioter Polizei bekannt, dass sie das Verschwinden von Lucie Blackman untersuche. Die japanischen Zeitungen reagierten zurückhaltend, aber in England erregte der Fall großes Aufsehen.

Ich verbrachte jeden Abend in Roppongi und durchsuchte die Straße nach Leuten, die Lucie kannten. Dabei stellte ich mich so ungeschickt an, dass niemand mit mir reden wollte. Ich war schon so tief in die japanische Kultur eingetaucht, dass es mir schwerfiel, englisch zu sprechen. Wahrscheinlich klang ich wie ein Japaner, der versucht, englisch zu sprechen – oder wie ein Polizist.

So um den 20. Juli 2000 erhielt die Polizei von Azabu einen sonderbaren Brief von Lucie Blackman, der in der Präfektur Chiba abgeschickt worden war, wo Lucie angeblich eine spirituelle Ausbildung machte. Lucie bat darin darum, dass die Polizei und ihre Familie nicht mehr nach ihr suchten. Die Polizei hielt den Brief allerdings für einen dummen Scherz oder für den Versuch des Entführers, die Ermittler auf eine falsche Spur zu lenken. Einer der Beamten, sein Spitzname war Googly (Froschauge), den ich aus dem vierten Distrikt kannte, zeigte mir den Brief und fragte nach meiner Meinung.

Ich sah sofort, dass der Brief von einem Japaner geschrieben worden sein musste und nicht von einem Muttersprachler. Der falsche Gebrauch von a und the sowie der eher steife Stil und die Neigung zu doppelten Verneinungen bewiesen eindeutig, dass der Verfasser Japaner war. Da ich Japaner im Englischen unterrichtet hatte, kannte ich die Eigenarten des japanischen Englischs genau. Das alles erklärte ich Googly, und er schien mir zu glauben.

Am nächsten Tag richtete Tim Blackman eine Hotline ein, um Informationen über Lucie zu sammeln.

Die erste Augustwoche kam und ging. Lucie war mit einem 90-Tage-Visum nach Japan gekommen. Wenn sie noch in Japan war, galt sie jetzt als illegale Ausländerin.

Nun reiste Tim Blackman nach Japan, was einen riesigen Medienrummel zur Folge hatte. Auf einer Pressekonferenz in der britischen Botschaft setzte er eine Belohnung von 1,5 Millionen Yen (etwa 15 000 Dollar) für Hinweise aus, die zur Rettung oder Entdeckung von Lucie führten. In der Zwischenzeit deckte die Polizei die wahre Identität des mysteriösen Akira Takagi auf. Aber wo Lucie sich aufhielt, wusste sie immer noch nicht.

Am 1. September war Lucies Geburtstag, es war ihr 22.

Auch ich hatte noch nicht viel Konkretes über Lucie erfahren. Das Einzige, was vielversprechend klang, waren Informationen über einen Mann namens Yuji. Er hatte langes, grau gesprenkeltes Haar und war ein häufiger Gast in den Clubs von Roppongi, Akasaka und Ginza, die ausländische Hostessen anboten. Er war immer gut gekleidet, gab in jedem Club, den er besuchte, eine Menge Geld aus und bevorzugte Blondinen. Aber niemand hatte Yuji seit Ende Juni gesehen, niemand hatte seine Visitenkarte und niemand hatte ein Foto von ihm.

Um Informationen über Lucie zu sammeln, musste ich mich ins Nachtleben von Roppongi stürzen und durfte mich nicht als Reporter zu erkennen geben. Da viele Ausländer dort illegal arbeiteten, trauten sie weder Polizisten noch Journalisten. Also musste ich mir eine falsche Identität überlegen.

Ich konnte schwerlich so tun, als sei ich ein superlässiger, cooler Gaijin-Bursche/DJ/Englischlehrer, der in Roppongi nach Beute suchte. Denn dafür war ich nicht der Typ. Bestenfalls konnte ich hoffen, als gut bezahlter, etwas schmieriger ausländischer Geschäftsmann durchzugehen. Da es von dieser Sorte viele gab, war es nicht besonders schwierig, sie zu imitieren. Ich besorgte mir also einen besseren Anzug, nahm meine Krawatte ab und plauderte mit den Mädchen in den Bars, ohne zu viele Fragen zu stellen.

Ich legte mir einen falschen Namen zu und wählte als Beruf Versicherungssachverständiger. Zudem ließ ich mir falsche Visitenkarten drucken, kaufte ein zweites Handy und verbrachte jedes Wochenende mit dem Abschaum von Roppongi, um jemanden zu finden, der Lucie oder den Kunden kannte, der mit ihr ans Meer gefahren sein könnte.

Die Informationen über Yuji gab ich weiter an meinen Chef und Googly. Dann überlegte ich, ob ich Pablo meinen Informanten nennen sollte, entschied mich aber dagegen. Denn die Namen von Informanten muss man einfach für sich behalten.

Ich besaß noch eine andere nützliche Information: Yuji besuchte regelmäßig ein Lokal namens »Club Codex«. Also beschloss ich, diesen unter die Lupe zu nehmen. Der Geschäftsführer war ein Japaner namens Slick.

Kaum hatte ich den »Club Codex« betreten, da spürte ich schon, dass dort irgendetwas anders war. Auf den ersten Blick schien es ein typischer Hostessenclub zu sein mit gedämpftem Licht, künstlichen Topfpflanzen, Samtsofas und Tischen sowie Kristallkaraffen mit Whiskey und Wasser. Aber die Gäste kamen mir etwas schmuddeliger vor als die meisten anderen, und die osteuropäischen Frauen schienen sich dort nicht wohlzufühlen. Ihr Lächeln wirkte gezwungen, und sie schienen ängstlich. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, was sich im Club abspielte. Erst später sollte ich es erfahren. Als ich beiläufig den Namen »Yuji« erwähnte, wurde ich sofort aufgefordert, das Haus zu verlassen. Das war für mich eine Bestätigung dafür, dass Yuji dort gewesen war und dass die Leute im Club wussten, dass man ihn suchte. Und noch etwas erfuhr ich während meines Besuchs: Das estnische Mädchen, das mit mir geplaudert hatte, sagte: »Yuji? Meinst du Georgie?« Georgie? Yujie? Hatte der Kerl verschiedene Decknamen? Ich wusste es nicht.

Ich kann nicht sagen, ob die Polizei mit Slick in Verbindung trat, nachdem ich meine Informationen an die Beamten weitergegeben hatte, oder ob Slick zur Polizei gegangen war. Auf jeden Fall erzählte Slick der Polizei einige interessante Dinge.

Vor einigen Jahren hatte Yuji, der die Bar häufig besuchte, eines von Slicks Mädchen vergewaltigt. Er hatte sie zu einer Fahrt an die Küste eingeladen und dann nach Izu Marina in Yokohama gebracht. Schließlich hatte er sie in sein Apartment in Zushi gelockt, ihr Wein mit einer Droge eingeflößt und sie missbraucht. Natürlich war sie wütend und wollte zur Polizei gehen. Doch das hatte ihr Slick offenbar ausgeredet. Er hatte Yuji nach diesem Vorfall zwar nicht verboten, den Club zu betreten, hatte aber die Mädchen vor ihm gewarnt. Die Informationen von Slick halfen der Polizei ein gutes Stück weiter.

