Zurück im Revier

Es ist schwer, sich vorzustellen, wie es ist, wenn man keine Luft mehr bekommt. Und es ist noch schwerer, sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn man keine Luft mehr bekommt, weil ein Yakuza-Schläger einen gegen die Wand drückt und dabei die eine Hand den Hals zudrückt, die andere Hand einem in die Rippen boxt und die Füße in der Luft baumeln.

Aber Sie wären überrascht, welche Gedanken einem dabei durch den Kopf gehen.

Ich stand am Eingang einer sogenannten »russischen Kneipe«, einem Zentrum des Menschenhandels in Tokio. Die Frauen wurden aus Russland, der Ukraine und anderen Ländern herbeigeschafft, angeblich um als Hostessen zu arbeiten. Aber sie wurden schnell der Yakuza übergeben, die sie dann als Prostituierte arbeiten ließ.

Dieser Club befand sich im zweiten Stock eines dreistöckigen
Gebäudes in Ikebukuro, was wörtlich »Tümpelsack« bedeutet. Die Gegend wurde ihrem Namen wirklich gerecht. Der Club hieß »Moscow Mule«.

Er war einer der neueren Clubs. Helena hatte mir von ihm erzählt, und ich wollte ihn mir ansehen. Wie bei den meisten Clubs dieser Sorte war Ausländern der Eintritt verboten. Das Problem mit Ausländern besteht darin, dass ihnen die anderen Ausländer leid tun, die in den Clubs arbeiten – und dass sie die Polizei oder eine Nichtregierungsorganisation verständigen.

Wenn ich leise und völlig emotionslos sprach und einen Anzug und eine dicke Brille mit schwarzem Rand trug, konnte ich bei wenig Licht manchmal als Japaner durchgehen. So hatte ich mich in den Club hineingeschmuggelt, aber die Frau, die ich interviewte, brach zusammen und weinte so, dass meine Deckung rasch aufflog.

Der achtfingrige, schlecht tätowierte, pockennarbige, riesige Türsteher hatte wohl Verdacht geschöpft, denn er packte mich, zerrte mich nach draußen und schlug auf mich ein. Ich hatte nicht viel entgegenzusetzen und dachte, dass ich wohl bald tot sein würde. Aber so wollte ich die Welt dann doch nicht verlassen. Leider war ich immer noch ein lausiger Kampfsportler. Obwohl ich Karate und Aikido gemacht hatte, fehlte mir das nötige Talent, um richtig gut zu werden. Das größte Kompliment, das ich jemals von meinem Karatelehrer gehört hatte, lautete: »Du machst eigentlich alles falsch. Deine Haltung ist furchtbar, deine Art ist furchtbar, und deine Bewegungen sind lahm – aber trotzdem funktioniert es manchmal, weil du die Prinzipien dahinter kapiert hast. Das ist verblüffend.«

In dieser Situation hatte ich allerdings nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, mit welchem raffinierten Griff ich meinen Hals von der Hand meines Gegners befreien könnte, um wieder atmen zu können. Aber während ich ans Atmen dachte, fiel mir ein, was mein alter Aikidolehrer – ein Polizist – mir einmal über die wirksamste aller Aikidobewegungen gesagt hatte. Sie ist effektiv, weil selbst der größte Mann der Welt ohne Sauerstoff nicht überleben kann.

Also versteifte ich meine Finger und stieß sie mehrere Male in die kleine Mulde unter dem Kehlkopf, so fest und schnell ich konnte. Das war ein fundamentaler atemi. Die Hiebe ins fleischige Gewebe fühlten sich gut an. Der Typ kippte um, und ich konnte wieder atmen.

Er rang nach Atem und fiel keuchend auf die Knie. Während er dort unten kauerte, wölbte ich meine Handflächen und schlug damit so fest wie möglich auf seine Ohren. Diese Bewegung heißt happa-ken, »reißende Faust«. Angeblich kann dabei das Trommelfell des Gegners platzen, was ihn aus dem Gleichgewicht bringt, Übelkeit erzeugt und starke Schmerzen hervorruft. Es schien zu funktionieren.

