Das Schicksal ist auf deiner Seite
Der 12.
Juli 1992 war der Wendepunkt, was mein Wissen über Japan anbelangt.
Ich war auf meinem Stuhl neben dem Telefon festgeleimt, meine Füße
steckten im Minikühlschrank – in der Sommerhitze ist jede Kühlung
willkommen –, und ich wartete auf einen Anruf der
Yomiuri Shimbun, der angesehensten japanischen Zeitung. Entweder
würde ich dort als Reporter anfangen oder arbeitslos bleiben. Es
war eine lange Nacht, der Höhepunkt eines Prozesses, der ein ganzes
Jahr gedauert hatte.
Vor Kurzem noch hatte meine Zukunft mich keinen Deut interessiert. Da war ich Student an der Sophia (Joichi) University mitten in Tokio gewesen und hatte ein Diplom in vergleichender Literaturwissenschaft angestrebt und für die Studentenzeitung geschrieben.
Daher besaß ich zwar etwas Erfahrung in diesem Bereich, war aber nicht wirklich für den Einstieg in einen Beruf qualifiziert. Mein nächster Schritt wäre wahrscheinlich gewesen, Englisch zu unterrichten. Außerdem verdiente ich etwas Geld mit Übersetzungen von Kung-Fu-Videos aus dem Englischen ins Japanische. Und weil ich gelegentlich auch noch reichen japanischen Hausfrauen eine schwedische Massage verabreichte, konnte mein Einkommen die täglichen Ausgaben decken. Meine Eltern mussten allerdings die Unterrichtsgebühren bezahlen.
Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was ich tun wollte. Den meisten meiner Kommilitonen war schon vor ihrem Abschluss ein Job zugesagt worden. Dieses naitei genannte Vorgehen galt zwar als ungehörig, dennoch war es gängige Praxis. Auch ich hatte eine solche Zusage erhalten, und zwar von Sony Computer Entertainment, aber sie galt nur, wenn ich mein Studium um ein weiteres Jahr verlängern würde. Ich wollte diesen Job nicht wirklich antreten, aber immerhin ging es dabei um Sony.
Ende 1991, als ich nur noch ganz wenige Kurse besuchte und eine Menge Freizeit hatte, beschloss ich, die japanische Sprache genauer zu studieren. Denn ich wollte die Prüfung in Massenkommunikation für künftige Hochschulabgänger ablegen, um dann einen Job als Reporter zu ergattern und auf Japanisch zu schreiben. Ich war überzeugt, dass es nicht viel schwieriger sein konnte, für eine überregionale Zeitung mit acht oder neun Millionen Lesern zu schreiben als für eine Studentenzeitung.
In Japan
gelangt man nicht zu den großen Zeitungen, nachdem man sich bei
lokalen Kleinstadtzeitungen hochgearbeitet hat. Vielmehr holen sich
die Zeitungen die meisten ihrer Reporter frisch von der
Universität. Die Anwärter müssen sich dann als Erstes einem
standardisierten Eignungstest unterziehen, der wie folgt abläuft:
Angehende Reporter berichten vor einer großen Zuhörerschaft und
schreiben
tagelang Tests. Wenn das Ergebnis gut genug ist, folgt ein
persönliches Gespräch, dann noch eines und schließlich ein drittes.
Wer dabei einen guten Eindruck hinterlässt und seinen
Gesprächspartnern gefällt, bekommt vielleicht eine
Jobzusage.
Ehrlich gesagt glaubte ich nicht ernsthaft daran, dass eine japanische Zeitung mich einstellen würde. Wie groß war wohl die Chance, dass ein jüdischer Junge aus Missouri in diese elitäre japanische Journalistenbruderschaft aufgenommen wurde? Aber das war mir egal. Wenn ich etwas lernte und ein Ziel hatte, auch wenn es noch so unrealistisch war, so würde ich auf jeden Fall von meinen Bemühungen profitieren, und wenn nur mein Japanisch besser würde.
Aber wo sollte ich mich bewerben? Japan hat eine Menge Zeitungen, die zudem viel wichtiger sind als in den Vereinigten Staaten.
