Yakuza-Geständnisse
Wie war Goto in die USA gelangt? Allmählich kam ich der Lösung dieses Rätsels näher, denn ich hatte eine Spur und einen guten Informanten, der viel wusste und reden wollte.
Es war ein klarer, kalter Tag im Dezember 2006, als ich in einem sehr hübschen Krankenhaus mitten in Tokio Masaki Shibata besuchte, einen ehemaligen Yakuza. Er war ein sehr intelligenter Mann und er war mit dem Kaiser der Kredithaie befreundet gewesen. Wie klein die Welt doch ist.
Ich war gerade dabei, das Projekt »Menschenhandel« abzuschließen, und stellte gleichzeitig weitere Nachforschungen an, um Geld zu verdienen. Helena blieb verschwunden, und ich machte mir große Sorgen um sie.
Ich hielt mich mal in den USA, mal in Japan auf. Den Kindern schien ihr neues Heim zu gefallen, und sie lernten schnell Englisch.18 Natürlich gab es auch Anpassungsprobleme. Besonders schwierig fand ich, dass die USA anders als Japan keine Krankenversicherung für jedermann hatten. Das war schlimm, als Beni an hohem Fieber litt und wir es uns eigentlich nicht leisten konnten, sie in die Notaufnahme zu bringen – außer wenn es wirklich nicht mehr anders gegangen wäre. In Japan wären wir einfach mitten in der Nacht hingefahren, ohne lange darüber nachzudenken. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mir über die Kosten einer ärztlichen Behandlung Gedanken machen müssen.
Die öffentliche Gesundheitsfürsorge in Japan kann schlecht sein, aber in den meisten Fällen ist sie gut, zumindest besser als nichts.
Doch eines ist seltsam in Japan: Fast jedes Restaurant ist makellos, die Fußböden glänzen, die Theken sind sauber, die Tischdecken sind strahlend weiß. Aber für Krankenhäuser gilt das nicht. Dort sind die Böden meist mit einer dünnen Staubschicht überzogen, und die Bettwäsche hat nach dem Waschen noch Flecken. Die Fenster sehen aus, als wären sie seit Jahrzehnten nicht mehr geputzt worden. Man muss die Schuhe ausziehen und in schimmelige Pantoffeln schlüpfen, um durch schwach beleuchtete Korridore zu gehen, die mit medizinischen Geräten und Versorgungsmaterial vollgestopft sind.
Shibatas Krankenhaus jedoch war anders. Man durfte Schuhe tragen und die Räume waren sauber und hell.
Ich meldete mich nicht an, um keinen Hinweis darauf zu hinterlassen, dass ich Shibata besucht hatte oder kannte.
Shibata war ein wichtiger Mann in seiner Yakuza-Gruppe gewesen, doch jetzt war er kein Mitglied mehr. Als man bei ihm Leberkrebs festgestellt hatte, war ihm plötzlich bewusst geworden, was für ein böses Leben er geführt hatte. Dass so viele Yakuza an Leberkrebs erkranken, hat mit ihren Tätowierungen zu tun. Denn die meisten lassen sich als Jugendliche tätowieren, und die Nadeln sind oft nicht sauber. Viele leiden an Hepatitis C, außerdem trinken sie eine Menge. Und diese Kombination ist wohl ziemlich schädlich. Zudem legen die Tattoos die Schweißdrüsen fast lahm, sodass der Körper Gifte nicht mehr so leicht loswerden kann, was die Organe belastet.
Shibata wusste, dass er keine neue Leber bekommen würde, und beschloss, mit der Welt Frieden zu schließen und tätige Reue zu üben, wo es möglich war. Er heiratete eine Malaysierin, die in einem seiner Clubs arbeitete, und hatte ein Kind mit ihr.
Zum Glück
wollte Shibata mit jemandem reden, um für seine Sünden Buße zu tun.
Ein buddhistischer Priester brachte uns zusammen – das nennt
man tsumihoroboshi. Natürlich wurde vorher festgelegt, was er mir
erzählen würde und was ich damit anfangen sollte. Er wusste, dass
die Zeitungen nach seinem Tod schlimme Nachrufe
schreiben würden. Und ich musste ihm versprechen, seinem Sohn zu
erklären, dass sein Vater auch eine andere Seite gehabt hatte, dass
er versucht hatte, ein besserer Mensch zu werden. Und ich sollte
dem Jungen einen verschlossenen Brief übergeben.
Shibata sah ziemlich schlecht aus. Patienten mit fortgeschrittenem Leberkrebs sind leichenblass, gelblich. Ganz so weit war er noch nicht.
Wenn die Leberfunktion immer weiter nachlässt, bleiben immer mehr Gifte im Körper, die eigentlich herausgefiltert werden sollten. Der Kranke vergiftet sich so selbst. Manche Menschen werden dabei gewalttätig oder fallen ins Delirium.
