Geldautomaten und Presslufthämmer: ein Tag im Leben eines Shakaibu-Reporters

Ich erwachte müde und verschwitzt im Ruheraum im zweiten Stock des Yomiuri-Gebäudes. Da ich vergangene Nacht so lange im Büro bleiben musste, hatte ich den letzten Zug nach Hause verpasst.

Es gab zwei Ruheräume im zweiten Stock, einen für die Politik und die Wirtschaft und einen für die überregionalen Nachrichten und die Auslieferung. In unserem Raum gab es ausgebeulte Matratzen, Kissen, die mit Bohnen gefüllt waren, und eine Heizung, die einem ein Sauna-Gefühl bescherte. Außerdem ein Ausgang-Schild, das sein flackerndes Licht auf alles warf, und ein Telefon, dessen Hörer man jederzeit abnehmen musste, wenn es klingelte. Die Kollegen von der Politik hatten natürlich einen dunklen, temperierten Raum mit neuen Betten und ohne Telefon.

Ich rasierte mich, sprang in ein Firmenauto und fuhr nach Saitama, in mein altes Revier. Dort arbeitete ich an einem Artikel über eine Serie von spektakulären Diebstählen aus Bankautomaten. Im vergangenen Jahr waren es etwa 57 gewesen. Die Räuber brachen in eine Baufirma in der Nähe eines einsamen Automaten am Stadtrand ein und stahlen einen Bagger oder Gabelstapler, damit fuhren sie dann zum Automaten, rissen ihn von der Wand und nahmen ihn mit. An einem sicheren Ort brachen sie ihn auf, entnahmen den Safe mit dem Geld, luden ihn in ein anderes Auto und trennten sich. Das alles dauerte meist etwa vier Minuten. Da die Polizei im Durchschnitt nach sechs Minuten am Tatort war, mussten die Räuber ziemlich flink sein. Etwa jedes zweite Mal konnten sie den Bankautomaten nicht schnell genug von der Wand reißen und mussten die Beute zurücklassen.

Ich sprach mit Beamten von Scotland Yard, die beauftragt gewesen waren, Ende der Neunzigerjahre eine Serie von ähnlichen Vorfällen zu untersuchen – die Täter wurden damals Rammbockräuber genannt. Die britische Polizei hatte die Banken dazu gedrängt, die Geldautomaten im Boden zu verankern, seitdem gab es kaum noch Diebstähle. Die Automaten können so zwar immer noch keinem Bagger widerstehen, aber die Räuber brauchen mehr Zeit, sodass die Polizei sie leichter schnappen kann. Eine andere Möglichkeit ist es, Tintenkapseln in den Geräten unterzubringen. Wenn ein Automat geschüttelt oder umgekippt wird, spritzt Tinte auf die Banknoten und markiert sie. In Japan sind die Geldautomaten der Banken jedoch versichert, sodass sie keinen einzigen Yen verlieren, wenn sie beraubt werden. Sie bezahlen daher lieber die Versicherungsprämie, als ihre Geräte für teures Geld sicherer zu machen. Gegen die Tinte hat außerdem die Bank von Japan ihr Veto eingelegt, da sie keine verschmierten Banknoten gegen saubere eintauschen möchte. Der Schwarze Peter bleibt also bei der Polizei.

Zuerst suchte ich das Polizeirevier von Saitama auf und erkundigte mich nach den sieben Diebstählen in der Gegend. Die Leute, die ich schon vor zehn Jahren kontaktiert hatte, darunter einige meiner guten Informanten, waren auf der Karriereleiter nach oben gestiegen, sodass es nun oft leichter war, Antworten zu bekommen. Sie erinnerten sich noch an mich, weil ich ihnen nach meinem Abschied immer Neujahrskarten geschickt hatte. In Japan versendet man jedes Jahr Neujahrsgrüße. Wer das nicht tut, gilt als Außenseiter. Ich fand diesen Brauch zwar furchtbar, aber trotzdem brachte ich die Karten jeden Dezember wieder pflichtbewusst zur Post, damit die Leute sich an mich erinnerten.

Kaum hatte ich den zweiten Stock betreten, da begegnete ich dem ehemaligen Chef der Eisenbahnpolizei: »Jake, danke für die Neujahrskarte. Ihr Sohn ist wirklich hübsch.« Ich verzichtete auf den Hinweis, dass das süße Baby eine Tochter war. Auch andere Leute blieben stehen und begrüßten mich. Danach klopfte ich bei Chiba an, der früher eine Einsatzgruppe für das organisierte Verbrechen geleitet hatte und jetzt Chef der Sitte war. Er hatte ein eigenes Büro mit großem Schreibtisch, zwei Sofas und einem Marmortisch mit einem kristallenen Aschenbecher und einem kristallenen Feuerzeug. Und er durfte sogar im Gebäude rauchen. Besser konnte es einem bei der Polizei von Saitama nicht gehen.