Die Yomiuri Shimbun hat die größte Auflage – mehr als zehn Millionen Exemplare täglich – in Japan und sogar in der Welt. Die Asahi Shimbun folgte ihr früher dicht auf den Fersen. Jetzt ist der Abstand größer geworden, aber sie liegt immer noch an zweiter Stelle. Die Yomiuri galt als offizielle Zeitung der konservativen Liberaldemokratischen Partei, die Japans Politik seit dem Zweiten Weltkrieg dominiert, die Asahi als offizielle Zeitung der Sozialisten, die heutzutage fast verschwunden sind. Von der Mainichi Shimbun, der drittgrößten Zeitung, hieß es, sie sei die offizielle Zeitung der Anarchisten, weil sie selbst nicht wisse, auf welcher Seite sie stehe. Die Sankei Shimbun, damals wohl die viertgrößte Zeitung, galt als Stimme der extremen Rechten, und einige hielten sie für ebenso glaubwürdig wie die Boulevardpresse. Auch sie brachte oft spektakuläre Storys.
Die Presseagentur Kyodo, die »japanische Associated Press«, war schwerer zu beurteilen. Ursprünglich hatte sie Domei geheißen und war die offizielle Propagandaabteilung der japanischen Regierung während des Zweiten Weltkriegs gewesen. Nicht alle Verbindungen waren abgebrochen, als die Firma nach dem Krieg unabhängig wurde. Zudem hatte Dentsu, die größte und mächtigste Werbeagentur Japans (und der Welt), eine Mehrheitsbeteiligung an Kyodo, und das konnte die Berichterstattung beeinflussen. Einen wichtigen Grund gab es allerdings, der Kyodo als Arbeitgeber sehr attraktiv machte: die Gewerkschaft. Denn sie sorgte dafür, dass die Journalisten den Urlaub bekamen, der ihnen zustand – und das war in den meisten japanischen Firmen eher selten.
Dann gab es noch Jiji Press, eine Art kleinen Bruder der Kyodo, aber einen hart arbeitenden. Jiji hatte eine kleinere Leserschaft und weniger Reporter. Es gab Leute, die scherzhaft behaupteten, Jiji-Reporter schrieben ihre Artikel erst, nachdem sie Kyodo gelesen hätten – ein gemeiner Scherz in einer gemeinen Branche.
Anfangs neigte ich zur Asahi, aber irgendwann widerstrebte es mir, dass die USA bei jeder Gelegenheit in ein schlechtes Licht gerückt wurde. Das passte nicht zu dem Bild, das die meisten Japaner von Amerika hatten – das Land der Demokratie, das Freiheit und Gerechtigkeit in der ganzen freien Welt verbreitete.
Die Leitartikel der Yomiuri waren ziemlich hart, aber sehr konservativ, mit vielen kanji – chinesischen Schriftzeichen, die in der japanischen Schrift verwendet werden – und voller Andeutungen. Die Artikel im überregionalen Teil fand ich jedoch wirklich eindrucksvoll. Als der Begriff »Menschenhandel« im allgemeinen Wortschatz noch fehlte, veröffentlichte die Yomiuri eine Reihe von schonungslos offenen, gut recherchierten Artikeln über das Leid der thailändischen Frauen, die als Prostituierte nach Japan geschmuggelt wurden. Die Autoren schrieben einigermaßen respektvoll über die Frauen und kritisierten die Polizei zumindest moderat, weil sie kaum etwas gegen diesen Skandal unternahm. Die Zeitung schien mir fest auf der Seite der Unterdrückten zu stehen und für Gerechtigkeit einzutreten.
Da die Prüfungen der Asahi und der Yomiuri am selben Tag stattfanden, entschied ich mich für die Yomiuri.
Die Prüfung war Teil des Journalismusseminars der Yomiuri Shimbun, das inoffiziell als gute Gelegenheit galt, Mitarbeiter anzuwerben, bevor die offizielle Bewerbungssaison begann. So konnte die Zeitung die besten Hochschulabsolventen abschöpfen. Da die Yomiuri keine große Werbung für diese Tests machte, musste jeder, der Interesse hatte, die Zeitung sorgfältig durchforsten, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen. Alle Studenten, die den Ehrgeiz hatten, Yomiuri-Reporter zu werden, verschlangen daher die Seiten der Zeitung. In einem Land, in dem das Erscheinungsbild so wichtig ist, musste ich natürlich ordentlich aussehen. Als ich meinen Schrank durchwühlte, entdeckte ich, dass der feuchte Sommer meine beiden Anzüge zu Nährböden für Pilze gemacht hatte. Also trottete ich zu einem riesigen Discount-Herrenausstatter und kaufte einen Sommeranzug für etwa 300 Dollar, der aus dünnem Stoff bestand, angenehm zu tragen war und einen schönen schwarzen Farbton aufwies. Ich gefiel mir darin.