Bevor ein Reporter mit einer Befragung beginnt, sollte er höflicherweise ein wenig Konversation machen. Daher erwähnte ich, dass ich auf dem Weg in die Klinik am »Hotel Yaesu Fujiya« vorbeigekommen sei und an die Ermordung von Eiju Kim im Jahr 2002 gedacht hatte.
Ich konnte mich noch lebhaft an die Szene vor dem Hotel erinnern. Irgendwie war es mir gelungen, hinter das gelbe Absperrband der Polizei bis zu der Leiche zu gelangen. Das Blut war so reichlich geflossen, dass es auf der Straße einen Teppich bildete.
Trotz des vielen Blutes auf den Kleidern sah ich sofort, dass das Opfer gut angezogen war. Ich bin zwar nicht modebewusst, aber ich erkenne einen guten Anzug, wenn ich einen sehe. Das hübsche Hemd mit Fischgratmuster war dunkelgrau und eindeutig maßgeschneidert.
Ich knipste ein paar Bilder, bevor ein aufgeregter Polizist mich am Arm packte und hinter das gelbe Band zog. Dabei bemerkte ich, dass meine Schuhe eine Blutspur hinterließen. Vermutlich hätte man mir vorwerfen können, einen Tatort verändert zu haben, aber der Täter war bereits festgenommen worden, daher hatte ich kein sonderlich schlechtes Gewissen.
Shibata fragte: »Waren Sie dort?«
»Ja, ich habe die Leiche gesehen.«
Eiju Kim,
genaues Alter unbekannt, wahrscheinlich Ende 40, Japaner
koreanischer Herkunft und Chef der Yakuza-Gruppe Kyoyou-kai in
Osaka, die Teil der Yamaguchi-gumi war, hatte vor dem »Hotel
Fujiya« ein hitziges Gespräch mit Naoto Kametani geführt, dem Chef
der Rokkorengo-Bande, die ebenfalls zur Yamaguchi-gumi gehörte.
Beide waren eng befreundet.
Kim, der von Kenichi Takanuki, 30, begleitet wurde, seinem Untergebenen und Fahrer, brach dann das Gespräch ab und stieg in ein großes schwarzes Autos ein, das neben ihnen parkte. Takanuki setzte sich ans Lenkrad. Kametani blieb neben dem Wagen zurück.
Als das Auto auf die Straße einbog, zog Kametani eine Pistole und durchlöcherte den Wagen. Kim war sofort tot. Der Fahrer konnte aus dem Wagen springen, wurde dann aber ebenfalls erschossen. Kametani floh zu Fuß, kam aber nicht weit, dann ergriffen ihn die Polizisten, die zufällig anwesend waren, und nahmen ihn fest. Auf den ersten Blick handelte es sich eindeutig um Mord. Aber Gewalt zwischen Yakuza-Gruppen war äußerst ungewöhnlich und selten.
»Wollen Sie die wahre Geschichte dahinter hören?«
»Ja, sehr gerne.«
»Okay.«
Doch statt zu reden, schien Shibata in Gedanken zu versinken. Ich
musste ihn daran erinnern, dass ich gerne die wahre
Geschichte hören wollte. Er nickte. Dann begann er zu
sprechen.
Es war eine unglaubliche Geschichte. Sie handelte von Schmiergeldern, die man im Büro des Staatsanwaltes in Osaka gefunden hatte, von Drohungen gegen die Presse und einem gewaltigen Vertuschungsmanöver. Trotzdem blieb einiges unklar, es wirkte ein bisschen wie eine dieser Verschwörungstheorien, von denen es in Japan viele gibt. Ich könnte Einzelheiten nennen, aber ich möchte meine natürliche Lebensspanne möglichst ausschöpfen. Aber natürlich wollte ich mehr wissen.
»Wo ist der Beweis dafür?«, fragte ich.
»Ich bin der verdammte Beweis. Es ist wahr, weil ich sage, dass es wahr ist«, erwiderte Shibata nachdrücklich. Trotz seines bleichen, eingesunkenen Gesichts spürte ich eine Sekunde lang die enorme Kraft, die ihn früher zu einem Vollstrecker gemacht hatte, der Menschen nur mit seinem Blick einschüchtern konnte.