Chiba begrüßte mich herzlich. Die Automatendiebstähle, erklärte er mir, würden dadurch erleichtert, dass die meisten japanischen Baumaschinen mit einem Generalschlüssel betrieben würden, sodass jeder Arbeiter jede Maschine bedienen könne, ohne lange nach einem Schlüssel suchen zu müssen. Sogar Maschinen von verschiedenen Herstellern ließen sich mit einem einzigen Schlüssel einschalten. Wer einen Schlüssel besaß, konnte also in jede beliebige Firma gehen und eine Maschine stehlen. Niemand war bereit, Geld für einen Austausch der Schlösser zu investieren. Zumal die Verbrecher sich die Maschinen meist nur ausliehen und sie dann irgendwo stehen ließen.

Nun gingen Chiba und ich zu Yoshimura, der jetzt die Abteilung Diebstahl leitete. Sein Stellvertreter Kohata war früher Vizepolizeichef von Omiya gewesen. Ich kannte alle drei. Wir gingen in ein Restaurant, aßen Aal mit Reis und plauderten. Sie erkundigten sich nach meiner Familie, und als ich ihnen Bilder meiner Tochter und meiner Frau zeigte, waren sie überrascht. Denn Sunao ist nach japanischen Maßstäben ziemlich attraktiv, und sie konnten wohl kaum glauben, dass sie sich ausgerechnet mit mir eingelassen hatte. Dann gab es den üblichen Streit wegen der Rechnung. Ich hoffte, dass ich zahlen durfte, weil die anderen dann in meiner Schuld stünden. Das ist nicht unwichtig, wenn man es mit älteren Japanern zu tun hat, die noch am Ehrenkodex festhalten. Leider hatte ich keine Chance, weil Chiba schon im Voraus für das Essen bezahlt hatte.

Kohata informierte mich über die neuesten Trends bei Automatendiebstählen und Hauseinbrüchen. Seit Kurzem hatte wohl die Zahl der Einbrüche, die von Chinesen begangen wurden, enorm zugenommen. Offenbar sind Chinesen besonders geschickt darin, Schlösser zu knacken. Nach der ersten Einbruchswelle hatten die Leute sich allerdings stärkere Schlösser angeschafft, und darum benutzten die Ganoven jetzt Bohrmaschinen, Korkenzieher und – niedliche kleine Aufkleber. Warum Aufkleber? Weil sie damit das Bohrloch im Schloss zukleben konnten, sodass Passanten nichts Auffälliges bemerkten, während der Dieb im Haus nach Beute suchte.

Ich fuhr auch nach Yoshikawa im Osten von Saitama, um den letzten Tatort eines Automatendiebstahls zu besichtigen. Als ich versuchte, einen Zeugen zu finden, schlugen mir alle die Tür vor der Nase zu und riefen, sie bräuchten keine Zeitung. Es war ein Déjà-vu-Erlebnis. Manche Dinge ändern sich eben nie.

Es war ziemlich eindeutig, warum dieser Geldautomat ausgeraubt worden war. Er stand in einem kleinen Verschlag in einer Ecke eines Parkplatzes, gleich neben eine Bushaltestelle. Von der Straße aus war er sehr gut zu sehen, und es gab nichts, was einen Bagger hätte behindern können. Ein kurzer Blick auf die Überreste zeigte mir, dass der Automat an drei Stellen mit dünnen Metallplatten befestigt gewesen war. Die Gauner waren mit sechs Millionen Yen (etwa 60 000 Dollar) entkommen.

Schließlich fand ich auf der anderen Straßenseite eine Augenzeugin, die kleine Frau Ishikawa, die ihre Tür allerdings erst öffnete, nachdem ich ihr meine Visitenkarte, meinen Ausweis mit Foto und einen Artikel über mich in einer Yomiuri-Broschüre gezeigt hatte. Dann erzählte sie:

»Ich hörte ein lautes Geräusch und dachte, dass es ein Erdbeben sei, weil der Boden bebte. Aber dann fiel mir ein, dass in unserer Straße gebaut wird, und ich dachte, dass sie an diesem Tag sehr, sehr früh angefangen hatten. Dann hörte ich wieder Lärm, und auch mein Mann stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Da sah er, wie zwei Männer mit einem großen Bagger den Geldautomaten aus dem Boden rissen und in Stücke schlugen. Natürlich rief mein Mann sofort die Polizei, aber bis die kam, war nur noch ein Haufen Schrott übrig. Die Männer hatten den Safe in einen weißen Kombi geladen und waren weggefahren.