Ein weiterer Name, der in Gesprächen immer wieder genannt wurde, war Joji Obara. Das war ein reicher, 48-jähriger Immobilieneigentümer und Bauträger, ein häufiger Gast in Roppongis Clubs mit ausländischen Hostessen. Er ähnelte Yuji wohl sehr. Auch davon
erzählte ich der Polizei, und dort war Joji bereits bekannt.

Am 1. Oktober stand Obara eindeutig unter Verdacht und am
12. Oktober nahm die Polizei ihn wegen sexueller Nötigung in einem anderen Fall fest.

Die Pressemitteilung war kurz und prägnant:

»Im Laufe der Ermittlungen kamen mehrere Tätlichkeiten gegen Ausländerinnen ans Licht. In diesen Fällen lud der Täter die Frauen zu einer Fahrt ans Meer ein, verabreichte ihnen später Alkohol mit Drogen und vergewaltigte sie dann. Wir konnten den Täter am Zwölften dieses Monats identifizieren und verhaften.

Die Anwendung von Drogen, um meist ausländische Frauen zu betäuben und dann zu missbrauchen, ist ein sehr schweres Verbrechen. Die Vorgehensweise ähnelt sehr den Umständen, unter denen Lucie Blackman verschwand.

Dieser Fall ist im In- und Ausland von großer Bedeutung, daher wurde die ursprüngliche Ermittlungskommission erweitert. Ihr gehören nunmehr über 100 Beamte an.

Der Verhaftete ist der leitende Angestellte Joji Obara, 48 Jahre alt.

Er wurde wegen sexueller Nötigung einer wehrlosen Person festgenommen und wird beschuldigt, im März 1996 eine damals 23-jährige Ausländerin sexuell missbraucht zu haben. Er traf diese Frau in einem Hostessenclub im fünften Bezirk von Roppongi, überredete sie zu einer Fahrt ans Meer und brachte sie in seine Wohnung in der Präfektur Kanagawa. Dort gab er ihr Alkohol, sodass sie für mehrere Stunden das Bewusstsein verlor, und vergewaltigte sie.«

Nach dieser Pressemitteilung gab es eine sehr kurze Pressekonferenz mit diesem Verlauf:

Konferenzleiter: »Wir wissen noch nicht, ob Obara etwas mit Lucie zu tun hat. Aber die Vorgehensweise – Frauen ans Meer mitzunehmen – ist ähnlich. Wir müssen unsere Ermittlungskommission auf etwa 100 Beamte aufstocken, da es aufgrund der großen Anzahl von möglichen Zeugen umfangreiche Ermittlungen geben wird.«

F: »Wie viele weitere solche Fälle gibt es?«

A: »Mehrere. Einige Frauen haben sich gemeldet. Wenn wir die Ermittlungen ausdehnen, wird es möglicherweise zu Anzeigen kommen.«

F: »Waren alle Opfer Ausländerinnen?«

A: »Einige waren Japanerinnen. Sie überlegen noch, ob sie Anzeige erstatten sollen.«

F: »Sind alle von ihnen Hostessen?«

A: »Zum damaligen Zeitpunkt waren sie es.«

F: »Wie viele Gegenstände wurden beschlagnahmt?«

A: »Einige tausend. Etwa ein LKW voll. Die genaue Zahl kenne ich nicht.«

F: »Worum handelt es sich dabei hauptsächlich?«

A: »Um Bücher, die ihn möglicherweise angeregt haben. Einige Dokumente und Videos. Hier geht es nicht nur um ein Sexualdelikt, wir haben es mit einer Serie von Straftaten zu tun. Vergessen Sie das nicht.«

F: »Um welche Drogen handelt es sich?«

A: »Schlafmittel wurden gefunden.«

F: »Halcion?«

A: »Das und andere.«

F: »Wo hat man sie gefunden?«

A: »In einigen seiner Wohnungen.«

F: »Wie groß ist die Ermittlungskommission?«

A: »Etwa 100 Beamte.«

F: »Wer sind die leitenden Beamten?«

A: (Er nennt vier Beamte.)

F: »Wer sind die Abteilungsleiter?«

A: (Er nennt vier Beamte.)»Sie sehen also, dass wir uns wirklich sehr bemühen.«

F: »Befindet sich der Hauptsitz der Kommission im Polizeirevier von Azabu?«

A: »Ja. Die beschlagnahmten Gegenstände sind bei dem Tokioter Polizeidepartment. Azabu ist für die Ermittlungen zuständig.«

Googly charakterisierte Obara wohl am besten: »Er ist ein kranker Dreckskerl.«

Später erklärten die Ermittler: »Schon 1973 hat Obara wiederholt Frauen in seine Wohnung in Zushi gelockt und ihnen Getränke gegeben, in die er Drogen gemischt hatte, die zu Schläfrigkeit oder Bewusstseinsstörungen führten. Dann hat er sie vor einer Videokamera missbraucht. Er bezeichnet das als Unterwerfungsspiele.«

Der Fall eines der ersten bekannten Opfer ist ein typisches Beispiel für Obaras Verbrechen. Der Staatsanwalt beschrieb ihn in einem Prozess folgendermaßen:

Beziehung zwischen dem Angeklagten und dem Opfer:

Das Opfer in diesem Fall kam am 20. Februar 1998 nach Japan und wohnte im Bezirk Shibuya in Tokio. Die Frau arbeitete nebenberuflich als Hostess in Roppongi im Bezirk Minato.

Der Angeklagte traf das Opfer Anfang März desselben Jahres, als er den Club besuchte, in dem sie arbeitete, und wurde von ihr bedient.

Tathergang:

Der Angeklagte sagte zum Opfer: »Ich habe eine Wohnung am Strand gleich außerhalb von Tokio, dort können wir hinfahren. Dann koche ich etwas für dich. Lass uns doch das Wochenende dort verbringen.« Am 31. März gegen Mittag traf er das Opfer vor dem Hotel »Aksasaka Tokyu« und fuhr mit ihm zu seiner Wohnung in Zushi, wo er es mit dem Meer als Hintergrund filmte.

Danach gingen die beiden in sein Apartment im Gebäude Nr. 3 in Izu Marina. Die Zimmernummer war 4314. Nachdem die beiden im Wohnzimmer Meeresfrüchte gegessen hatten, sagte der Angeklagte zum Opfer: »Ich habe hier Wein aus philippinischen Kräutern«, und goss ihr ein Glas ein. Das Getränk enthielt ein Schlafmittel. Das Opfer nahm einen Schluck und verlor langsam das Bewusstsein.