So elegant gekleidet wollte ich meinen Freund Inukai, den Chefredakteur der Studentenzeitung, beeindrucken, doch als ich im Büro auftauchte, das sich in einem dunklen, kerkerartigen Keller befand, reagierte er anders als erwartet.
»Jake-kun, mein Beileid.«
Aoyama-chan, eine andere Kollegin, wirkte nachdenklich, aber sie sagte kein Wort.
Ich verstand nicht, was los war.
»Was ist denn passiert? War es ein Freund?«
»Ein Freund?«
»Der gestorben ist?«
»Hä? Niemand ist gestorben. Allen, die ich kenne, geht es gut.«
Nun nahm Inukai die Brille ab und polierte sie mit seinem Hemd. »Du hast diesen Anzug also selbst gekauft?«
»Klar. 30 000 Yen.«
Inukai fand das offenbar lustig, das konnte ich daran erkennen, dass er die Augen zusammenkniff wie ein glückliches Hundebaby. »Was für einen Anzug wolltest du denn kaufen?«, fragte er dann ernst.
»In der Anzeige stand reifuku.«
Aoyama-chan kicherte.
»Was ist denn?«, fragte ich. »Stimmt etwas nicht?«
»Du Idiot! Du hast einen Anzug für Beerdigungen gekauft. Keinen reifuku, sondern einen mofuku!«
»Na und, was ist denn da der Unterschied?«
»Mofuku sind schwarz. Und niemand trägt einen schwarzen Anzug bei einem Vorstellungsgespräch!«
»Niemand?«
»Na ja, vielleicht ein Yakuza.«
»Tja, könnte ich nicht so tun, als käme ich gerade von einem Begräbnis? Vielleicht kriege ich dann noch Sympathiepunkte.«
»Stimmt, die Leute haben oft Mitleid mit geistig Behinderten.«
Aoyama warf ein: »Oder du bewirbst dich bei den Yakuza. Die tragen Schwarz. Du könntest der erste gaijin bei ihnen sein.«
»Nein, dafür eignet er sich nicht«, meinte Inukai. »Und was soll er machen, wenn sie ihn rauswerfen?«
»Stimmt«, sagte Aoyama und nickte. »Wenn es nicht klappt, wird er kaum mehr als Reporter arbeiten können. Denn es ist nicht leicht, mit neun Fingern zu tippen.«
Jetzt war Inukai in seinem Element. »Ich glaube nicht, dass er die Organisation mit neun Fingern verlassen könnte. Vielleicht mit acht. Er ist ein echter Schussel, grob, unbeholfen, nie pünktlich. Ein Barbar.«
»Da hast du recht«, stimmte Aoyama zu. »Immerhin könnte er noch jagen und sammeln. Aber was die Karriere betrifft, ist die Yakuza wohl nichts für ihn, obwohl er in einem schwarzen Anzug wirklich gut aussieht.«
»Also, was soll ich jetzt machen?«
»Kauf dir einen anderen Anzug«, riefen sie im Chor.
»Ich hab nicht genug Geld.«
Inukai schien nachzudenken. »Hmmm. Vielleicht kommst du damit durch, weil du ein gaijin bist. Möglicherweise findet jemand den Anzug niedlich ... oder sie halten dich gleich für einen kompletten Idioten.«
In meinem Beerdigungsanzug schleppte ich mich also am 7. Mai zur ersten Stunde des Seminars, das um 12.50 Uhr in einem eindrucksvollen Raum gleich neben dem Hauptbüro der Yomiuri Shimbun begann. Das Seminar sollte zwei Tage daueren. Am ersten Tag fanden Kurse statt, am zweiten enshuu, also »praktische Übungen«, ein Euphemismus für Prüfungen. Ich war überrascht, dass sie dieses Wort benutzten, weil es im Grunde ein militärischer Begriff ist.1
Das Seminar begann mit einer Eröffnungsrede und einem Vortrag »für diejenigen unter Ihnen, die Journalisten werden wollen«, dann folgte ein zweiter Vortrag über ethische Grundsätze des Journalismus. Danach sprachen »Jungs an der Front« – also aktive Reporter – über ihre Arbeit, ihre Freude über eine gute Story und die Enttäuschung, wenn die Konkurrenz ihnen eine Schlagzeile weggeschnappt hatte.
Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Vorträge. Denn die vielen Stunden, die ich damit verbracht hatte, einigermaßen Japanisch lesen und schreiben zu lernen, hatten einen Nachteil: Ich konnte die Sprache sehr schlecht verstehen und sprach sie auch nicht sonderlich fließend. Aber ich ging ein kalkuliertes Risiko ein. Denn man brauchte eine ausreichende Punktzahl im schriftlichen Test, um überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Deshalb hatte ich mich mehr im Lesen und Schreiben geübt als in anderen Fertigkeiten. Ich möchte nicht behaupten, dass ich die japanische Sprache gar nicht verstand, es war eher so, als wäre ich ein bisschen hör- und sprachbehindert.
Aber soweit ich sie verstand, waren die Ausführungen des Polizeireporters über die Abteilung für öffentliche Sicherheit der Tokioter Polizei ziemlich interessant. Der Mann sah aus wie 40, hatte graues Kraushaar und hängende Schultern – die Japaner nennen das »Katzenpose«.
Er erklärte, dass die Abteilung für öffentliche Sicherheit nur selten Bekanntmachungen und niemals Pressemitteilungen herausgebe. Alles werde bei Pressekonferenzen gesagt, und wer da nicht aufpasse, der gehe eben leer aus. Das sei kein Ort für Adrenalinsüchtige (oder Ausländer). Manche Reporter besuchten diese Konferenzen ein ganzes Jahr lang, ohne ein einziges Wort zu schreiben. Doch wenn eine Verhaftung stattfand, war das immer eine wichtige Nachricht, weil sie die nationale Sicherheit betraf.
Die eigentliche Prüfung – oder der »militärische Drill«, wie man sie nannte – sollte drei Tage später in der Yomiuri-Berufsschule für Technik in einem Vorort von Tokio stattfinden.
Da ich die Firmenbroschüre nicht gelesen hatte, war ich ein wenig überrascht, dass eine Zeitung auch eine Berufsschule betrieb. Damals wusste ich noch nicht, dass die Yomiuri viel mehr war als eine Zeitung. Sie war ein riesiger Firmenkomplex, zu dem unter anderem der Vergnügungspark Yomiuriland, das Reisebüro Yomiuri Ryoko und ein traditionelles japanisches Gasthaus in Kamakura gehörten. Außerdem besaß sie ihre eigene Miniklinik im zweiten Stock der Firmenzentrale, Schlafzimmer in der dritten Etage, eine Cafeteria, eine Apotheke und eine Buchhandlung, sogar ein Massagetherapeut arbeitete im Haus. Und das Baseballteam der Zeitung, die Yomiuri Giants, wurde wegen seiner landesweiten Popularität oft mit den Yankees verglichen. Unterhaltung, Urlaub, Gesundheitsfürsorge und Sport – man konnte sein Leben führen, ohne das Yomiuri-Imperium zu verlassen.
Vom Bahnhof aus folgte ich den vielen jungen Japanern in marineblauen Anzügen und mit roten Krawatten, dem typischen »Rekrutenlook« dieses Jahres. 1992 bedeutete das auch, dass all jene, die ihr Haar entsprechend der gängigen Mode braun oder rot gefärbt hatten, es nun wieder schwarz trugen. Ein paar Frauen waren mit nüchternen marineblauen Kostümen bekleidet.
15 Minuten
vor Beginn der Prüfung betrat ich die Berufsschule und schrieb mich
ein. Eine Mitarbeiterin am Empfang fragte mich:
»Sind Sie sicher, dass Sie hier richtig sind?«
»Ja, ich bin sicher«, antwortete ich bescheiden.