»Aber das Ganze leuchtet mir immer noch nicht ganz ein.«
»Sie sind der Reporter. Finden Sie’s heraus.«
»Exreporter.«
»Ja klar. Egal. Das ist alles Vergangenheit, das kümmert niemanden mehr. Aber ist es Ihnen nie komisch vorgekommen? Haben Sie sich nie gefragt, warum Kametani kein Wort über sein Motiv verloren hat? Warum er 20 Jahre bekommen hat und nicht lebenslänglich?«
»Na ja, ich nehme an, dass er für einen Mord an einem normalen Bürger lebenslänglich bekommen hätte.«
»Sie Hundesohn. Wenn ein Yakuza einen Yakuza umlegt, dann kräht wohl kein Hahn danach.«
Darüber musste ich kurz nachdenken. »Wissen Sie, das Gleiche habe ich einmal zu einem Polizisten in Saitama gesagt, und wir schlossen eine Wette ab. Die Folge war, dass ich seine ganze Familie zu einem koreanischen Grillabend einladen musste. Sie bestellten wagyu!19 Wollen Sie die Geschichte hören?«
Er nickte.
Sie
ereignete sich vor einigen Jahren, als Sekiguchi noch gesund war.
Am 16. November 1994 war die Feindseligkeit zwischen der
Kokusui-kai und der Yamaguchi-gumi übergekocht. Die Kokusui-kai
schlug zuerst zu. Zwei Mitglieder der Yamaguchi-gumi, die ihr Büro
in
Tokio besucht hatten, wurden niedergeschossen und schwer verwundet.
Am nächsten Tag rächte sich die Yamaguchi-gumi dafür. Der
Bandenkrieg weitete sich über zwei Präfekturen aus – Saga und
Yamanashi –, dann erreichte er Shinjuku in Tokio und schließlich
Saitama.
Ich hatte erwartet, dass an diesem Tag etwas geschehen würde, und wurde nicht enttäuscht. Ich hing gerade im Presseclub der Polizei herum, wo ein älterer Kollege mich in die Feinheiten des mahjong einweihte, als plötzlich ein Pressesprecher angerannt kam und etwas über eine Schießerei zwischen zwei Personen erzählte. Ich fuhr per Anhalter zum Tatort.
Er befand sich in einem sechsstöckigen Gebäude im Herzen von Konosu. An der Bürotür der Kokusui-kai hing ein Schild mit der Aufschrift »Private Ermittlungen im Osten und im Europa«. Es war eines der drei Privatdetektivbüros in der Gegend, die der Kokusui-kai als Tarnfirmen dienten. Sie annoncierten sogar in den Gelben Seiten.
Schläger, die nach Yakuza aussahen, gingen aus und ein, schrien in ihre Handys und ignorierten die Polizisten, die überall herumschwärmten und den ganzen ersten Stock mit gelbem Band absperrten. Auf dem Gehweg war Blut zu sehen, aber keine Leiche.
Ich knipste so viele Fotos, wie ich nur konnte. Ein Yakuza, der eine übergroße Sonnenbrille und einen weißen Velourstrainingsanzug trug, starrte mich an, während er telefonierte, dann wedelte er heftig mit der Hand, als wolle er sagen: »Wage es ja nicht, mich zu fotografieren!« Ich tat es trotzdem.
Das gefiel ihm nicht. Er stampfte auf mich zu und schrie dabei Obszönitäten, die ich nicht verstand, weil er das r rollte und nach Art der Yakuza knurrte. Wahrscheinlich hatte er das aus schlechten Yakuza-Filmen abgeschaut. Die italienischen Mafiosi orientieren sich an Hollywoodfilmen, und die japanischen Yakuza machen es ähnlich. Der Yakuza gehören sogar die meisten Studios, in denen diese Filme entstehen. Oft sind sogar die Statisten in den Yakuza-Streifen tatsächlich Yakuza. Die furchterregenden Typen, die gerade vor mir standen, waren jedoch mit Sicherheit keine Schauspieler.
Ich zeigte auf mein Yomiuri-Armband. »Ich bin Reporter. Ich darf fotografieren.«
Der Kerl ließ sich von meinem schlagenden Argument leider nicht beirren und griff nach meiner Kamera.
Ich zog sie zurück, drohte ihm mit dem Finger und machte »ts-ts«. So dreist war ich allerdings nur, weil Sekiguchi gerade auf dem Schauplatz erschienen war. Er trug schwarze Jeans, einen marineblauen Pullover, eine lange Lederjacke und Lederhandschuhe. Die Haare hatte er nach hinten frisiert. Er sah viel mehr nach Yakuza aus als jeder echte Yakuza.
Als der Typ im weißen Trainingsanzug sich näherte, um mir an den Kragen zu gehen, schrie Sekiguchi seinen Namen und fügte hinzu: »Beweg deinen fetten Arsch weg von hier und hör auf, das gottverdammte Telefon zu benutzen!« Der Mann wich zurück, starrte mich aber weiter an.