Der Angeklagte trug das bewusstlose Opfer ins Schlafzimmer und legte es rücklings auf das Bett. Nachdem er der Frau die Hose und die Unterwäsche ausgezogen hatte, legte er ihr ein feuchtes Tuch auf den Mund, das er vorher mit einer Droge getränkt hatte, und verlängerte dadurch die Bewusstlosigkeit. Danach vergewaltigte er sie und nahm die gesamte Tat auf Videoband auf.

Situation nach der Tat:

Am nächsten Abend, dem 1. April, kam das Opfer auf dem Bett langsam wieder zu Bewusstsein. Die Frau war nur mit einem Bademantel bekleidet, litt an starken Kopfschmerzen und Übelkeit und fühlte sich benommen. Da sie zu schwach zum Gehen war, kroch sie ins Badezimmer und erbrach sich in die Toilettenschüssel.

Um das Verbrechen zu verschleiern, sagte der Angeklagte zum Opfer: »Du bist schon seltsam. Du hast eine ganze Flasche Wodka ausgetrunken und dann alles auf deine Kleider gekotzt. Darum musste ich dich ausziehen und waschen.« Dann spielte er ihr ein Band vor, auf dem zu hören war, dass jemand sich wusch und sie stöhnte.

Danach fuhr der Angeklagte die Frau nach Hause. Während der Fahrt musste sie sich zweimal übergeben. Der Angeklagte sagte zu ihr: »Du kannst sicher zwei oder drei Tage lang nicht im Club arbeiten. Lass mich für diese Fehlzeiten bezahlen.« Dann gab er ihr 60 000 Yen für drei Arbeitstage.

Da dem Opfer noch lange schlecht war, erschien es vom 1. bis zum
4. April, also vier Tage lang, nicht zur Arbeit.

Verlauf der Ermittlungen:

Die Frau kannte weder den Namen noch die Anschrift des Angeklagten und wusste nicht einmal, dass sie vergewaltigt worden war, weil sie das Bewusstsein verloren hatte. Anfang Juli 2000 traf sie eine Bekannte, die in Tokio ein Restaurant führt. Diese erzählte ihr von einer vermissten Britin, die vor ihrem Verschwinden erklärt hatte, sie wolle einen ihrer Kunden treffen, der ihr eine Fahrt ans Meer angeboten habe. Damals erzählte das Opfer ihrer Bekannten: »Vor einiger Zeit hat mich ein Mann namens Kazu ans Meer eingeladen, und ich ging mit ihm. Er gab mir irgendeine Droge, und ich habe das Bewusstsein verloren.« Nachdem sie alles genau berichtet hatte, riet ihre Bekannte ihr, zur Polizei zu gehen.

Am 9. August 2000 suchte das Opfer das Polizeirevier Azabu auf und schilderte den Tathergang. Am 13. August identifizierte das Opfer ein Foto des Angeklagten, und am 29. wurde dieser wegen sexueller Nötigung einer wehrlosen Person angeklagt, obwohl die genauen Umstände der Tat noch ungewiss waren.

Am 12. Oktober 2000 wurden Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen angeordnet. Unter den vielen Videobändern des Angeklagten befand sich auch eine Aufzeichnung, die den Tathergang verdeutlichte. Am 23. unterrichtete ein Vertreter der Tokioter Staatsanwaltschaft das Opfer über die Einzelheiten des Verbrechens. Damals bestätigte sich zum ersten Mal, dass es sich bei der Tat um die sexuelle Nötigung einer wehrlosen Person gehandelt hatte. Am selben Tag klagte die Staatsanwaltschaft von Tokio den Täter wegen sexueller Nötigung einer wehrlosen Person an.

Dieses Verbrechen hat er angeblich mehr als 100 Mal begangen.13

Nach dem 16. Oktober gab es jeden Tag mehr Beweise dafür, dass Obara ein Serienvergewaltiger war und auch etwas mit Lucies Verschwinden zu tun hatte. Nachdem Lucie verschwunden war, tauchte Obara in einer Wohnung in Miura auf, die er seit Jahren nicht benutzt hatte. Seine Hände waren mit Zement bedeckt. Er weigerte sich, den Hausmeister in sein Zimmer zu lassen. Dann wurde er dabei erwischt, wie er versuchte, das Schloss am Apartment des Hausmeisters auszutauschen – er hatte es mit seinem eigenen Apartment verwechselt. Außerdem wurde er an einem nahegelegenen Strand mit einer Schaufel gesehen.

Da das Ganze dem Hausmeister äußerst seltsam vorkam, ging er zur Polizei. Als die zur Wohnung kam, wollte Obara sie nicht hereinlassen. Wahrscheinlich hätten Beweise gefunden werden können.

Natürlich fragten sich viele Leute, warum die Polizei Obaras Wohnung damals nicht durchsucht hatte. Dafür gab es keine vernünftige Erklärung.

Im Oktober, vor seiner Verhaftung, kaufte Obara ein teures Motorboot, ohne es vorher besichtigt zu haben. Die Tokioter Polizei ging davon aus, dass er mithilfe des Bootes Beweise beseitigen wollte, die ihn mit dem Verbrechen in Verbindung brachten.

Die Polizei untersuchte die Drogen, die sie schließlich in Obaras Wohnung gefunden hatte. Es waren verschiedene Schlafmittel, die er wahrscheinlich dazu verwendet hatte, nicht nur Ausländerinnen, sondern auch Japanerinnen sexuell zu missbrauchen. Sobald sich herausstellte, dass sich unter den Opfern auch Japanerinnen befanden, nahm der Medienrummel zu.

Der erdrückendste Beweis waren die Videobänder. Die Polizei fand mehr als 100 VHS-Videobänder und 8-mm-Schmalfilme, auf denen Obara Frauen, meist aus dem Westen, missbrauchte. Sie waren in seinem Haus im Distrikt Setagaya und in seiner Eigentumswohnung in Zushi in der Präfektur Kanagawa gefunden worden. Alle
Frauen waren offenbar bewusstlos und konnten sich nicht gegen
Obara wehren.

Lucie war allerdings auf keinem Band zu sehen. Die Bänder waren chronologisch geordnet, doch aus der Zeit, als Lucie verschwunden war, gab es keine Bänder. Ende Oktober klagte der Tokioter Staatsanwalt Obara wegen des ersten von vielen Verbrechen an.

Doch Obara schwieg, was keine große Überraschung war. Denn der Mann hatte an der Universität Keio Jura studiert, kannte das Gesetz und wusste, wie die Polizei arbeitete.

Obara bestritt, Lucie gekannt zu haben, und behauptete, alle Opfer seien bezahlte Prostituierte gewesen, die mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden gewesen seien.

Wichtig war nun vor allem, herauszufinden, ob jemand vielleicht Obara und Lucie zusammen gesehen hatte.

Und das sollte meine Aufgabe sein. Wenn wir einen Zeugen auftreiben konnten, dann hatten wir nicht nur eine gute Schlagzeile, sondern wir konnten auch der Polizei einen Handel anbieten.

Yamamoto glaubte fest daran, dass ich auf eine Spur stoßen würde.