Er stöhnte und fiel nach hinten. Ich trat ihm ins Gesicht, dann rannte ich so schnell ich konnte davon. Ich lief bis zum Bahnhof Ikebukuro, wo ich in ein Taxi sprang und den Fahrer anwies, mich nach Roppongi zu bringen. Erst als ich im Taxi saß und tief Luft holte, spürte ich, wie sehr meine Rippen schmerzten.

Ich dachte keine Sekunde daran, die Polizei zu verständigen. Natürlich hätte ich angeben können, in Notwehr gehandelt zu haben, aber ich war mir nicht sicher, ob ich nicht zu weit gegangen war. Außerdem war ich Ausländer, was meistens bedeutete, dass ich als schuldig galt, solange ich nicht meine Unschuld nachweisen konnte. Es war also sehr wahrscheinlich, dass ich in den Knast wandern würde, und darauf war ich nicht besonders scharf. Früher hatte ich unter dem Schutz der mächtigen Yomiuri gestanden, aber jetzt war ich ein Niemand, ein Mann ohne Visitenkarte und ohne normalen Beruf. Ich war nur ein ehemaliger Journalist, der in Japan für eine ausländische Regierung ermittelte, ohne echte Rückendeckung. Das war sicherlich gefährlich, aber meiner Meinung nach lohnte sich mein Einsatz. Gut gegen Böse. Und ich war der Gute. Ich musste einfach vorsichtiger sein.

Am nächsten Tag rief ich einen Freund aus dem Drogendezernat an. Ich hatte beobachtet, dass einige Mädchen auf Drängen des Geschäftsleiters hinten im Lokal Kokain oder Meth geschnüffelt hatten. Ich wusste also, dass dort Drogen zu finden waren. Die Frau, mit der ich mich unterhalten hatte, hatte gesagt, dass sie am liebsten sofort nach Hause fahren wollte. Ich vermutete, dass ihr Wunsch auf diese Weise am schnellsten in Erfüllung gehen würde. Was hätte ich auch sonst tun sollen?

Eine Boha-Weste, die vor Stichverletzungen schützt, hatte meine Rippen gerettet. Wenn jemand Sie in Japan umbringen will, wird er Sie wahrscheinlich nicht erschießen, sondern erstechen. Denn bei Verwendung einer Schusswaffe fallen die Strafen für ein Verbrechen viel strenger aus. Das ermutigt die Täter natürlich dazu, ein Messer zu benutzen. In den letzten Jahren wurde die Strafe für Schusswaffengebrauch erheblich verschärft. Es ist eine Straftat, eine Schusswaffe zu besitzen oder abzufeuern, und wenn jemand mit einer Schusswaffe verletzt oder getötet wird, gilt das als strafverschärfender Umstand. Das hat zu einer Renaissance des japanischen Schwertes als bevorzugte Waffe der Yakuza geführt, und darum trug ich eine Boha-Weste.

Mit meinen Nachforschungen kam ich gut voran. Meine Aufgabe war nicht, die Opfer aufzuspüren, sondern die Täter zu entlarven – die Ausmaße der Sexsklaverei zu ermitteln und diesen ganzen Bereich detailliert zu beschreiben. Ich sollte herausfinden, wie die Frauen ins Land gebracht wurden, wer sie ins Land brachte, wer davon profitierte und welche Politiker und Bürokraten den Menschenhändlern halfen. Ein ehemaliger Beamter der Einwanderungsbehörde verriet mir den Namen eines japanischen Senators – Koki Kobayashi –, der ihn persönlich dazu gedrängt hatte, nicht mehr gegen die illegalen Sexclubs vorzugehen. Und ich kannte den Namen einer Organisation, die als Art Lobby für Menschenhandel fungierte – Zengeiren. Ihre Jahrestreffen fanden in der Zentrale der Liberaldemokratischen Partei (LDP) statt. Unglaublich!

Da noch nicht viel Zeit vergangen war, seitdem ich Polizeireporter gewesen war, war mein Informationsnetz noch intakt. Natürlich brauchte ich Hilfe, daher rief ich Helena an und lud sie zum Essen ein, zumal ich gehört hatte, dass sie sich von ihrem Verlobten getrennt hatte und daher etwas niedergeschlagen war. Ich konnte nicht nur ein wenig Hilfe gebrauchen, sondern wollte sie auch aufheitern. In Nishi-Azabu gab es ein großartiges japanisches Restaurant mit halbprivaten Räumen, gut beleuchtet und ruhig. Wir hatten ausgemacht, uns vor dem Haus zu treffen.