Sekiguchi kam näher, um Patronenhülsen zu suchen, und flüsterte: »Jake, übertreiben Sie es nicht. Machen Sie sich diese Typen nicht zum Feind. Die haben wenig Sinn für Humor.« Dann meinte er noch: »Kommen Sie heute Abend vorbei.«
Ich nickte. Wir hielten uns eisern an die Regel, niemals länger am Tatort miteinander zu sprechen. Ich blieb noch eine Weile dort und versuchte, ein paar Augenzeugenkommentare zu erhalten. Im ersten Stock versicherte mir eine Bar-Hostess: »Ich wusste, dass die Leute da unten keine richtigen Detektive waren. Aber ich wusste nicht, dass sie Yakuza waren. Sie waren bis heute sehr ruhig.«
»Nun wissen Sie es aber. Haben Sie jetzt Angst?«, fragte ich und versuchte, sie behutsam in die gewünschte Richtung zu lenken.
»Na ja«, sagte sie, während sie an einer Zigarette zog, »eigentlich nicht. Es ist wie mit dem Blitz. Er schlägt nie zweimal ein, oder?«
Eine völlig unbrauchbare Bemerkung.
Aber ich brachte einen pensionierten Lehrer im zweiten Stock dazu, etwas Passenderes zu sagen: »Ich habe immer befürchtet, dass das passieren würde. Und jetzt ist es passiert. Ich habe solche Angst, dass ich am liebsten ausziehen möchte. Warum kann die Polizei nichts gegen so gefährliche Leute unternehmen?«
Das wäre brauchbar gewesen, aber den problematischen Inhalt musste ich leider streichen. Denn wenn die Polizei weiß, wo sich die Yakuza-Büros befinden, und die Bürger es ebenfalls wissen, warum schließt die Regierung sie dann nicht? Das war eine heiße Sache. Ich glaube, die gedruckte Version der Aussage lautete dann: »Ich hoffe, die Polizei schnappt diese Leute.«
Eine Hausfrau, die nebenan wohnte, sagte: »Wenn eine dieser Kugeln ihr Ziel verfehlt hätte ... Ich möchte gar nicht daran denken. Zum Glück wurde niemand verletzt.« Nun, das war zwar wahr, aber es entsprach auch nicht ganz den Tatsachen, weil zwei Yakuza sich in einem kritischen Zustand befanden. Doch wenn nur zwei Yakuza niedergeschossen wurden, dann bedeutete dies für die meisten Leute, dass niemand verletzt worden war.
Ich reichte meinen Artikel ein, machte ein Nickerchen und fuhr dann zu Sekiguchi.
Er kam gegen zehn Uhr. Ich war schon in seinem Haus und saß mit den Füßen unter dem kotatsu neben Yuki-chan, seiner älteren Tochter, die mich charmant dazu verdonnert hatte, ihr bei ihren Englisch-Hausaufgaben zu helfen. Chi-chan, die Jüngere, schaute sich im Fernsehen ein schreckliches Musical an und knabberte kandierten Tintenfisch. Frau Sekiguchi las die Zeitung. Das Haus war so klein, dass ich fast die Wände berühren konnte, wenn ich die Arme ausstreckte, aber es war gemütlich.
Sekiguchi kam herein, warf seine Jacke auf den Tatami, setzte sich sofort zu uns auf den Boden und steckte die Füße unter den kotatsu.
»Otsukare-sama«, sagte ich. Diese Standardbemerkung bedeutet in
etwa: »Harter Job, Sie sind bestimmt müde.« »Wie kommen die
Ermittlungen voran?«
»Tja, die Kokusui-Kerle kooperieren nicht. Sie reden nicht. Aber der Täter hatte eine Menge Mumm.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, denken Sie an ähnliche Überfälle – ein paar Schüsse in die Tür. Was bringt das schon? Aber dieser Typ ist ein verdammter Kamikaze. Er klingelt an der Tür, geht ins Büro und fragt: ›Wer ist hier der Chef?‹ Noch bevor er eine Antwort bekommt, geht er zu einem der Kokusui-kai-Schläger, die dort herumsitzen, und schießt ihm in die Brust und in den Bauch. Dann dreht er sich um und knallt einen anderen Ganoven ab. Danach geht er hinaus, er rennt nicht etwa, er geht. Da ist dann dieser 18-jährige Yakuza-Möchtegern auf der Straße, der ihn packen will und ihm die Kanone entreißen will, die er in der rechten Hand hält. Kein ebenbürtiger Kampf, der Täter sticht dem Jungen mit der anderen Hand in den Bauch. Und schon ist er weg. Der Hausmeister hört den Krach, rennt die Treppe herunter, befördert die drei Verwundeten in sein Auto und bringt sie ins Krankenhaus. Dann wird die Polizei gerufen. Die Spurensicherung ist noch dort.«