»Adelstein«, sagte er und klopfte mir dabei auf die Schulter, während wir an der Theke einer Bar in Roppongi saßen, »kennst du das Sprichwort ›ja no michi wa hebi‹?«

»Ja, ich glaube, das bedeutet: ›Die Schnecke kennt die Schlange.‹«

»Genau. Du bist ein gaijin, das Opfer ist eine gaijin, die Familie des Opfers ist gaijin, und die Zeugen sind es vermutlich auch. Obara ist wahrscheinlich Halbkoreaner, also ebenfalls ein gaijin. Darum bist du genau der richtige Reporter für diesen Fall. Bring mir etwas Brauchbares.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

»Tu nicht dein Bestes, benutze lieber dein Hirn. Die Ergebnisse sind entscheidend, nicht die Anstrengung. Ich schätze es natürlich, wenn du dich bemühst, aber was zählt, sind die Resultate.«

»In Ordnung, dann werde ich mich eben nur halbherzig mit der
Sache befassen, aber etwas Interessantes rausfinden.«

»Gut so.«

Er bestellte mir noch einen Drink und brach dann auf, um einen Kripobeamten zu Hause zu erwischen.

Ich hatte inzwischen mehrere Wochen damit verbracht, Hostessen- und Stripclubs in Roppongi zu besuchen. Anfangs war es irgendwie aufregend und amüsant. Genügend Alkohol und Pheromone ließen mich oft fast vergessen, dass der Grund meiner Recherchen tragisch und düster war. Nacktheit, sexy Tänzerinnen, Flirts, Alkohol, der Geruch nach Schweiß und Parfüm, der Kontakt mit Frauen, die ich mir normalerweise nie hätte leisten können – und die Yomiuri zahlte dafür. Das war nicht schleckt.

Aber nach einer Woche ließ der Reiz nach. Ich bemerkte die Falten unter den Augen der Frauen, erfuhr ihre Lebensgeschichten, sah die Blutergüsse an ihren Armen. Und ich hörte, wie die japanischen Geschäftsführer über diese Frauen wie über Vieh redeten. Da ich gut zuhören konnte, erzählten die Mädchen mir nach und nach, wie das System wirklich funktionierte. Sie hatten keinerlei Freude an ihrem Beruf, und viele betrachteten ihre Kunden nur als Feinde, als Gauner, die sie melken mussten. Da war keine Rede mehr von Spaß.

Meine Tochter Beni wurde im September dieses Jahres geboren, und ich wäre viel lieber zu Hause gewesen und hätte mich mit Sunao um die Kleine gekümmert. Stattdessen verbrachte ich jede Nacht in schmierigen, schummrigen Bars. Sunao wusste, wohin ich ging, und sie kannte meinen Job. Darum machte sie sich keine großen Sorgen. Sie war ja selbst Journalistin gewesen und wusste, dass sie als Frau eines Shakaibu-Reporters im Großen und Ganzen eine alleinerziehende Mutter sein würde.

Ich fuhr mehrere Male ins »Outline«.14 Obara war dort ein häufiger Gast gewesen, und der Eigentümer besaß ein Foto von ihm, das fast 20 Jahre alt war. Ich verschwieg nicht, dass ich Reporter war, denn mir war klar, dass er es merken würde. Aber er ließ mich dennoch mit den Frauen reden, solange ich dafür bezahlte. Einige Frauen kannten Obara, und einige kannten auch Lucie. Da Lucie groß und freundlich war, war sie in dem kleinen Gebiet von Roppongi bekannt. Man mochte sie. Ich fand sogar ein Mädchen, das sowohl Obara als auch Lucie kannte, aber niemand hatte beide je zusammen gesehen. Dennoch ließ mein Chef nicht locker, ich musste jemanden finden, der eine Verbindung zwischen ihnen herstellen konnte, dann hatten wir einen Knüller.

Der Geschäftsführer des »Outline« berichtete, dass Obara immer einen Leibwächter dabei gehabt habe, wenn er den Club besucht habe, einen kleinen, stämmigen Schlägertypen, der zugleich auch sein Fahrer gewesen sei. Die Mama-san sagte, dass Obara und sein Bodyguard sich sehr ähnlich gesehen hätten, Obara aber längeres, grau meliertes Haar gehabt habe. Sie fügte noch hinzu, dass Obara ein koreanisches Gesicht gehabt habe.

»Wie sieht ein koreanisches Gesicht aus?«, fragte ich.

Obaras Gesicht sei eher rechteckig als rund gewesen, meinte sie. Er habe nicht viel geredet und irgendwie melancholisch ausgesehen. Das war nicht gerade sehr hilfreich.

Als Nächstes ging ich in den Club »Seventh Heaven«, denn ich hielt es für möglich, dass Lucie sich dort mit einigen Mädchen angefreundet hatte, da es damals noch nicht so viele Ausländerinnen gab, die in Roppongi arbeiteten.

Der Club sah im Wesentlichen wie die meisten Stripclubs in Roppongi aus. Es gab eine kleine, runde, leicht erhöhte Holzbühne mit einer Stange und einem Vorhang dahinter. Der Raum war sehr dunkel. In die Decke hatte man Lautsprecher eingebaut. Sitzgruppen mit Sofas waren um die Bühne herum angeordnet. Ganz links befand sich der Bereich für private Tänzer, verhüllt von einem dicken Vorhang. Dort gab es auch drei Nischen mit Sesseln ohne Armlehnen.

Während eines Privattanzes sitzt der Kunde, und das Mädchen lässt auf seinem Schoß die Hüften kreisen, solange ein Lied läuft – für 7000 Yen. Vielleicht kitzelt sie dem Kunden das Ohr mit der Zunge oder betastet seine Genitalien. Mehr aber nicht. Er darf ihre Brüste anfassen und, wenn er ein regelmäßiger Kunde ist oder für mindestens drei private Tänze bezahlt hat, auch an ihren Brustwarzen
saugen.

Ein Mädchen namens Mindy unterhielt sich gerne mit mir. Sie war die einzige Rothaarige im Club. Ich bezahlte ein paar Getränke für sie, und während sie auf meinem Schoß saß, flüsterte sie mir Neuigkeiten ins Ohr. An diesem Abend waren kurz vor Öffnung des Clubs zwei Kripobeamte da gewesen und hätten dem Geschäftsführer ein Schwarzweißfoto gezeigt. Auf dem Bild seien zwei Männer gewesen, und der eine habe dem anderen den Arm um die Schulter gelegt. Den Mann in der Mitte habe man gut sehen können, aber das
Gesicht des anderen sei nicht auf dem Foto gewesen.

Die Polizei hatte den Geschäftsführer gefragt, ob er den Mann kenne, und er habe das bejaht. Den Rest des Gesprächs hatte Mindy nicht gehört. Aber der Mann war Obara.

Die Yomiuri wollte natürlich mehr Informationen haben.

Aber die waren nicht leicht zu bekommen. Die meisten Frauen mochten Reporter nicht. Eine sehr attraktive potenzielle Informantin nannte mich sogar »Arschloch«.