Ich wartete draußen an der Treppe, und sie fuhr mich mit ihrem Motorrad fast über den Haufen. Ich musste zurückspringen. Dann parkte sie, nahm den Helm ab, schüttelte ihr langes Haar und lachte. Sie trug ihre übliche Lederjacke, eng anliegende Bluejeans und ein kariertes Hemd, das aussah, als habe sie es einem mageren Holzfäller gestohlen. Ihr Lippenstift war rabenschwarz. Sie sah großartig aus – etwas müde, aber großartig.

»Hallo, du Arsch, lange nicht gesehen.«

»Arsch? Damit kannst du ja unmöglich mich meinen.«

»Du weißt doch, dass ich das nett meine.«

»Ja, klar.«

Irgendwie überredete sie mich zu einer Fahrt auf ihrem Motorrad. Als ich noch Reporter gewesen war, hatte sie mich ein paar Mal nach Hause gefahren, und ich hatte nach der Fahrt kaum noch stehen können, weil ich die Maschine so fest mit den Beinen umklammert hatte. Ich stieg auf, legte die Arme um ihre Taille, und sie warf ihren Helm ins Gebüsch neben dem Restaurant. Als ich protestierte, rief sie nur: »Genieß das Leben, Jake. Das wird dir gut tun. Vertrau mir!«

Sie ließ den Motor aufheulen, und bevor sie die Bremse löste, blickte sie über die Schulter und sagte: »Schön, dich wiederzusehen. Ich wusste, dass du nicht lange fortbleiben kannst.«

Dann fuhren wir los. Wahrscheinlich genoss sie es, dass ich mich schrecklich fühlte. Sie raste durch Gassen, jagte bei Rot über Kreuzungen und kurvte wild herum. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie fuhr.

20 Minuten lang rasten wir ziellos umher, vorbei an den Ruinen des Verteidigungsministeriums, dann die Roppongi-dori entlang und zum Schluss zurück zum Restaurant.

Dort sprang sie leichtfüßig vom Motorrad ab, während ich mich mühsam herunterschälte.

Dann lächelte sie mir zu, holte ihren Helm, und wir gingen wortlos die Treppe hinauf, um zu essen. Dort weihte ich sie in meine neue Tätigkeit ein und erklärte ihr, warum meine Rückkehr in die Heimat nicht ganz geklappt hatte. Dann unterhielten wir uns über gemeinsame Freunde, ich berichtete von meinen Nachforschungen und sie von ihrer Arbeit.

Sie schämte sich immer noch nicht wegen ihres Jobs. Sie sprach so darüber, wie ich mit befreundeten japanischen Reportern über unser Handwerk sprechen würde. Wie sich herausstellte, war einer ihrer treuen Kunden ein Kollege, den ich flüchtig kannte.

»Hast du deinen Job eigentlich immer noch nicht satt?« Das hatte ich sie immer schon fragen wollen. Und ich fand auch, dass sie viel mehr aus sich hätte machen können.

»Weißt du, irgendwie mag ich meine Arbeit. Ich habe ja versucht, Englisch zu unterrichten, und dabei ganz gut verdient, aber ich hasse diesen Job. Vor allem wenn ich mich mit Grammatikfreaks herumärgern muss. Wie lautet der Imperativ des Plusquamperfekts? Wen interessiert denn so was? Als ich mich zum ersten Mal für Sex bezahlen ließ, habe ich begriffen, dass ich meinen Lebensunterhalt viel lieber liegend als im Stehen verdienen will. 50 000 Yen – selbst wenn ich jeden Tag 48 Stunden lang Englisch unterrichten würde, könnte ich nicht so viel verdienen.«

Damit hatte sie natürlich recht.