Die Prüfung bestand aus vier Teilen: einem japanischen Sprachtest, einem Test in Fremdsprachen (dabei konnte man sich einige aussuchen), einem Aufsatz, und zum Schluss erhielten die Bewerber die Möglichkeit, sich selbst als künftige Mitarbeiter anzupreisen.
20 Minuten vor allen anderen war ich mit dem ersten Teil fertig. Einige Minuten lang saß ich ziemlich stolz auf mich selbst einfach so da, bis ich das Blatt zufällig umdrehte und entsetzt bemerkte, dass auf der Rückseite ebenfalls Fragen standen. Jetzt musste ich mich anstrengen, um noch fertig zu werden. Als die Zeit abgelaufen war, gab ich ab, was ich ausgefüllt (oder nicht ausgefüllt) hatte, ging wütend an meinen Platz zurück und war überzeugt, den Rest der Prüfung vergessen und nach Hause gehen zu können.
Ich muss ziemlich fassungslos dagesessen haben, als ein Yomiuri-Mann zu mir kam und mir auf die Schulter klopfte. Er hatte eine Beatlesfrisur, trug eine Metallrandbrille und sprach mit einer heiseren Stimme, die nicht zu seiner Statur und zu seinem Aussehen passte. (Erst nach einiger Zeit erfuhr ich, dass er Endo-san hieß und in der Personalabteilung arbeitete. Er starb einige Jahre später an Kehlkopfkrebs.)
»Sie sind mir unter den Bewerbern aufgefallen«, meinte er auf Japanisch. »Warum machen Sie diese Prüfung?«
»Nun ja, ich dachte, dass ich bessere Chancen habe, einen Job bei der englischsprachigen Daily Yomiuri zu bekommen, wenn ich hier gut abschneide.«
»Ich habe einen Blick auf Ihre Unterlagen geworfen. Bei den ersten Fragen waren Sie richtig gut. Aber was ist dann passiert?«
»Ich habe dummerweise zu spät bemerkt, dass es auf beiden Seiten Fragen gab.«
»Ach so. Das werde ich mir notieren.« Er zog einen kleinen Terminplaner aus seiner Jackentasche und kritzelte etwas hinein.
Dann wandte er sich wieder mir zu. »Vergessen Sie die Daily Yomiuri, das wäre nur Zeitverschwendung. Probieren Sie es bei der richtigen Zeitung. Sie haben immer noch eine gute Chance. Sie sind doch Sophia-Student, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete ich.
»Dachte ich mir. Halten Sie durch«, meinte er aufmunternd und tätschelte mir dabei die Schulter.
Da saß ich nun also, und meine Gedanken rasten. Aufgeben und nach Hause gehen oder am Ball bleiben? Schließlich stand ich auf und warf meinen Rucksack über die Schulter. Als ich mich im Raum umsah, hatte ich einen Moment lang den Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben. Das Geschnatter war verstummt, die Menschen schienen mitten in ihren Bewegungen erstarrt zu sein, und ich hörte ein schrilles Summen. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich vor einer der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens stand.
Mit einem dumpfen Knall landete mein Rucksack wieder auf dem Tisch. Dann holte ich meine Bleistifte aus der Tasche, schob meinen Stuhl zurecht und bereitete mich auf die zweite Runde vor. Hätte ich mir die Musik für meinen Lebensfilm aussuchen dürfen, wäre meine Wahl damals sofort auf das James-Bond-Thema gefallen. Zugegeben, das Ausrichten der Bleistifte ist keine tolle Eröffnungsszene, aber für mich war es vergleichbar mit einer Heldentat.
Im nächsten Teil ging es um Fremdsprachen, und ich war schlau genug, Englisch zu wählen. Monatelang hatte ich mich mit Übersetzungen gelangweilt und Kung-Fu-Videos mit Untertiteln versehen. Das sollte sich jetzt auszahlen. Ich musste einen Bericht über die russische freie Marktwirtschaft aus dem Englischen ins Japanische übersetzen und schließlich einen kurzen Text über die soziale Entwicklung in der modernen Gesellschaft aus dem Japanischen ins Englische. Mit beiden Aufgaben war ich vor der nächsten zehnminütigen Pause fertig.