Am Abend des 14. Oktobers probierte ich eine neue Taktik aus. Da ich als Kunde kaum weiterkam, brauchte ich jemanden, vor dem die Mädchen weniger Angst hatten. Darum rief ich Kristin an, ein großes, vollbusiges, blondes Mädchen aus Montana, und bat sie, mir zu helfen. Sie war mit meinem besten Freund aus College-Zeiten verheiratet und freute sich darauf, Detektivin spielen zu dürfen. Wir trafen uns noch am selben Abend in Roppongi nach dem Englischunterricht, den sie gab.

Und so sah unser Plan aus: Kristin sollte sich als Hostess oder Stripperin bewerben, und ich würde ihren Freund spielen. Meinem Ressort bei der Zeitung ging langsam das Geld aus, aber wenn wir die Clubs besuchten, um »Vorstellungsgespräche« zu führen, dann brauchten wir nichts zu bezahlen und bekamen vielleicht trotzdem nützliche Informationen.

Mindy saß allein an einem Tisch, als wir den »Seventh Heaven« betraten. Der Geschäftsführer ließ uns im Club warten, während er seinen Chef anrief. Sie suchten ständig neue großbusige, blonde Frauen, und Kristin entsprach genau den Anforderungen.

Kaum hatten wir uns gesetzt, da kam Mindy zu uns und fragte mich: »Na, wer ist denn deine hübsche Freundin? Ich bin Mindy.«

»Ich bin Kristin«, antwortete meine Begleiterin. »Ich möchte vielleicht hier arbeiten. Wie ist es denn so?«

»Na ja«, meinte Mindy, »wenn du Männer magst, ist es ein guter Job. Gut bezahlt. Aber die ganze Zeit nur Männer, Männer, Männer. Mit der Zeit wird es etwas langweilig. Männer sind so hart, so kalt.«

Während Mindy über die Kälte der Männer klagte, strichen ihre Hände über Kristins Knie und dann hinauf zu ihren Brüsten, die sie behutsam knetete. Dann beugte sie sich vor, und ihre Lippen näherten sich Kristins Hals. In diesem Moment zog ich hinten kräftig an Mindys BH und ließ ihn zurückschnappen. Sofort ließ sie von Kristin ab, die sich offenbar sehr unwohl fühlte.

»Warum tust du das?« Mindy starrte mich an und schob schmollend die Unterlippe vor. »Ach so, du bist eifersüchtig. Du willst mich nicht mit deiner Freundin teilen. Na gut, dann mache ich für dich einen ganz besonders langen Privattanz, damit du weißt, dass du immer noch einen Platz in meinem Herzen hast.«

»Heute Abend bin ich nicht wegen eines privaten Tanzes hier.«

Mindy legte einen Arm um Kristins Schulter, spielte mit ihrem Haar und sagte: »Ich hätte auch nichts gegen einen Privattanz für eine Frau.« Kristin sah Mindy eine Sekunde lang an, dann musste sie lachen. Ich bot Mindy an, dass ich vier private Tänze bezahlen würde und sie einfach dasitzen und sich die Nägel anmalen dürfe, wenn sie mir Obaras Foto beschaffen könne. Ihre Augen leuchteten auf.

Kirstin bemerkte, dass Mindy eine mit Diamanten besetzte Rolex
am Handgelenk trug. Die habe ihr ein Kunde geschenkt, erklärte Mindy.

»Ihr glaubt gar nicht, was für ein Arschloch dieser Kerl ist. Nur weil er mir eine schicke kleine Armbanduhr geschenkt hat, glaubt er, dass dieser süße kleine Po ihm gehört. Da täuscht er sich aber gewaltig.«

Mindy hatte schon einiges getrunken, bevor wir gekommen waren, und ich glaube, der Teil ihres Gehirns, der als Türsteher für ihren Mund diente, war längst eingeschlafen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Kristin da war, auf jeden Fall hielt sie uns einen Monolog über Hostessen und Stripperinnen und was die von ihren Kunden hielten. Das klang alles nicht sehr gut.

Anschließend gingen Kristin und ich ins »Sports Café«. Black Jack, der nigerianische Türsteher, war mit Lucie befreundet gewesen und fragte mich jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeiging, ob es etwas Neues gab. Er wusste, dass ich Reporter war, behielt es aber für sich. Black Jack gab mir ein paar Rabattkarten für den Club »Private Eyes«. Kristins Freundin Dorcy schloss sich uns an, und wir gingen alle hinein und bestellten Getränke.

Dorcy ging zur Damentoilette ab, die sozusagen der Treff im Club war – denn alle gingen dorthin. Einige Mädchen schnüffelten in den Kabinen Kokain. Dorcy plauderte dort mit Jesse, einer Australierin, die mit Tätowierungen bedeckt war. Sie hatte zwei Fotos von Obara gesehen, beide in den Händen von Polizisten. Sie kannte Lucies Exfreund Nick und gab Dorcy seine Anschrift.

Er wohnte an der Ecke neben einer Buchhandlung, die seit Langem geschlossen war, und verteilte Prospekte für einen Nachtclub, in dem hinter der Theke Ecstasy verkauft wurde. Ich fragte ihn, wann er Lucie zum letzten Mal gesehen habe.

Mit starkem australischen Akzent antwortete er: »Sie müssen Reporter sein. Wenn Sie etwas über Lucie erfahren wollen, dann lassen Sie Bares rüberwandern.«

Ich gab ihm also 5000 Yen und zeigte ihm die Phantomzeichnung von Obara. Aber er erkannte ihn nicht. Ich erzählte ihm, dass ich Geld für ein Foto von Obara zahlen würde, und ging zurück in den »Seventh Heaven«.

Layla, eine schwedische Studentin, die an der Sophia University Japanisch studierte, verteilte Handzettel für den Club. Ich hatte sie bei einem Treffen ehemaliger Studenten kennengelernt, daher wusste sie, dass ich Reporter war. Mit ihrer Größe von 1,80 Meter und dem langen, platinblonden Haar war sie nicht zu übersehen. Sie arbeitete nicht als Stripperin, sondern als Kellnerin, und manchmal lockte sie auch Kunden in den Club. Sie gab mir eine Liste der Clubs, die die Polizei an diesem Tag aufgesucht hatte. Da Layla japanisch sprach und genau darauf achtete, was die anderen Mädchen sagten, war sie eine sehr ergiebige Quelle.

Ich dankte ihr für die Liste, und sie winkte mich in ein kleines Café in der Nähe.

»Jake«, sagte sie, »eine Menge Leute wissen schon, dass du Reporter bist. Sei vorsichtig. Die Leute kennen dein Gesicht. Warst du übrigens schon im ›Club Codex‹? Ich habe gehört, dass eines der Opfer dort gearbeitet hat.«

Dann nannte sie mir noch einen Namen: Melissa. Melissa hatte mit Lucie im Club gearbeitet. Layla hatte sich lange mit ihr unterhalten und erzählte mir nun, was sie dabei erfahren hatte.