»Adelstein«, fuhr sie fort und tippte mir mit ihren Essstäbchen auf den Kopf, damit ich aufpasste, »du reißt dir den Arsch für Kleingeld auf. Und ich verdiene 100 Dollar pro Minute. Weißt du, warum?«

»Keine Ahnung.«

»Weil die meisten Japaner nur zwei Minuten durchhalten. Vielleicht jagt ihnen die große Gaijin-Frau ja Angst ein. Ich weiß nicht. Sie sind drin und fertig, bevor man es richtig merkt. Was mich verrückt macht, sind die Kerle, die nur reden wollen. Wie dieser Typ vom Rundfunk. Er ist nie mit Sex zufrieden. Ich wollte, er wäre es, weil ich dann nicht das Kindermädchen und die Psychiaterin und die Englischlehrerin spielen müsste. Wenn ich ihn so labern höre, denke ich nur: ›Verdammt, lass uns ficken, damit ich es hinter mir habe und dich loswerde.‹ Manchmal halte ich es einfach nicht mehr aus, dann öffne ich seinen Reißverschluss, hole seinen Schwanz heraus und blase ihm einen. Die meisten Männer halten dabei den Mund. Du wahrscheinlich auch, obwohl du sonst fast nie den Mund hältst.«

Ich lachte. »Du hast natürlich recht. Was das Einkommen pro Minute anbelangt, kann ich mit dir nicht mithalten. Aber deprimiert dich das Ganze nicht ein bisschen?«

»Doch, aber dafür habe ich ja das Kokain. Ein bisschen davon, und schon bin ich bereit zum Blasen.«

Darüber konnte ich nicht lachen. »Um Himmels willen, Helena«, rief ich, »du bist doch zu klug, um diesen Dreck zu nehmen. Was ist nur los mit dir?«

Sie zuckte mit den Schultern, legte den Kopf schräg und zwinkerte mir zu. »Na ja, es macht den Sex soooo viel besser. Und die Arbeit ist so langweilig. Ich brauche etwas, um den Tag durchzustehen. Manchmal auch die Nacht.«

»Willst du so enden wie diese armen Bastarde voriges Jahr? Erinnerst du dich an die Typen, die dachten, dass sie Koks nehmen und stattdessen eine Überdosis reines Heroin konsumierten? Du kannst dich mit diesem Zeug umbringen. Das weißt du doch, oder?«

»Ja, ich weiß. Ich habe die Übersetzung deines Artikels gelesen. Du hast ihn mir geschickt.«

Ich hielt ihr noch eine Weile eine Standpauke, denn ich war wirklich wütend. Sie schmollte ein bisschen und senkte den Blick.

»Ich wusste, dass du sauer auf mich sein würdest. Tut mir leid.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Hör einfach auf, diesen Dreck zu nehmen.«

»Ich weiß. Ich höre ja auf, ehrlich.«

Ich wechselte das Thema. Wir unterhielten uns über The Gate, die Übersetzung eines Romans von Natsume Soseki, den ich ihr zum Lesen gegeben hatte. Dann lud sie mich zu einem Schlummertrunk in ihre Wohnung ein.

Sie wohnte in der Nähe von Shibuya. Zuerst nahm ich ihr allerdings das Versprechen ab, vorsichtig zu fahren. Sie versprach es, aber vermutlich hätte ich sie fragen sollen, was genau sie darunter verstand, bevor ich die Maschine wieder bestieg.

Als wir bei ihr waren, steckte sie ein Album von Death Cab for Cutie in ihre Stereoanlage, und wir setzten uns auf das Sofa, um zu reden. Sie zündete ein paar Kerzen an, goss australischen Rotwein in Kaffeetassen und reichte mir eine Tasse. Dann legte sie ihre Beine auf meine und schmiegte sich an mich. Ich hatte nichts dagegen, legte einen Arm um ihre Schulter und war sehr zufrieden. Einen ganzen Song lang blieben wir so sitzen. Und es war einer der wenigen Momente in den letzten paar Jahren, in denen ich das Gefühl hatte, im Frieden mit der Welt zu leben.