Dann kam der Aufsatz. Das Thema hieß gaikokujin, also Ausländer, ein Thema, nach dem jeder Ausländer immer wieder gefragt wurde und über das er an der Sophia Aufsätze schreiben musste. Diesmal hatte ich also Glück, und manchmal ist es besser, Glück zu haben, als gut zu sein.
Wie sich schließlich herausstellen sollte, hatte ich beim Japanischtest zwar schlecht abgeschnitten, war aber dennoch von 100 Bewerbern 19. geworden. Damit war ich im Japanischen besser als zehn Prozent der japanischen Kandidaten. Im Fremdsprachentest wurde ich sowohl bei der englisch-japanischen als auch bei der japanisch-englischen Übersetzung Erster. Bei der englischen Übersetzung hatte ich sogar Punkte verloren, was aber nicht viel darüber aussagte, wie gut ich die englische Sprache beherrschte. Für meinen Aufsatz bekam ich eine Drei, mehr für den Inhalt als für die Grammatik. Insgesamt erhielt ich für die ersten drei Teile der Prüfung 79 von 100 Punkten und kam damit auf den 59. von 100 Plätzen. Das war zwar nicht gerade berauschend, aber ich wurde dennoch zu einem Gespräch eingeladen. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass jemand ein Auge zudrückte, weil ich beim Japanischtest die Rückseite des Blattes übersehen hatte.
Das erste Gespräch drei Wochen später war angenehm kurz. Ich hatte zunächst die Möglichkeit, meinen Patzer zu erklären, dann wurde ich gefragt, was ich von dem Job erwarte und ob ich bereit sei, Überstunden zu machen. Natürlich versicherte ich, dass ich bereit war, sehr hart zu arbeiten. Als Nächstes wurde mein Wissen über die Yomiuri geprüft. Ich verwies auf die Artikel über thailändische Prostituierte, die mich sehr beeindruckt hatten. Das brachte mir bei den Tokioter Journalisten sicherlich Punkte ein.
Abschließend hieß es, es werde noch zwei weitere Gespräche geben. Doch dann hörte ich wochenlang nichts mehr.
Jetzt war ich nervös. Was als beinahe spielerische Herausforderung begonnen hatte, lag nun im Bereich des Möglichen. Jeden Tag ging ich früh nach Hause und wartete auf das Klingeln des Telefons. Ich las fleißig die Zeitung und studierte noch intensiver Japanisch. Mir war klar, dass ich besser werden musste, wenn ich in diesem Job bestehen wollte. Also begann ich auch fernzusehen, um mein Hörverständnis zu verbessern.
Eines Tages hatte ich dann doch genug von der Warterei, deshalb ging ich ins Kabukicho-Kino, um mir einen schlechten Horrorstreifen anzusehen.
Als ich danach auf dem Heimweg war, stieß ich auf einen lustig aussehenden Tarot-Wahrsageautomaten am Eingang einer Spielhalle. Vielleicht konnte es ja helfen, in dieser ungewissen Situation einen Experten zu konsultieren, dachte ich.
Also
steckte ich 100 Yen in das Gerät. Der Monitor leuchtete auf, dann
erschien ein Wirbel in Grün und Rosa. Nachdem ich die
Kategorie »Jobs« und meine Wahrsagerin – Madame Tantra – gewählt
hatte, gab ich meine persönlichen Daten ein. Madame Tantra, eine
sympathische japanische Frau mit Schultertuch und einem roten Mal
auf der Stirn wie eine Hindupriesterin, erschien in einem
rauchenden Feuer auf dem Bildschirm und ließ mich Karten aussuchen.
Dazu rollte ich die Maus in Form einer Kristallkugel hin und her
und klickte auf die Kartenstapel auf dem virtuellen
Tisch.
Das endgültige Urteil: Schwertkönig, aufrecht.
Erfolg.
Schlüsselwort: Neugier
Du eignest dich am besten als Werbetexter oder Redakteur oder für einen anderen Beruf, der mit Schreiben zu tun hat. Dafür sind literarische Fähigkeiten und in gewissem Umfang auch eine allgemeine Neugier notwendig. Da du beide Eigenschaften besitzt, kannst du sie bestimmt sinnvoll nutzen. Wenn du deine Antennen immer nach Informationen ausstreckst und deine Neugier wach hältst, ist das Schicksal auf deiner Seite.