»Wissen Sie, welche Waffe er benutzt hat?«
»Wahrscheinlich eine Tokarew, eine russische Pistole. Heutzutage muss jeder Yakuza so eine haben.«
»Worum ging es bei dem Streit?«
Sekiguchi zündete sich eine Zigarette an. »Das werden Sie kaum glauben. Ich habe gehört, dass zwei Kerle von der Yamaguchi-gumi das Büro der Kokusui-kai im Tokioter Bezirk Taito besucht haben. Einer von ihnen hieß Nakai. Sein Freund hat einen Verkehrsunfall verursacht, an dem ein Typ von der Kokusui-kai beteiligt war. Darum gingen Nakai und sein Kumpel hin, um die Wogen zu glätten oder die Rechnung zu begleichen, was auch immer. Nakai ist anscheinend ein Großmaul und er hat wohl etwas gesagt, was die Kokusai-kai-Ganoven verärgert hat. Daraufhin hat einer von ihnen, ein heißblütiger Koreaner, seine Waffe gezogen, und schon liegen die Typen von der Yamaguchi-gumi auf dem Boden.«
»Also ein Bandenkrieg wegen eines Verkehrsunfalls?«
»Ja und nein. Da steckt natürlich mehr dahinter. Die Yamaguchi-gumi kontrolliert Kansai (Westjapan) und beherrscht etwa 40 Prozent des Marktes. Sie versuchen seit Jahren, sich nach Tokio auszubreiten. Die Kokusui-kai fühlt sich aber schon bedroht, wenn die Ganoven von der Yamaguchi-gumi ihr Revier auch nur betreten. Niemand will sie hier haben. In Saitama haben sie kein Büro, noch nicht. Darum glaube ich, dass die Sache nur Teil eines größeren Streits war, nach dem Motto ›Kommt uns bloß nicht in die Quere‹ oder so. Aber das spielt jetzt keine große Rolle mehr. Denn wenn die Kugeln fliegen, gibt es kein Zurück.«
Zur Zeit dieses Bandenkrieges war die Kokusui-kai die drittgrößte kriminelle Gruppe in Saitama, nach der Sumiyoshi-kai und der Inagawa-kai. Sie hatte 18 Büros und ungefähr 230 bekannte Mitglieder. Jetzt bewachten Polizisten jedes einzelne Büro.
Sekiguchi meinte, dass es nicht ungewöhnlich sei für Yakuza, ein Detektivbüro als Tarnung zu benutzen. Beliebter seien aber Immobilien- und Baufirmen. Die Leute von der Kokusui-kai hatten mit ihrem Detektivbüro gut verdient. Wenn sie einen Fall von Untreue übernahmen, zogen sie ihrem Klienten erst so viel Geld wie möglich aus der Tasche; wenn sie dann herausfanden, dass der Partner ihn hintergangen hatte – was meist der Fall war –, erpressten sie diesen mit der Drohung, ihrem Klienten die Wahrheit zu sagen. Es war ein einträgliches kleines Geschäft.
Am Morgen
des 18. erhielt die Tokioter Polizei einen Anruf von
einem Mann, der behauptete, der Schütze gewesen zu sein.
»Die Schießerei in Konosu? Ich war der Kerl.«
Er wollte sich am Nachmittag mit seiner Waffe stellen, was er auch tat. Er hieß Takehiko Sugaya, damals 27 und Mitglied der Yamaguchi-gumi.
In Saitama wurde Sekiguchi damit betraut, Sugaya zu vernehmen. Sekiguchis Fähigkeiten als Vernehmungsbeamter waren sprichwörtlich. Yakuza waren dafür bekannt, sofort Geständnisse abzulegen, weil sie fürchteten, während des Verhörs belastende Aussagen zu anderen Straftaten zu machen. Sekiguchi war aber auch bei Wirtschaftskriminellen erfolgreich, obwohl er im Gegensatz zu den anderen Kripobeamten nicht an einer Eliteuniversität studiert hatte und keine noble Herkunft vorweisen konnte. Angeblich behandelte er Yakuza respektvoll wie wichtige Leute, während er Bürokraten und Wirtschaftskriminelle behandelte, als seien sie der Abschaum der Erde.
Ich wartete einen Tag, bevor ich ihn besuchte. Inzwischen war ein Fall, in dem es darum ging, dass Yakuza Belege gefälscht und Spielhallen-Besitzer um Millionen Dollar betrogen hatten, fast gelöst. Der Bandenkrieg war zu Ende, und da sich der Täter gestellt hatte, war das Ganze Schnee von gestern. Aber Sekiguchis Arbeit war noch nicht beendet.