»Wie geht es dir eigentlich wirklich, Helena? Ich habe gehört, dass du dich von deinem Verlobten getrennt hast? Was ist denn passiert? Willst du darüber reden?«

»Verdammt, nein. Zur Hölle mit diesem elenden Dreckskerl.«

»Ich dachte nur, dass du vielleicht darüber reden willst. Ich hör dir gerne zu.«

»Ehrlich?«

»Klar.«

Dann erzählte sie mir, was passiert war. Sie war mit Carl zusammen gewesen, der für eine der ausländischen Firmen arbeitete, die Büros in Japan eröffnet hatten. Er sah gut aus, liebte Windsurfen und schien Helena wirklich gern zu haben. Sie waren eine ganze Weile verlobt gewesen.

Carl war misstrauisch geworden, nachdem er in ihrer Brieftasche die Karte des Sexclubs gefunden hatte, in dem sie arbeitete. Daraufhin hatte er einen seiner japanischen Kollegen gebeten, sich diesen Club anzusehen, da er als Ausländer keinen Zutritt hatte.

»Na ja« – Helena fiel es schwer, weiterzusprechen –, »sein japanischer Kumpel ist in den Club gekommen und hat mich gefickt. Und er hat das Ganze mit der Videokamera aufgenommen. Ist das nicht krank? Ich meine, das ist doch pervers. Es war so verdammt demütigend. Carl hätte es auch herausfinden können, ohne mir so nachzuspionieren. Was hat er denn geglaubt, woher das Geld für unsere Reisen nach Bali stammt? Ich habe doch alles bezahlt, und das geht wohl kaum mit dem Gehalt einer Englischlehrerin.«

»Und wie ging es weiter?«

»Eines Nachts kam ich von der Arbeit nach Hause, da wartete er auf mich vor der Wohnung. Zuerst lächelte er und benahm sich normal. Ich hatte keine Ahnung. Dann meinte er, dass er da etwas habe, was ich mir anschauen solle, und steckte das Video in den Player. Mein Gott, es war furchtbar. Ich versuchte, es ihm zu erklären.«

Sie machte eine Pause und trank eine Tasse Wein in einem Zug leer. Ich goss nach. Sie wandte sich von mir ab und starrte die Wand an.

»Er war echt wütend, überschüttete mich mit Beleidigungen und schlug mich. Mehrere Male. Zum Schluss stieß er mich aufs Bett, zog meinen Rock hoch, streifte meinen Slip herunter und fickte mich. Dabei nannte er mich immer wieder eine Hure. Als er fertig war, ging er. Und das war’s.«

Eigentlich kannte ich die Antwort auf die Frage schon, die ich stellen wollte, aber ich stotterte ein wenig herum. Da unterbrach sie mich und meinte: »Na ja, ich kam nicht gerade dazu, eine Einwilligungserklärung zu unterschreiben. Angenehm war das nicht.«

Sie begann ein wenig zu weinen, lachte aber auch gleichzeitig. »Weißt du, er hat zwischendurch geschluchzt. Was für ein Weichei! Ich glaube, er hat mich wirklich geliebt. Ich habe auch geweint, denn es hat wehgetan, sehr wehgetan.«

Manchmal ist es am besten, einfach den Mund zu halten. Meist rede ich auch in solchen Momenten, aber diesmal nicht. Ich umarmte sie nur etwas fester, strich ihr übers Haar und hielt ihre Hand. Als die CD zu Ende war, hörte ich nur noch den Straßenverkehr und Helenas leises Weinen. Ich hielt sie lange fest.

Am nächsten Tag trafen wir uns in einem »Starbucks« zum Kaffee. Ich hatte einige gute Spuren aufgetan und wollte nun weiterkommen. In einem eleganten und extrem teuren Wohnblock in den Roppongi Hills Residences hatte eine angeblich gemeinnützige Gruppe namens International Entertainment Association (IEA) ihre Büros. Eigentlich bestand ihre Aufgabe darin, zwischenstaatliche Freundschaften zu fördern, aber in Wahrheit besorgte sie Ausländerinnen für den Sexhandel. Einer der Angestellten war vorbestraft, weil er illegale Arbeitskräfte beschäftigt hatte – ausländische Prostituierte. Das war wohl kaum gemeinnützig zu nennen.

Ich bat Helena, sich dort umzusehen. Sie hatte gute Kontakte und kannte jeden in Roppongi. Ich riet ihr auch, vorsichtig zu sein, doch sie schien mir gar nicht zuzuhören, war richtig aufgeregt und wollte mir unbedingt helfen.