Melissa hatte gesehen, wie Lucie eine Woche vor ihrem Verschwinden im »Club Casablanca« mit einem langhaarigen Mann gesprochen hatte. Der Mann hatte sehr reich ausgesehen, hatte teuren Brandy und Champagner bestellt und sich fast drei Stunden lang überaus freundlich mit Lucie unterhalten. Er hatte bar bezahlt.

Offenbar hasste er es, wenn man japanisch mit ihm sprach, denn dann zog er eine schreckliche Grimasse. Er zog es wohl vor, englisch zu sprechen.

Die Polizei hatte Melissa mehrere Male nach diesem Kunden und seiner Beziehung zu Lucie gefragt. Melissa arbeitete jetzt nicht mehr in Roppongi. Da sie nicht das richtige Visum hatte, fürchtete sie, nachdem die Polizei sie vernommen hatte, abgeschoben zu werden, wenn sie nicht vorsichtig war.

Ich dankte Layla überschwänglich, denn jetzt wusste ich, was auch die Polizei wusste: Lucie und Obara hatten einander getroffen, und es gab Zeugen dafür. Er würde es also nicht bestreiten können. Ich rief sofort Yamamoto an und berichtete ihm davon. Meine Informationen reichten immerhin für eine große Schlagzeile, was genügte, um meine enormen Ausgaben in Roppongi zu rechtfertigen. Der Artikel verärgerte natürlich die Polizei, die Obara hatte überraschen wollen. Die anderen Zeitungen berichteten etwa eine Woche später darüber.

Als ich um drei Uhr morgens nach Hause kam, schrie sich Beni die Seele aus dem Leib. Sunao sah völlig erschöpft aus. Sie hielt Beni im Arm und ging hin und her, um sie zu beruhigen. Also nahm ich ihr Beni ab und hielt sie in den Armen, während ich mir vorsichtig auf dem Stepper die Beine vertrat und der Ghettoblaster leise die größten Hits von U2 spielte. Bald begann Beni zu gähnen und schloss die Augen. Sie hatte immer noch kein einziges Haar, und ihre Augen waren derart geschwollen, dass man nur ihre schwarzen Pupillen sah, aber das war mir egal. Sie war mein eigenes Fleisch und Blut.

Während ich sie so im Arm hielt, musste ich an Tim und Jane Blackman denken. Auch sie hatten bestimmt ähnliche Erinnerungen an Lucie.

Dann wanderten meine Gedanken zu Obara und ich bekam Magenschmerzen. Jetzt, da ich selbst ein Kind hatte, nahm mich diese Geschichte noch mehr mit, was für einen Reporter nicht gerade gut ist. Denn wenn einem solche Fälle zu nahe gehen, werden sie zu einer Belastung.

Nachdem ich Beni neben Sunao auf den Futon gelegt hatte, rief ich noch Dai Davies an, einen Privatdetektiv, den die Blackmans damit beauftragt hatten, nach Lucie zu suchen. Er erzählte mir, dass die Polizei Mr. Blackman um eine Handschriftprobe seiner Tochter gebeten habe. Offenbar war die Polizei immer noch dabei herausfinden, wer ihr den gefälschten Brief geschickt hatte, um von der richtigen Spur abzulenken, und wollte sichergehen, dass die Unterschrift nicht von Lucie stammte, obwohl Tim es ihnen bereits bestätigt hatte.

Die Ermittlungen schienen gut voranzukommen. Obara wurde wegen mehrerer Straftaten festgenommen, einschließlich des Totschlags an einer Australierin namens Carita Ridgway im Jahr 1992 und mehrerer Vergewaltigungen. Carita hatte er mit Chloroform betäubt und dann vor laufender Kamera vergewaltigt. Sie war schließlich an Leberversagen gestorben. Ihren Eltern hatte man gesagt, es sei eine Lebensmittelvergiftung gewesen. Wahrscheinlich hatte es keine Autopsie gegeben – sie wird selten angeordnet, selbst wenn Japaner unter mysteriösen Umständen sterben.

Die Polizei durchsuchte das Mietshaus in Miura, in das Obara Frauen gebracht hatte, und die nähere Umgebung, fand aber keine Leiche. Zumindest nicht beim ersten Mal.

Da Obara nicht gestehen wollte, Lucie getötet zu haben, konfrontierte ihn die Polizei mit den Vorwürfen weiterer sexueller Übergriffe und hoffte, dass er irgendwann zusammenbrechen werde. Das tat er allerdings nicht.

Am 10. November gegen 18 Uhr schickte Obaras Verteidiger eine Erklärung an die Medien. In diesem Schriftstück nannte Obara die Namen der Opfer und verleumdete sie erneut als Prostituierte. Er wiederholte die Aussage, die er bei der Polizei gemacht hatte. Allerdings gab er zu, Lucie getroffen zu haben – offensichtlich wollte er dafür sorgen, dass die Medien über seinen Brief berichteten. Dieser Brief sei das Werk eines Psychopathen ohne Gewissensbisse meinte ein Profiler, mit dem ich darüber sprach. Hier der Anfang:

»Ich werde eines Verbrechens beschuldigt, weil ich in der Vergangenheit für Sex mit Ausländerinnen aus Hostessenclubs bezahlt und mich gegen Bezahlung mit japanischen Prostituierten getroffen habe. Ich habe für diese sexuellen Spiele – ich nenne sie Unterwerfungsspiele – einen fairen Preis bezahlt.

Da ich einen angemessenen Preis für die geleisteten Dienste bezahlt habe und diese Frauen mit den sexuellen Spielen einverstanden waren, denke ich nicht, dass ich mich einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung schuldig gemacht habe.«

Dann gab er die Initialen aller Klägerinnen an und beschuldigte sie, Prostituierte, Heroinsüchtige und Lügnerinnen zu sein. Die einzige ungewöhnliche Bemerkung betraf die Initialen TM. Obara behauptete, er habe sie vor den Nachstellungen von Issei Sagawa beschützt und niemals bezahlten Sex mit ihr gehabt.

Issei Sagawa hatte 1981 während eines Auslandsstudiums ein niederländisches Mädchen erschossen und dann Teile ihrer Leiche gegessen. Französische Gerichte hatten ihn für geisteskrank erklärt und an Japan ausgeliefert. Doch er musste keinen einzigen Tag im Gefängnis verbringen. Es war nicht überraschend, dass Obara ihn kannte.

Außerdem versuchte Obara noch, einige Fragen zu beantworten, die sich viele stellten. Eine von ihnen betraf den gefrorenen Kadaver seines Hundes, den man in einer seiner Kühltruhen gefunden hatte.

»Ich glaube, dass mein Hund, den ich sehr liebe, wiederbelebt werden kann, sobald die Medizin weit genug fortgeschritten ist. Darum habe ich ihn zusammen mit Rosen und dem Futter, das er so gerne mochte, in die Gefriertruhe gelegt. Die Polizei hat Fotos davon. Die Behauptung des Fernsehens, ich hätte den Hund zerstückelt, ist eine glatte Lüge.«

Dann erklärte er, warum er menschliche Wachstumshormone in großen Menge besaß.