Ich war überrascht, aber mein Mann, der jeden Tag Zeitung liest, hatte von diesen Diebstählen gelesen. Ich denke, die Verbrecher waren sehr schlau oder hatten viel Glück, weil alle Leute in der Gegend glaubten, der Lärm komme von der Baustelle, und weil niemand daher schneller die Polizei rief.«

Lokalkolorit, zitierfähig, gut.

Den Polizeichef von Yoshikawa kannte ich gut. Er war früher stellvertretender Leiter des Morddezernats von Saitama gewesen. Nachdem wir uns begrüßt hatten, gab er zu, dass die Diebstähle in seinem Bezirk ihm äußerst peinlich waren. Die Polizei hatte 15 Geldautomaten als potenzielle Ziele der Diebe ausgemacht, aber derjenige, den sie geplündert hatten, stand nicht auf dieser Liste. Einige Beamte hatten sogar einen anderen Geldautomaten beobachtet, während dieser hier geknackt wurde. Da die Polizei von Yoshikawa an Personalmangel litt und für ein 78 Quadratkilometer großes Gebiet zuständig war, zu dem zwei Großstädte und eine Kleinstadt gehörten, fand ich es nicht überraschend, dass die Gangster fliehen konnten. Trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen.

Nach getaner Arbeit hielt ich es für eine gute Idee, Sekiguchi-san und seine Familie zu besuchen, wenn ich schon in Saitama war. Daher meldete ich mich telefonisch an, informierte meinen Fahrer, und schon waren wir unterwegs in den Norden von Saitama. Es war jetzt zehn Jahre her, dass ich Jungreporter in Saitama gewesen war, aber Sekiguchi war immer noch mein Mentor, und seine Familie behandelte mich wie ein Mitglied. Es war schön, sie endlich wiederzusehen.

Gegen sieben Uhr abends kamen wir am Haus an, und ich fühlte mich sofort in die gute alte Zeit zurückversetzt. Alle begrüßten mich herzlich. Sekiguchi und seine Frau sahen großartig aus, die zwei Töchter hatten sich allerdings sehr verändert, denn sie waren keine kleinen Grundschülerinnen mehr.

Obwohl man bei Sekiguchi vor Kurzem Krebs diagnostiziert hatte, war er guter Dinge und schwärmte davon, wie sehr er sich freue, wieder richtige Ermittlungsarbeit leisten zu können. Wir lachten, knabberten etwas und plauderten. Sekiguchi sprach über seinen letzten Fall, den die Staatsanwaltschaft ihm entzogen hatte. Die Ermittlungen waren aus politischen Gründen eingestellt worden. Es hatte etwas mit dem Gouverneur zu tun. Einige Dinge ändern sich eben nie.

Sekiguchi und ich rauchten an diesem Abend nicht, denn er versuchte, es sich abzugewöhnen.

Um 22.30 Uhr war ich wieder in Tokio und fuhr sofort nach Edogawa, wo ich einen nordkoreanischen Japaner treffen sollte, den Präsidenten einer Firma, die Industriemüll beseitigte.

Die Japaner haben Korea während des Krieges besetzt, und nach dem Krieg blieben viele Koreaner, die als Zwangsarbeiter ins Land gekommen waren, in Japan. Später teilten sie sich in zwei Gruppen: Die eine sympathisierte mit Südkorea, die andere mit Nordkorea. Die nordkoreanischen Japaner haben ihr eigenes Schulsystem und eine Art Lokalverwaltung. Und dieser Mann saß im Verwaltungsrat.

Nordkoreaner sind in Japan nicht sehr beliebt. Schließlich hat die nordkoreanische Regierung zugegeben, vor 20 Jahren japanische Bürger entführt und nach Nordkorea verschleppt zu haben, wo sie dann Spionen Japanisch beibringen mussten. Diese Leute durften nie nach Japan zurückkehren. Nun hatte dieser Mann sich einverstanden erklärt, mit mir über die Lage der Nordkoreaner in Japan und ihre Unterstützung für Nordkorea zu sprechen.

In einer Zeit, als viele Koreaner nach Nordkorea zurückgekehrt waren, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen, war auch seine ältere Schwester ausgewandert. Als sie und alle anderen merkten, dass das »Arbeiterparadies« in Wahrheit die Hölle auf Erden war, gab es keine Möglichkeit mehr, nach Japan zurückzukehren. Daher musste er Nordkorea eine Art Lösegeld bezahlen.