»Hör zu«, sagte ich und hob einen Finger. »Wenn du etwas erfährst, ist das großartig. Aber schnüffle nicht zu viel herum. Denn ich weiß nicht viel über die Leute in dieser Gruppe, nur dass sie nicht besonders nett sind.«

»Verstanden, ich werde vorsichtig sein.«

»Frag einfach ein bisschen herum. Wenn du aber den Eindruck hast, dass du in Gefahr bist, dann hör auf damit. Meine Nummer hast du. Ruf mich jederzeit an – in den Staaten oder hier.«

»Ich verspreche dir, dass ich aufpasse.«

»Okay. Gut.«

Dann fragte ich sie, wie lange sie noch in Japan bleiben wolle. Sie sagte, dass sie im Frühjahr nach Australien gehen wolle, dort habe sie ein Haus gekauft. Vielleicht würde sie wieder aufs College gehen und »Literatur oder etwas ähnlich Nutzloses« studieren.

Ich stand auf, überließ ihr einiges Material und wollte gehen. Da tippte sie mich auf die Schulter, streckte die Arme aus und schüttelte den Po ein wenig.

»Bekomme ich denn keine Umarmung mit auf den Weg?«

»Klar doch.«

Im März rief sie mich dann in den Staaten an. Sie hatte sich umgehört und ging davon aus, dass die International Entertainment Association eine Tarnorganisation der Goto-gumi war.

Ich ließ vor Schreck fast den Hörer fallen.

»Dann hör sofort auf mit den Nachforschungen!«, rief ich. Aber sie war eingeschnappt, weil sie wohl dachte, dass ich überreagierte oder sie für zu schwach hielt. Vielleicht war sie auch high, jedenfalls warf ich ihr das vor. Daraufhin entwickelte sich unser Gespräch zu einem Streit, und sie hängte plötzlich auf.

Ich versuchte, sie zu erreichen, aber sie ging nicht mehr ans Telefon. Am nächsten Tag probierte ich es wieder einige Male. Dann rief ich einen Freund an und bat ihn, nach ihr zu sehen. Er tat es – aber niemand war in ihrer Wohnung. Ich traute mich nicht, die Polizei zu verständigen, weil Helena sonst als Prostituierte verhaftet worden wäre. Also musste ich sie selbst suchen und durfte keinen einzigen Tag verlieren. Daher buchte ich sofort einen Flug nach Japan. Sunao tobte vor Wut.

Auf der langen Reise schickte ich ihr immer wieder E-Mails. Nach meiner Ankunft ging ich sofort zu dem Club, in dem sie gearbeitet hatte, doch sie war nicht da. Im Club arbeiteten überhaupt keine Ausländerinnen mehr. Meine E-Mails blieben unbeantwortet, und der Hauswirt sagte, dass sie seit zwei oder drei Tagen nicht nach Hause gekommen sei.

Nach einer Woche gab es schließlich keinen Zweifel mehr daran, dass sie aus ihrem Apartment verschwunden war und tagsüber nicht mehr als Englischlehrerin arbeitete – ich hatte auch das überprüft. Sie hatte keine Nachsendeanschrift hinterlassen und nichts aus ihrer Wohnung mitgenommen.

Ich war ratlos.

Schließlich tat ich das Einzige, was mir einfiel: Ich machte mich an die Arbeit. Die IEA hing irgendwie mit der Goto-gumi zusammen, dieser Spur musste ich also folgen.

Wenn Goto etwas mit Helenas Verschwinden zu tun hatte – was nicht auszuschließen war –, dann wollte ich das herausfinden. Und selbst wenn er nichts damit zu tun hatte, hätte ich schon längst mit dem Artikel über seine Lebertransplantation weitermachen sollen. Das lenkte mich zwar von meinen Recherchen über den Menschenhandel ab, aber es war kein völlig anderes Thema. Natürlich ging ich damit ein Risiko ein und trat Goto wahrscheinlich erneut auf den Schlips, aber das kümmerte mich wenig. Vermutlich hatte ich es ohnehin schon getan. Da ich das Gift bereits gegessen hatte, konnte ich auch noch den Teller ablecken, wie die Japaner zu sagen pflegen.