Ich war begeistert, der Spruch schien mir so zutreffend, dass ich den Ausdruck behielt. Von der Unterstützung des Schicksals beflügelt nahm ich den letzten Zug nach Hause und hörte sofort meinen Anrufbeantworter ab. Die Yomiuri hatte tatsächlich angerufen und mir ein zweites Gespräch angeboten.
Beim zweiten Treffen waren drei Männer anwesend. Zwei von ihnen schienen mir wohlgesinnt zu sein, aber der dritte sah mich an, als wäre ich eine Fliege auf seinem Pausenbrot. Ich hatte den Eindruck, dass ich ein umstrittener Bewerber war. Nach einer Weile fragte mich einer von ihnen ernst:
»Sie sind Jude, nicht wahr?«
»Ja, auf dem Papier.«
»Viele Leute in Japan glauben, dass die Juden die Weltwirtschaft beherrschen. Was halten Sie davon?«
Rasch antwortete ich: »Wenn dem so wäre, wäre ich dann hier und würde mich als Zeitungsreporter bewerben? Ich weiß, was man im ersten Jahr verdient.«
Das war offenbar die richtige Antwort, denn der Mann kicherte und zwinkerte mir zu. Weitere Fragen gab es nicht.
Als ich aufstand, um zu gehen, hielt mich einer von ihnen auf und meinte: »Adelstein-san, es gibt nur noch eine Gesprächsrunde. Wenn Sie dazu eingeladen werden, haben Sie es fast geschafft. Wir rufen die in Frage kommenden Kandidaten am 12. Juli an – und wir rufen nur einmal an.«
Da saß ich dann also angespannt und aufgeregt am 12. Juli 1992 in meiner kleinen Wohnung mit den Füßen im Kühlschrank und einer Hand am Telefon. Und der Anruf kam abends um 21.30 Uhr.
»Herzlichen Glückwunsch, Adelstein-san. Sie wurden für die letzte Gesprächsrunde ausgewählt. Bitte kommen Sie am 31. Juli ins Yomiuri-Gebäude. Haben Sie noch Fragen?«
Ich hatte keine.
Das letzte
Gespräch verlief sehr gut. Alle lächelten, und die Atmosphäre war
entspannt. Schwierige Fragen gab es kaum. Nur einer der Anwesenden
wollte mir eine komplizierte Frage zur japanischen
Politik stellen, doch hatte er einen so ausgeprägten Osaka-Dialekt,
dass ich ihn kaum verstand. Das versuchte ich zu vertuschen, indem
ich wie ein Psychiater Teile seines letzten Satzes wiederholte und
dann vage anmerkte: »Ja, so kann man das Problem natürlich auch
sehen.« Er wertete meine Antwort offenbar als völlige Zustimmung,
und ich machte mir nicht die Mühe, ihn davon
abzubringen.
Dann kamen die beiden letzten Fragen:
»Können Sie am Sabbat arbeiten?«
Das war kein Problem.
»Dürfen Sie Sushi essen?«
Das war auch keines.
Danach klopfte mir Matsuzaka-san, einer der Personalleiter, der für einen Japaner erstaunlich jüdisch aussah, auf die Schulter und sagte: »Meinen Glückwunsch. Betrachten Sie sich als eingestellt. Die nötigen Unterlagen erhalten Sie mit der Post.«
Als er mich zur Tür brachte, flüsterte er mir verschwörerisch ins Ohr: »Ich war auch auf der Sophia. Ihre Lehrer haben Sie gelobt. Schön, dass wir jetzt zu zweit sind.« Es war kaum zu glauben, ich hatte wirklich Glück gehabt, dass einer von den Leuten, die über mich urteilen sollten, ein ehemaliger Sophia-Student war.
Ich weiß nicht, warum das Schicksal mir so gewogen war, aber sicherheitshalber warf ich auf dem Heimweg ein paar Münzen auf den Haufen vor dem Buddha im Garten des Nezu-Museums.
Diesem Buddha schuldete ich nämlich noch etwas Geld, das ich mir einmal für die U-Bahn geborgt hatte – und ich bezahle meine Schulden immer.