Als er über die Aktivitäten Nordkoreas in Japan sprach, wurde unsere Unterhaltung von einem hart aussehenden jungen Mann unterbrochen, der den Firmenchef in eine laute und hitzige Diskussion auf Koreanisch verwickelte. Ich wusste, dass er ein junger Yakuza-Manager der Yamaguchi-gumi-Gruppe Yamaken war. Sein Gesicht kannte ich aus einer Fanzeitschrift der Yakuza. Davon gab es damals mehrere, und jeder gute Polizeireporter, der über das organisierte Verbrechen berichtete, las sie regelmäßig. Natürlich verstand ich kein Wort von dem Gespräch, aber später wurde mir erklärt, dass es um einen missglückten Mordversuch vor einer Woche gegangen sei.

Zwei Punks mit Motorradhelmen waren in eine Bar gerast und hatten auf den früheren Chef des Sumiyoshi-kai-Syndikats geschossen. Die beiden waren allerdings lausige Schützen. Fünf Menschen wurden getötet, darunter drei unbeteiligte Gäste, der ehemalige Gangsterboss blieb jedoch unverletzt. Diese Tat veranlasste die Polizei, hart gegen die Sumiyoshi-kai vorzugehen, und der Yakuza war es nicht gelungen, der Polizei ein interessantes Angebot zu machen, um sie zu beruhigen. Sie lieferten ihnen zwar einen Sündenbock, aber der schien nicht wirklich der Mörder zu sein.

Der junge Mann nannte mir den Namen des Mannes, der für die Morde verantwortlich war. Ich war zwar nicht gekommen, um Informationen über diese Sache zu beschaffen, aber ich informierte unsere Lokalredaktion und einen Polizisten, den ich gut kannte.

Gegen 23 Uhr traf ich noch ein Mitglied der Kokusui-kai-Gruppe in einer Bar und entlockte ihm Informationen über die Geldautomatendiebstähle. Ich bezahlte die Getränke und schenkte ihm zwei Eintrittskarten für einen Boxkampf.

Als ich gegen Mitternacht nach Hause kann, schliefen Sunao und Beni. Ich wusch das Geschirr im Spültisch, duschte und legte mich auf meinen Futon, um endlich zu schlafen.

Abendblumen

Die Japaner haben Worte für Traurigkeit, die so subtil und kompliziert sind, dass eine Übersetzung ihnen nicht gerecht wird.

Setsunai wird meist mit »traurig« wiedergegeben, doch in Wahrheit handelt es sich um ein so starkes Gefühl der Trauer und Einsamkeit, dass man glaubt, nicht mehr atmen zu können. Es ist eine körperliche und greifbare Traurigkeit. Das Wort yarusenai bedeutet Kummer oder Einsamkeit, so stark, dass man sie nicht überwinden kann.

Ja, so etwas gibt es. Wir werden älter und vergessen manche Dinge; doch jedes Mal, wenn wir daran denken, spüren wir diese yarusenai. Sie verschwindet nie; wir können sie allenfalls eine Weile verdrängen.

Es gibt ein schönes Kinderlied von dem Künstler Takehisa Yumeji, das »Die Nachtkerze« heißt. Die Nachtkerze ist eine gelbe, manchmal weiße Blume, die nur nachts blüht, sich morgens rot färbt und dann verwelkt. Das Lied ist fast unübersetzbar, weil das, was es nicht sagt, mehr ausdrückt als das, was es sagt. Jede Übersetzung ist eine Interpretation. Hier ist meine:

Du lebst und wartest und wartest und wartest.

Aber der andere kommt vielleicht nie.

Es ist wie das Warten auf die Nachtkerze.

Ach, dieses Gefühl der endlosen Traurigkeit.

An diesem Abend sieht es nicht danach aus,

Als käme auch nur der Mond.

Es gibt immer wieder Momente im Leben, da trifft man Menschen, die einen als Person, oder in meinem Fall als Reporter, fördern. So ein Mensch war Mami Hamaya. Sie nahm mich unter ihre Fittiche, als ich bei den Landesnachrichten anfing. Auch sie war einmal Polizeireporterin gewesen. Als ich im vierten Bezirk zu arbeiten begann, war sie die Einzige, die mir einige nützliche Kontakte vermittelte. Ich weiß nicht, warum wir uns so gut verstanden, vielleicht weil wir beide einer Minderheit in der Redaktion angehörten. Seit Anfang 2000 arbeiteten wir oft zusammen. Für mich war sie fast eine Art ältere Schwester.

Hamaya hatte eine Frisur wie die Beatles und eine Stupsnase. Meist trug sie Hosen und ein Hemd wie ein Mann. Sie war zäh und arbeitete hart, so wie jede Frau in der Redaktion für Landesnachrichten. In der ganzen Redaktion war ein gewisses Machogehabe verbreitet, und es gab nur wenige Frauen. 2003 waren nur 6 oder 7 von 100 Reportern Frauen. Um in der Redaktion zu überleben, mussten diese Frauen sich mit den gleichen unzumutbaren Arbeitszeiten abfinden wie die Männer. Aber man erwartete auch von ihnen, dass sie ihren Kollegen bei geselligen Veranstaltungen Getränke einschenkten, und sie durften sich nie beklagen. In vielerlei Hinsicht mussten sie sogar härter arbeiten als Männer.