Während Frau Sekiguchi noch spät am Abend Reis für uns briet, tauschten wir Neuigkeiten aus. Sugaya sei ein harter Brocken, meinte Sekiguchi. Er behauptete standhaft, dass er den Job allein geplant und niemand ihn dazu beauftragt habe. Doch Sekiguchi hatte gute Gründe, ihm das nicht zu glauben. Denn wer Rivalen aus dem Verkehr zog und sich dann stellte, wurde bei der Yamaguchi-gumi meist befördert, sobald er seine Strafe abgesessen hatte. Das war so eine Art Übergangsritus. Oft ging sogar der wahre Täter straffrei aus, und die Organisation opferte für ihn ein anderes Mitglied. Sekiguchi wollte daher herausfinden, ob Sugaya wirklich der Schütze gewesen war. Zum Glück verfügte er über Augenzeugen, da die Opfer noch am Leben waren.
Ich nahm einen langen Zug von meiner Zigarette und versuchte, Rauchringe zu blasen. Dann machte ich die dumme Bemerkung des Tages: »Gut, aber welche Rolle spielt das schon? Sugaya wird verurteilt und nach drei oder vier Jahren freigelassen. Es kümmert doch niemanden, wenn ein Yakuza einen anderen umlegt, erst recht nicht, wenn er den anderen nur verwundet.«
»Ja, das ist ein echtes Problem.«
»Ein Problem?«
»Warum sollen diese Ganoven glimpflicher davonkommen als alle anderen Leute? Das Verbrechen ist das Gleiche. Sie wissen natürlich, dass die Gerichte sie anders behandeln, und das ermutigt sie zu Bandenkriegen. Sie schießen schneller aufeinander, weil sie wissen, dass sie dafür nicht lange sitzen müssen.«
»Ja, das mag sein, aber Sugaya wird trotzdem nur vier Jahre bekommen – höchstens. Schauen Sie sich doch die Statistik an.«
»Ich werde ihn vernehmen und ich könnte erreichen, dass er zehn Jahre kriegt.«
»Zehn Jahre? Sie träumen, Sekiguchi-san.«
»Mindestens zehn Jahre.«
»Da wette ich mit Ihnen. Wenn Sie es schaffen, dass dieser Bursche zehn Jahre eingesperrt wird, lade ich Sie und Ihre Familie zu einem yakiniku20 ein. Sie können jedes beliebige Rindfleisch bestellen. Wenn er aber weniger als zehn Jahre bekommt, müssen Sie mir eine Liste aller Yakuza-Büros und ihrer Chefs in Saitama geben.«
Sekiguchi drückte seine Zigarette aus. »Diese Wette werden Sie noch bereuen, ich habe zwar zwei kleine Töchter, aber die essen wie fünf kleine Jungs. Stellen Sie sich auf eine saftige Rechnung ein!«
Frau Sekiguchi kicherte über uns Streithähne. »Ich fürchte, Jake-san, Sie werden die Wette verlieren.«
Ich versicherte ihr, dass ich noch nie in meinem Leben eine Wette verloren hatte. Dann gab ich zu bedenken: »Für Körperverletzung gibt es niemals zehn Jahre, nicht einmal, wenn der Täter eine Schusswaffe benutzt hat.«
»Wer spricht denn von Körperverletzung? Das ist versuchter Mord.«
Daran hatte ich nicht gedacht, aber dafür musste man erst den Vorsatz nachweisen.
»Hat Sugaya vielleicht ›Stirb, du Bastard!‹ oder ›Ich bring dich um!‹ gerufen?«
Sekiguchi zuckte zusammen. »Nein, das hat er nicht.«
»Wie wollen Sie ihm dann den Vorsatz nachweisen?«
»Hier gilt der Rechtsgrundsatz ›mihitsu no koi‹. Wenn man einer Person aus nächster Nähe in die Brust und in den Bauch schießt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie stirbt. Das weiß jeder Mensch.«
»Aber Sugaya ist nicht dumm, er wird einfach behaupten, dass er seinen Opfern nur Angst einjagen wollte. Immerhin hat er ihnen die Pistole ja nicht an den Kopf gehalten. Nur ein paar Schüsse, dann ist er weggelaufen. In Panik. Kein Tötungsvorsatz.«
»Sie sind auf dem Holzweg, Jake-kun. Der Kerl ist ein brutaler Kämpfer, dem war es egal, ob die beiden starben oder überlebten. Es hat ihm Freude gemacht, zu schießen.«
»Mag sein, aber wer ist schon so dumm, das zuzugeben?«
»Ach, mir wird er es sagen.«
»Na dann viel Glück. Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich die Liste abholen kann.«
Wir setzten unser Geplänkel auch nach der Wette fort. Sekiguchi ließ keinen Zweifel daran, dass er die Yamaguchi-gumi verabscheute und froh war, dass Saitama nicht ihr Revier war. »Sobald sie in einer Präfektur Fuß gefasst haben, breiten sie sich wie Krebsgeschwüre aus. Ich würde die Sumiyoshi-kai diesen Typen jederzeit vorziehen.«
Sekiguchi erreichte schließlich tatsächlich, dass Sugaya wegen versuchten Mordes und Verstoßes gegen das Waffengesetz angeklagt wurde. Er appellierte an Sugayas »männlichen Stolz« und brachte ihn so dazu, die Wahrheit zu sagen. Sugaya wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, und ich musste die Familie Sekiguchi zum yakiniku ausführen und für eine Mahlzeit – inklusive erstklassigem japanischem Rindfleisch – 30 000 Yen (300 Dollar) hinblättern.