Außerdem gab er an, dass er Schlafmittel einnehme, um sein Unterbewusstsein zu beeinflussen und optimale Leistungen zu erbringen. Zudem leide er an Schlaflosigkeit. Bei Sexspielen habe er nie Schlafmittel benutzt.

Mit dem Zement habe er die Fliesen in der Wohnung befestigt.
Punkt für Punkt bestritt er alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Er bestritt, Akira Takagi zu kennen. Er bestritt, Frauenkleider getragen zu haben und als Voyeur verhaftet worden zu sein.

Außerdem drohte er, die Medien wegen Verleumdung zu verklagen und anzuzeigen. Zum Schluss erwähnte er noch, dass die Polizei plane, in den nächsten sieben Tagen alle seine Wohnungen und das umliegende Gelände mit mobilen Einsatzkräften und Hubschraubern zu durchsuchen.

Der Leiter der Sonderkommission ärgerte sich sehr über diese Pressemitteilung und hätte Obaras Anwalt am liebsten erwürgt.

»Ich habe diesen Anwalt 1000 Mal davor gewarnt, über die Opfer zu schreiben. Ich habe ihm gesagt, dass das Verleumdung ist. Aber er hat es trotzdem getan. Was zum Teufel bildet sich dieser Kerl ein? Wir werden nicht mitten in einer heiklen Befragung aufhören, damit er Zeit hat, seinen Mandanten wegen dieses Blödsinns zu treffen. Wenn das veröffentlicht wird und die Opfer Strafanzeige erstatten, dann freue ich mich schon darauf, diesen Anwalt als Mittäter einer Verleumdung festzunehmen. Und das werde ich tun. Mit diesem Brief und all dem Quatsch, der in den Zeitungen gestanden hat, ist es verdammt einfach, die Opfer aufzuspüren. Das ist etwas ganz anderes als das fehlerhafte, abwegige Zeug, das die Presse sonst schreibt. Es ist klare Verleumdung.

Und was die riesige Durchsuchungsaktion betrifft, von der er schreibt – dummes Zeug.

Hat er im Verhör den Begriff ›Unterwerfungsspiele‹ benutzt? Keine Ahnung.

Es stimmt, dass einige Opfer Geld bekommen haben, aber das hat nichts mit dem Verbrechen zu tun. Sie haben ja nicht im Voraus zugestimmt. Als die Opfer aufgewacht sind, nachdem er mit ihnen fertig war, hat er ihnen Geld gegeben, damit sie den Mund halten. Die Opfer waren bewusstlos, also konnten sie sich an nichts erinnern.

Sie sind aufgewacht und haben gespürt, dass etwas nicht stimmt, aber Obara hat seine übliche Leier heruntergespult: ›Dir ist schlecht geworden.‹ Dann hat er ihnen Geld fürs Taxi gegeben, damit sie nach Hause fahren konnten.

Aber selbst wenn er ihnen Geld gegeben hat, ändert das nichts an den Fakten. Er hat diese Frauen arglistig getäuscht und ihnen Alkohol mit Drogen verabreicht. Das ist versuchter Mord. Ich will diesen Bastard wegen Mordversuchs vor Gericht sehen.

Wenn Sie diesen Brief genau lesen, merken Sie, dass er nur das enthält, was Obara ins Konzept passt. Die Videos werden mit keinem Wort erwähnt.

Und die Sache mit den Fliesen? Quatsch. Jeder weiß, dass man Fliesen nicht mit Zement befestigt. Jeder starke Leim reicht dafür.«

Wenn Obara die Polizei ärgern wollte, dann war ihm das mit diesem Brief gründlicher gelungen, als er es sich vielleicht hatte vorstellen können. Er reizte die Kripobeamten und machte sich auch noch über die Opfer lustig – dieser Mann kannte wirklich keine Schuldgefühle.

Am 9. Februar schickte die Tokioter Polizei nach einem neuen Hinweis fast 100 Beamte an den Strand von Miura, an dem sie vor fast vier Monaten schon einmal nach Lucies Leiche gesucht hatte. Angeblich hatten die Ermittler ein Auto untersucht, das Obara kurz nach Lucies Verschwinden gemietet hatte, die damit zurückgelegte Entfernung abgelesen und dann überlegt, wo er die Leiche hätte vergraben können. Ein erfahrener Polizeireporter der Mainichi vermutete, dass die Polizei Lucies Leiche schon beim ersten Mal gefunden, aber darauf gewartet hatte, dass Obara den Fund bestätigte, bevor sie ihn offiziell bekannt gab, um ganz sicherzugehen. Das konnte natürlich stimmen.

An diesem Tag wurde ich um fünf Uhr morgens geweckt und in die Lokalredaktion bestellt. Dort sollte ich mich bereithalten, um mit betroffenen Ausländerinnen zu reden, sobald man die Leiche gefunden hatte.

Ich hoffte, dass die Tokioter Polizei Tim bereits benachrichtigt hatte, ging aber davon aus, dass sie es nicht getan hatte. Denn die Beamten mochten ihn nicht, weil er ihre Methoden kritisierte hatte.

Jeder Beamte im Dezernat war angespannt und müde, und der Vorwurf der Unfähigkeit – ob berechtigt oder nicht – verbesserte die Laune nicht gerade. Die beiden Seiten standen sich eher feindlich gegenüber, daher erhielt Tim auch kaum Informationen.

Stattdessen hatte die Polizei eine Woche vor der Suchaktion Jane Blackman nach Japan geholt. Man hatte sie in einem Hotelzimmer vor der Presse versteckt und ihr sogar Besuche anderer Familienmitglieder verwehrt. Nur speziell geschulte Betreuerinnen von Scotland Yard waren bei ihr. Die japanische Polizei hatte sie ausführlich über Lucie befragt: Gab es auffällige körperliche Merkmale? Welche Krankheiten hatte sie gehabt? Was aß sie normalerweise, und welche Gewohnheiten hatte sie? Mrs. Blackman ahnte, dass dahinter etwas steckte, aber die Polizei verriet nichts. Tim tappte absolut im Dunkeln.

Diesmal brauchte die Polizei nicht lange, um die Leiche zu finden. Sie war in einer behelfsmäßigen Mauer in einer Höhle an der Küste versteckt. Der Leichengeruch war so stark, dass einigen der jüngeren Polizisten schlecht wurde. Lucies Kopf war einbetoniert worden, daher war eine Identifizierung am selben Tag nicht möglich, doch alle wussten, um wen es sich handelte. Googly rief mich vom Fundort aus an und schilderte mir, was dort vor sich ging. Er wusste, dass ich mit Tim reden würde, vermutlich wollte er es sogar.

Letztlich war es nicht besonders schwer, ihm die Nachricht zu überbringen, zumindest nicht so schwer, wie ich befürchtet hatte. Als Tim Blackman den Hörer abnahm, wusste er gleich, warum ich anrief.

»Tim, hier ist Jake von der Yomiuri.«

»Ja, Jake.«

»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen behutsam beibringen soll, daher versuche ich es gar nicht erst. Es ist so, wie Sie befürchtet haben. Die Polizei hat die Leiche heute Morgen gefunden.«

Es folgte eine lange Stille.