Ein ganz bestimmter Telefonanruf besiegelte dann unsere Freundschaft endgültig.

Ich war für die Tagesschicht eingeteilt, was im Wesentlichen bedeutete, dass ich im Büro saß, das Telefon bediente und darauf wartete, Panik zu verbreiten, wenn doch einmal etwas passierte. Damals gehörte ich zur yu-gun (Reserve), einer Eliteeinheit der Redaktion, die für Schlagzeilen zuständig war und die Freiheit besaß, über fast alles zu schreiben, was in einer Sauregurkenphase nur interessant sein konnte. Außerdem oblag es mir, für die Artikelserie »Sicherheitskrise« zu schreiben, in der es darum ging, wie und warum die Zahl der Straftaten in Japan zunahm und was dies für das Land bedeutete. Obwohl diese Zahl immer noch lächerlich gering war, war die Aufklärungsquote der Polizei bei manchen Delikten jämmerlich. Und das war ein heißes Thema.

Der Tag war ruhig und langweilig, und nichts Wichtiges zeichnete sich am Horizont ab. Dann klingelte das Telefon. Am anderen Ende war ein wütender Fan der Yomiuri Giants, der mir mitteilte, dass er den damaligen Trainer nicht gut fand. Ich erklärte ihm, dass wir für die Nachrichten zuständig seien, nicht für den Sport, und auch nicht die Manager der Yomiuri Giants seien. Dann bat ich ihn, doch woanders anzurufen.

Nachdem er mir seinen Namen genannt hatte, wollte er auch meinen wissen. Ich tat ihm den Gefallen, sprach meinen Namen aber japanisch aus: »Jei-ku A-de-ru-su-te-in.«

Der Anrufer war nicht zufrieden. »Soll das ein Witz sein? Wer zum Teufel sind Sie?«

»Ich bin Reporter bei der Yomiuri. Und Ausländer.«

»Sie sind kein Ausländer. Sie sind eine Maschine, die Anrufer täuschen soll, damit sie auflegen.«

»Ich versichere Ihnen, dass ich keine Maschine bin. Ich bin ein Mensch, ein nichtjapanisches menschliches Wesen.«

»Ein Ausländer, was? Kein Wunder, dass Sie nicht verstehen, was ich sage. Holen Sie jemand anderen.«

Die einzige Person in der Nähe war Hamaya. Sie nickte und bat mich, ihr den Hörer zu geben.

»Hallo, hier ist Hamaya. Ich glaube, Jake hat Ihnen schon alles Nötige gesagt.«

Jetzt schäumte der Anrufer vor Wut. »Zuerst ein gaijin und jetzt noch eine Frau! Holen Sie mir einen Mann ans Telefon!«

»Tut mir leid«, säuselte Hamaya mit zuckersüßer Stimme. »Die Einzigen, die heute arbeiten, sind Ausländer oder Frauen. Oder ausländische Frauen. Ich fürchte, wir können Ihnen wirklich nicht helfen.«

Hamaya gefiel mir.

Immer wenn ich einen Artikel einreichte, den ich selbst geschrieben hatte, schaute Hamaya ihn sich vorher an und machte Vorschläge. Die Regeln für Standardartikel und gründliche Analysen waren ganz unterschiedlich, und ich musste mich sehr anstrengen, alles zu beachten.

Sie hatte Sinn für schwarzen Humor und eine nette, sanfte Art, mich zu kritisieren, vor allem wegen meiner unmöglichen Tischmanieren. Sie war nicht besonders hübsch, aber eine jener Frauen, die auf mysteriöse Weise umso attraktiver werden, je länger man sie kennt.

Hamaya und ich wurden dem Team zugewiesen, das über Informationstechnik schrieb. Japan befand sich mitten in einer IT-Phase, und Wörter wie »Internet«, »Hacker« und »Computervirus« waren in aller Munde. Die IT-Mannschaft war aus allen anderen Ressorts zusammengewürfelt, also Wissenschaft, Wirtschaft, Unternehmensberichte und Kultur. Ich hatte den Auftrag, über die Schattenseite der Branche zu schreiben: Viren, Hacker, Internetbetrug, illegaler Internethandel, Kinderpornografie, die Ausbreitung der Yakuza in diesem Bereich, Missbrauch von Prepaid-Handys und alle anderen Themen, die einigermaßen unerfreulich waren und etwas mit den neuesten technischen Fortschritten in Japan und der Welt zu tun hatten.