Shibata lächelte.
»Jake-san, manchmal sind Sie wirklich ein bakayaro (Dummkopf). Sie hätten nie mit diesem Cop wetten dürfen. Sogar ich habe von Sekiguchi gehört. Er war kein Freund von uns, aber alle haben ihn respektiert. Und dieser Sugaya – den bewundere ich. So waren die Yakuza früher. Sie begingen ein Verbrechen, und dann saßen sie ihre Strafe ab. Das war gokudo. Sie haben nicht gejammert oder gebettelt wie die heutigen chinpira. Sie lebten wie Männer und nahmen ihre Strafe auf sich wie Männer. Die heutigen Nichtsnutze haben Angst vor dem Knast. Verdammte Schwächlinge. Darum überlassen wir die Drecksarbeit den Chinesen und Iranern. Wenn die geschnappt werden, reden sie nicht, und sie werden einfach ausgewiesen. Wenn Sugaya entlassen wird, wird er keine Organisation mehr finden, in die er zurückkehren könnte, keinen Ort, an dem man sein ehrenvolles Verhalten würdigen würde.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Heute geht es doch nur noch um Geld. Treue zum oyabun, Ehre, Ausdauer, Verpflichtungen – das alles zählt nicht mehr viel. Die Kokusui-kai, auf deren Leute Sugaya geschossen hat, gehört jetzt zu uns. Voriges Jahr haben wir uns vereinigt. Jetzt sind wir also in Tokio. Bald werden wir das ganze Land beherrschen. Aber ich glaube nicht, dass das eine gute Sache ist.«
Ich war ein wenig verdutzt. »Sie sind doch selbst ein Yakuza. Sind Sie nicht stolz auf Ihre Organisation?«
Er lachte. »Vielleicht war ich mal stolz, Mitglied zu sein. Aber wenn das Ende naht, denkt man anders. Man beginnt sich zu fragen, ob alles richtig ist, was man für selbstverständlich gehalten hat. Die Organisation, der ich beigetreten bin, ist nicht mehr wie früher. Sie ist zu groß geworden, und darum hat sie vieles nicht mehr im Griff. Viele Yakuza kennen keine Regeln mehr, sie respektieren normale Bürger nicht mehr, sie respektieren gar nichts mehr. Sie sind in allen möglichen Mist verwickelt. Besonders die Goto-gumi.«
»Ist es wirklich schlimmer als früher?«, fragte ich.
Er schwieg eine Weile, legte die Hände auf die Knie und holte tief Luft. »Vielleicht war es schon immer so«, seufzte er dann, »ich weiß es nicht. Ich habe in meinem Leben viel Böses getan, aber manches habe ich auch richtig gemacht. Ich habe nie den oyabun betrogen, ich habe nie einen Freund hintergangen, und ich bin nie einem Kampf ausgewichen. Das ist vielleicht nicht viel, aber das sind meine Werte.«
»Das sind wichtige Tugenden.«
»Allerdings. Also, was möchten Sie wissen?«
»Ich habe zwei Fragen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass Sie sie nummerieren sollen. Fragen Sie einfach.«
»Ich vermisse eine Freundin. Ich habe sie seit einigen Monaten nicht mehr gesehen.«
»Wie heißt sie?«
»Helena.«
»Haben Sie ein Foto?«
Ich gab ihm eines. Er betrachtete es, dann sah er mich an.
»Ich brauche Einzelheiten.«
Also weihte ich ihn ein, sagte ihm, wer sie war und worum ich sie gebeten hatte. Er zuckte ein wenig zusammen, als ich die Goto-gumi und die Tarnorganisation erwähnte, murmelte etwas und bedeutete mir, zu ihm ans Fenster zu kommen. Da ich ihn kaum hören konnte, beugte ich mich vor.
Dann schlug er mir mit solcher Wucht ins Gesicht, dass ich umfiel und auf dem Hintern landete. In meinen Ohren dröhnte es so laut, dass ich fürchtete, eines könne taub geworden sein. Dann stand er auf, schaute mich finster an und bedeutete mir mit der Hand, aufzustehen. Obwohl er etwas schwer atmete, schien es ihm gut zu gehen, was man von mir nicht behaupten konnte.
»Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?«, schrie er mich an.