»Vergraben?«

»Die Leiche war zerstückelt. Offenbar ist sie seit mehreren Monaten tot, dem Grad der Verwesung nach zu urteilen. Die Leiche ist noch nicht offiziell identifiziert, aber alles deutet darauf hin, dass es Lucie ist. Es tut mir sehr leid. Möchten Sie sonst noch etwas wissen?«

»Nein, Jake. Vielen Dank für Ihren Anruf. Es ist gut, endlich zu wissen, was passiert ist.« Seine Stimme schwankte kaum, und er sprach sehr ruhig. Als ich schon auflegen wollte, begann er noch einmal zu sprechen.

»Eine Frage habe ich doch noch. Wo hat man die Leiche gefunden?«

»In der Nähe seiner Wohnung. In einer Höhle am Strand.«

Wieder folgte eine lange Stille.

»Ist alles in Ordnung, Tim?«

»Ja, ja, das alles ist, nun ja, kein Schock, aber ... es ist nicht das, was ich erhofft hatte. Haben die den Strand nicht schon einmal abgesucht?«

»Doch, ich weiß auch nicht, warum sie damals nichts gefunden haben. Wollen Sie der Presse oder der Polizei etwas sagen?«

»Ich bin sehr froh, dass die Polizei Lucie gefunden hat. Wir müssen jetzt nach Japan reisen und die sterblichen Überreste abholen, damit sie eine anständige Beerdigung bekommt, sobald alles bestätigt ist.«

»Natürlich, Tim. Ich wollte, ich könnte etwas sagen, was es Ihnen leichter macht. Aber leider kann ich Sie nur auf dem Laufenden halten, was die nächsten Schritte der Ermittler anbelangt.«

»Ja, bitte tun Sie das«, sagte Tim, »es war sehr freundlich von Ihnen, uns bis heute über alle Ereignisse zu informieren, besser übrigens als die japanische Polizei. Danke.«

»Also, ich rufe Sie später wieder an.«

»Ja, ja. Vielen Dank noch mal.«

»Wahrscheinlich werden Sie bald eine Menge Anrufe von anderen Journalisten bekommen.«

»Danke für die Warnung. Vielleicht schalte ich das Telefon besser eine Weile ab. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Tim.«

Mehrere Stunden später musste ich Tim noch einmal anrufen. Denn die Yomiuri wollte eine Stellungnahme von ihm haben. So ist das Leben eines Reporters eben. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, ihn in seinem Schmerz noch einmal zu belästigen, aber es war nun einmal mein Job.

Tim hatte inzwischen eine Erklärung vorbereitet.

»Im tiefsten Herzen würde ich gerne glauben, dass Lucie noch lebt. Aber ich muss mich wohl damit abfinden, dass dies nicht der Fall ist. Wenn ich alle Indizien berücksichtige, kann ich nicht bestreiten, dass es sich höchstwahrscheinlich um die Leiche meiner Tochter handelt. Es mag schrecklich klingen, aber irgendwie bin ich auch erleichtert. Das Schlimmste war die Ungewissheit. Ich hoffe, dass es keine weiteren Leichen gibt.«

Lucie wurde schließlich anhand der Zähne eindeutig identifiziert. Anfang April wurde Obara wegen Vergewaltigung mit Todesfolge angeklagt. Aber in der ersten Verhandlung wurde er von der Anklage, die Lucie betraf, freigesprochen. Manchmal verblüfften mich die japanischen Gerichte wirklich. Andererseits wurde er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen achtfacher Vergewaltigung und anderer Delikte verurteilt. Der Fall liegt jetzt bei der Berufungsinstanz, wo er wahrscheinlich noch jahrelang ruhen wird.15

Viele Leute in Japan würden den Fall Lucie Blackman gerne als Verbrechen eines Verrückten in einem der sichersten Länder der Welt abtun. Obwohl es sicher ein ungewöhnliches Verbrechen war, bleiben Fragen offen, und die wichtigste lautet meiner Meinung nach: Wie konnte dieser Mann mehr als zehn Jahre lang eine Frau nach der anderen vergewaltigen, und warum schnappte die Polizei ihn nicht früher?

Ich will nicht behaupten, dass die Polizei mit Verbrechen an Ausländerinnen nachlässig umgeht – sie geht mit Verbrechen an Frauen allgemein nachlässig um.

Ich glaube – und da ich hier nicht für eine Zeitung schreibe, darf ich meine Meinung offen sagen –, dass sexuelle Übergriffe auf Frauen für die Polizei immer eine Nebensache waren. Die Strafe für Vergewaltigung ist so gering – meist nicht mehr als zwei Jahre – und die Chance auf Bewährung bei der ersten Verurteilung so groß, dass das Delikt wohl kaum als Schwerverbrechen angesehen wird.

Viele Polizisten halten Hostessen nicht für Opfer, sondern für gierige, manipulative Prostituierte, die Männer zu Opfern machen. Vor allem die ausländischen Hostessen. Ich weiß nicht, wie man diese Einstellung ändern kann. Denn selbst wenn das Opfer eine Prostituierte ist, ist sie ein Opfer. Auch Prostituierte haben das Recht, Nein zu sagen. Und Frauen, die gegen ihren Willen unter Drogen gesetzt werden, können überhaupt nichts sagen.

In den letzten fünf Jahren hat die Tokioter Polizei begonnen, verstärkt Polizistinnen einzusetzen, wenn es um Sexualdelikte geht. Das ist ein guter Anfang. Denn die männlichen Beamten neigten bisher dazu, die Opfer wie Kriminelle zu behandeln. Sie stellten Fragen wie: »Womit haben Sie ihn denn angemacht?« oder: »Warum haben Sie nicht Nein gesagt?« Ich habe mit drei Frauen gesprochen, die nach einer Vergewaltigung sehr unerfreuliche Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben. Jede von ihnen musste drei bis acht Stunden warten, bevor sie ins Krankenhaus zur Untersuchung gebracht wurde. In der Zwischenzeit wurde ihnen erlaubt oder sie wurden sogar dazu ermuntert, zur Toilette zu gehen, was natürlich manche körperlichen Beweise zerstörte.

Nicht jedes Revier besitzt eine Notfallausrüstung für Vergewaltigungsopfer, aber ich weiß, dass solche Ausrüstungen existieren. Es ist nicht überraschend, dass Typen wie Obara in einem Land, in dem Vergewaltigung nicht als Schwerverbrechen gilt, leichtes Spiel haben.

Ein Informant in der britischen Botschaft erzählte mir, dass bei der Polizei schon viele Jahre vor Lucies Verschwinden Anzeigen erstattet worden seien. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Bisher hat niemand bei der Tokioter Polizei das offiziell bestätigt. Aber eines weiß ich: Wenn jemand diese Anzeigen ernst genommen hätte, wäre Obara nicht nur längst im Gefängnis, sondern Lucie Blackman noch am Leben.