Was mein Computerwissen betraf, war ich absoluter Autodidakt, aber ich wusste doch einiges.

Hamaya wurde nach mir ins Team aufgenommen. Sie konnte kaum mit E-Mails umgehen, daher wurde ich plötzlich zum Lehrer meiner Lehrerin. Sie war eine gute Schülerin, und auch ich fand den Rollentausch nicht unangenehm. Ich lieh ihr Bücher, erklärte Fachausdrücke, zeigte ihr, wie man mit den verschiedenen Browsern umging und Lesezeichen setzte. Sie las ihrerseits meine Artikel, machte Verbesserungsvorschläge und wies auf Grammatikfehler hin. Und ich konnte immer auf sie zählen, wenn ich in der Tinte saß.

Ein großes Problem bei japanischen Zeitungen und vielleicht auch in japanischen Unternehmen und der Regierung ist, dass man ein und dieselbe Tätigkeit nie sehr lange verrichten darf. Es gibt ständig Personalwechsel nur um der Veränderung willen. So gibt es keine Kontinuität und es ist schwer für einen Journalisten, sich in ein Spezialgebiet richtig einzuarbeiten.

Hamayas Fachgebiet waren geistig Behinderte, vor allem die Maßnahmen, die ergriffen werden mussten, wenn sie Gesetze brachen. Sie war eine begeisterte Fürsprecherin der Behinderten. Was deren gesellschaftliche Integration anbelangt, liegt Japan noch heute Jahrzehnte hinter den USA zurück.

Die Bestrafung geistig Behinderter wurde Ende der Neunzigerjahre heiß diskutiert. Manche Leute forderten, dass die Gesetzeshüter das Recht erhalten sollten, geistig Behinderte ganz normal ins Gefängnis zu stecken.

Ausgelöst wurde diese Debatte von einem Vorfall am 23. Juli 1999. Ein Flugzeug der Japan Airlines war nach dem Start in Haneda – dem internationalen Flughafen in Tokio – von einem geistig Behinderten entführt worden, der zudem noch den Piloten erstach. Nach seiner Verhaftung entbrannte eine heftige Debatte darüber, ob man seinen Namen veröffentlichen durfte. Wegen seiner Behinderung und weil er Patient in einer psychiatrischen Klinik gewesen war, erwähnten die meisten Zeitungen seinen Namen zunächst nicht, was sonst schon üblich gewesen wäre. Am 27. veröffentlichte die Sankei Shimbun, eine sehr konservative Tageszeitung, allerdings dann doch seinen Namen.

Die Staatsanwaltschaft ließ den Mann nicht von einem Experten untersuchen, bevor sie ihn anklagte. Ihrer Meinung nach war er also zurechnungsfähig. Am 10. August erwähnte sogar Nihon Television, der Nachrichtensender der Yomiuri, den richtigen Namen.

Als der Mann dann formell angeklagt wurde, nannte ihn fast jede Nachrichtenagentur bei seinem richtigen Namen. Mehrere Presseorgane berichteten sogar in allen Einzelheiten über seine psychischen Probleme und seine Krankengeschichte.

Hamaya wehrte sich entschieden dagegen, den Namen des Mannes zu erwähnen, und war sehr unzufrieden mit der Berichterstattung über den Fall.

»Weißt du, wir entwickeln allmählich wirklich diskriminierende Ansichten. Alle Berichte gehen doch davon aus, dass jeder, der an einer Geisteskrankheit leidet, grundsätzlich nur einen Schritt von einem schrecklichen Verbrechen entfernt ist.«

Zunächst konnte ich ihr da nicht zustimmen, denn ich dachte noch zu sehr wie ein Polizeireporter, wie ein Polizist. Bestraft alle Kriminellen! Denn schlaue Ganoven täuschen Geisteskrankheiten vor, um nicht im Knast zu landen.

Als sie mir aber dann von seinem Leben erzählte und von all den Krankheiten, die in psychiatrischen Kliniken behandelt wurden, begann ich langsam, ihren Standpunkt zu verstehen.

Wenn wir Journalisten in Japan damals über ein schreckliches Verbrechen berichteten, das ein psychisch Kranker begangen hatte, dann taten wir so, als wären alle geistig kranken Menschen fähig, ähnliche Taten zu begehen, oder als sei das zumindest wahrscheinlich. So bestärkten unsere Artikel viele alte Vorurteile und förderten die Diskriminierung von psychisch Kranken.

Diese Ansichten entsprachen auch der Stimmung in der Bevölkerung und in der Yomiuri, aber Hamaya war viel zu integer, um ihre Artikel so zu verändern, dass sie mit einer unausgesprochenen Unternehmenspolitik übereinstimmten.

Dadurch erwarb sie sich den Ruf, eine Unruhestifterin zu sein, eine Radikale. »Sie ist genauso verrückt wie die Irren, die sie verteidigt.« Damit begann eine harte Zeit für sie.

Am 8. Juni 2001 drang der 37-jährige Mamoru Takuma in die Ikeda-Grundschule der pädagogischen Universität von Osaka ein, stach
23 Kinder nieder und tötete dabei 8. Man hielt ihn als Erstes für geistesgestört, aber im Laufe der Ermittlungen stellte sich heraus, dass er die Tat im Voraus geplant und eine psychische Erkrankung nur vorgetäuscht hatte, um nicht angeklagt zu werden.

Erneut brachten die Leute Geisteskrankheiten mit Gewaltverbrechen in Verbindung, und Hamaya kämpfte weiter für ihre Überzeugung, dass unsere Berichterstattung dieses Vorurteil nicht fördern und nicht pauschal behaupten dürfe, alle psychischen Krankheiten seien vorgetäuscht, um einer Strafe zu entgehen. Das war sicher eine vernünftige Einstellung, aber sie löste in der Redaktion unvernünftige Reaktionen aus.

Hamayas Artikel zu diesem Thema kamen bei einigen Chefredakteuren nicht gut an. Sie hielten die Leidenschaft, mit der sie für dieses Thema eintrat, für Aufsässigkeit.

Am 12. September wurde daher in einer Besprechung bekannt gegeben, dass sie aus dem Ressort für Landesnachrichten mehr oder weniger hinausgeworfen und in die Personalabteilung versetzt worden war. Kikuchi, der Ressortleiter, hatte ihre Versetzung am 29. August verlangt. Als Hamaya sich von uns verabschiedete, war ihre Stimme so leise, dass man sie kaum hören konnte. Sie war den Tränen nahe, riss sich aber zusammen.

An diesem Abend aßen Hamaya und ich in einem italienischen
Restaurant in Aoyama und sie erzählte mir, dass der Ressortleiter sie vor einem Monat angerufen und ihr mitgeteilt hatte, dass er sie zur
Yomiuri Weekly versetzen werde. Als Hamaya gemeint hatte, dass sie bei den Landesnachrichten bleiben wolle, da sonst niemand mehr da sei, der über körperlich und geistig Behinderte angemessen berichten könne, habe der Chef sich über ihre Antwort wohl geärgert und sie als Aufsässigkeit betrachtet.

Ein paar Tage vor der Redaktionskonferenz habe er sie zu sich gerufen und erklärt: »Sie verlassen das Ressort und gehen in die Personalabteilung. Entweder akzeptieren Sie das, oder Sie kündigen oder werden entlassen. Sie werden nie wieder als Journalistin arbeiten, solange Sie in dieser Firma sind. Das ist alles.«

Dann schickte er sie ohne ein weiteres Wort weg.

Es gab keine Begründung, keine Erklärung. Nachdem sie die Worte »Sie werden nie wieder als Journalistin arbeiten« wiederholt hatte, brach sie völlig zusammen und weinte heftig.

»Hör mal«, versuchte ich sie aufzumuntern, »der Ressortleiter ist ein Idiot. Und er wird nicht ewig da sein. Warte einfach, bis er weg ist. Du bist eine gute Reporterin. Du wirst wieder schreiben. Es ist nur eine Frage der Zeit.«

Sie fragte, ob ich das wirklich glaube. Eigentlich glaubte ich es nicht, aber ich log, weil ich ihr nicht jede Hoffnung rauben wollte. Vielleicht hätte ich ihr die Wahrheit sagen und ihr raten sollen, die
Yomiuri zu verlassen und für eine andere Zeitung zu arbeiten. Ich weiß es nicht.

Es ist schwer, als Polizeireporter mit anderen Kollegen bei der Yomiuri in Kontakt zu bleiben, da man die meiste Zeit in der Zentrale der Tokioter Polizei verbringt. Hamaya zu treffen war noch schwieriger, da sie jetzt nicht mehr in meinem Ressort arbeitete. Dennoch blieben wir in Verbindung.

Auf einer Party des Chefredakteurs der IT-Abteilung plauderten wir einige Stunden. Wir hatten verabredet, im Laufe der Woche zum Essen auszugehen, doch ich musste absagen, weil ich einen Artikel zu schreiben hatte. Sie schien enttäuscht zu sein. Als ich sie einige Tage später anrief, um einen neuen Termin zu vereinbaren, ging niemand ans Telefon.

Das genaue Datum weiß ich nicht mehr, aber ich weiß noch, dass ich in der Firmenbibliothek einige Unterlagen kopieren musste und kurz ins Hauptbüro ging. Kikuchi, der Ressortleiter, saß mit einigen leitenden Angestellten an seinem Schreibtisch, und alle unterhielten sich in gedämpftem Ton. Auf dem Flur klopfte mir eine Kollegin auf die Schulter, lächelte und sah mich aufgeregt an, so als hätte sie etwas ganz Besonderes zu erzählen.

»He, was ist los?«, fragte ich.

Sie beugte sich vor und flüsterte: »Hast du schon das Neueste von Hamaya gehört?«

»Nein. Ich hoffe, es sind gute Nachrichten. Kommt sie wieder zurück?«

»Du hast also echt keine Ahnung?«

»Ich habe seit voriger Woche nicht mehr mit ihr gesprochen. Nein, ich weiß wirklich nichts. Heiratet sie? Hat sie einen Freund? Klär mich auf.«

»Sie hat sich umgebracht.«

»Was?«

»Es heißt, sie habe sich in ihrem Apartment erhängt. Ihre Eltern haben heute die Leiche gefunden. Die Wochenzeitschriften schnüffeln schon herum und stellen Fragen. Sei vorsichtig.«

Ich war sprachlos. Mir war, als habe mir jemand unerwartet in die Magengrube geschlagen.

»Bist du in Ordnung?«

Sie musste mich vermutlich mehrmals fragen, bis ich antworten konnte.

»Ja, es geht schon. Danke, dass du es mir gesagt hast.«

»Tut mir leid. Ich dachte, du wüsstest es.«

»Nein. Trotzdem danke.«

Ich verabschiedete mich höflich, ging ins Badezimmer und übergab mich.

Ich wünschte mir fast, dass ein Wochenmagazin mich anrief, dann hätte ich den Kollegen erklären können, dass Hamaya sich nicht selbst umgebracht hatte, sondern dass ein einziger Satz sie in den Selbstmord getrieben hatte: »Sie werden nie wieder als Journalistin arbeiten.« Für eine ernsthafte, engagierte Reporterin waren diese Worte ein Todesurteil.

Ich ging zur Beerdigung. Es war ein schrecklich heißer Tag. Kikuchi war ebenfalls da, und obwohl ich wusste, dass es nicht seine Schuld war, hätte ich ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Ich konnte ihn nicht ansehen. Ich wollte auch nicht darüber nachzudenken, ob ich als Hamayas Freund versagt hatte. Ich war wohl so versessen auf einen Knüller gewesen, dass ich ihr vor ein paar Tagen vielleicht nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich aufmerksamer gewesen wäre oder sie früher angerufen hätte.

Am nächsten Tag aß ich mit einer Kollegin in der Cafeteria der Polizeizentrale zu Mittag und berichtete ihr vom Begräbnis. Sie und Hamaya waren gut miteinander ausgekommen.

»Weißt du«, sagte sie, »Hamaya war richtig gut zu mir, als ich in der Lokalredaktion anfing. Sie zeigte mir alles und brachte mir die ungeschriebenen Gesetze bei. Sie war die einsatzfreudigste, hingebungsvollste Reporterin, die ich kenne.«

Ich bestätigte, dass ich die gleiche Erfahrung gemacht hatte.

»Ja, und sie verstand ihr Handwerk. Umweltprobleme, psychische Krankheiten und die Probleme der Behinderten. Die Umweltschutzbehörde hat sogar ein Beileidstelegramm geschickt, das bei der Beerdigung verlesen wurde.«

»Beim Begräbnis waren so viele Leute, die diese Frau beeinflusst oder beeindruckt hat. Sie war eine gute Reporterin.«

»Tja, und zum Lohn für ihre harte Arbeit«, schimpfte sie, »hat man sie in die Personalabteilung abgeschoben, wo sie den vielen Neuen erzählen musste, was für eine großartige Zeitung die Yomiuri
doch ist. Ich war bei einer dieser Aufmunterungsreden dabei, die unsere Neuen zu hören bekommen, bevor sie anfangen zu arbeiten. Einige wussten nicht einmal, dass Hamaya einmal Journalistin
war. In ihren Augen war sie nur eine Frau mittleren Alters aus der Personalabteilung.«

Am Tag nach dem Begräbnis überprüfte ich mein geschäftliches
E-Mail-Konto, was ich eher selten tat. Hamaya hatte mir etwa zwei Tage vor ihrem Tod eine Nachricht geschickt. Ich habe sie nie gelesen. Ich hatte nicht den Mut dazu. Ich habe wohl immer noch eine Kopie davon auf irgendeiner Festplatte, aber ich werde sie nicht suchen.

Manche Dinge bereut man ewig: die eine E-Mail, die man nie gelesen hat, den schlechten Rat, den man erteilt hat, oder den Telefonanruf, den man hätte machen sollen … Und es bleibt die traurige Erinnerung an Freunde, die man möglicherweise hätte retten können.