»Ich wusste das nicht.«
»Das hätten Sie wissen müssen. Sie sind doch kein Kind mehr, sondern ein Mann. Sie hätten sie niemals bitten dürfen, sich um diese Organisation zu kümmern. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
»Verdammt noch mal, Shibata. Ich habe ihr ja gesagt, dass sie aufhören soll.«
»Und Sie hätten wissen müssen, dass sie nicht aufhören würde. Sie hatten diese Frau gern, vielleicht mehr als das, und sie hatte Sie gern. Warum also sind nicht Sie dieses Risiko eingegangen? Manchmal sind Sie so verdammt clever, Jake-san, und manchmal so ein schrecklicher Idiot.«
Er reichte mir die Hand und half mir auf. Sein Griff war stark. Dann setzte er sich wieder.
»Ich werde mich umhören. Ich glaube nicht, dass Sie die Antworten bekommen werden, die Sie haben wollen, aber ich werde fragen. Was wollen Sie sonst noch wissen?«
»Ich weiß, dass Goto nicht der Einzige war, der sich in Amerika eine neue Leber hat einpflanzen lassen. Da gab es wohl noch andere, und ich hätte gerne einige Namen.«
Shibata schüttelte den Kopf und starrte ein paar Minuten auf den Boden. Dann hob er den Kopf und schaute mir in die Augen. Ich weiß nicht, was er da sah, aber er nickte wieder.
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, und ich halte das nicht für klug. Aber ich verstehe es. Sind Sie sicher, dass Sie damit weitermachen wollen? Es ist kemono no michi.«
»Kemono no michi?«
»Manchmal legen Tiere in den Bergen Pfade an, indem sie denselben Weg immer wieder benutzen. Wenn Sie nicht wissen, was das ist, könnten Sie glauben, dass Menschen den Pfad gemacht haben – so sieht er nämlich aus. Wenn Sie dem Pfad folgen, dann kommen Sie aber nirgendwo hin. Wenn Menschen sich verirren und einem solchen Pfad folgen, führt sie das weiter in die Wildnis, manchmal sterben sie sogar. Es ist kein Weg für Menschen, es ist ein gefährlicher Weg. Sind Sie sicher, dass Sie diesen Weg gehen wollen? Er wird Sie nicht dorthin bringen, wohin Sie wollen.«
»Schauen Sie, mir geht es nur um meine Story. Ich habe nicht vor, etwas Verrücktes zu tun.«
»Nein, Sie haben überhaupt keinen Plan. Denken Sie darüber nach. Behalten Sie den richtigen Weg im Auge, nicht den falschen.«
Dann schlug mir der alte Bastard erneut ins Gesicht, diesmal sogar noch härter. Und als ich zu Boden stürzte, trat er mir in den Bauch. Es gelang mir, meinen Brechreiz zu unterdrücken, aber ich krümmte mich wie ein Fötus zusammen. Dabei kam ich mir furchtbar dumm vor, und ich hatte Angst. Richtig Angst.
»Ich mache keine Scherze. Sie dürfen nicht leichtsinnig sein. Trauen Sie niemandem. Vielleicht denken Sie ja, dass das hier schmerzhaft ist. Aber was Goto Ihnen oder Ihren Freunden antun wird, wenn er erfährt, was Sie vorhaben, wird tausendmal schmerzhafter sein. Also machen Sie bloß keinen Blödsinn.«
»Ich hab’s kapiert.«
»Gut. Und jetzt setzen Sie Ihren faulen Arsch in Bewegung und holen mir noch ein paar Zigaretten. Ich habe keine mehr.«
Ich holte ihm die Zigaretten. Da ich ihm aber lieber nicht mehr so nahe kommen wollte, warf ich ihm die Packungen aus einiger Entfernung zu. Er fing sie auf und kicherte. Danach unterhielten wir uns noch einige Zeit.
2007 starb
Shibata, aber vorher verriet er mir noch einen Namen: Hisatoshi
Mio, Gründer der Mio-gumi. Er war ein Helfershelfer des Kaisers der
Kredithaie, Kajiyama. Das ergab Sinn. Goto hatte Kajiyama
beigebracht, Geld durch Las Vegas zu schleusen. Es war also keine
Überraschung, dass Goto auch Mio kannte. Ich war mir jetzt ziemlich
sicher, dass der Fall Goto kein Einzelfall war. An
der UCLA war etwas sehr Seltsames im Gange. Ich hielt mein
Versprechen und überreichte Shibatas Frau den Brief ihres Mannes,
und sie versprach mir, ihn ihrem Sohn zu geben, sobald er lesen
konnte. Wahrscheinlich kehre ich eines Tages zurück und prüfe das
nach.
Über Helena erfuhr ich von Shibata nichts.
Sekiguchi folgte Shibata im Herbst desselben Jahres. Auf einen Schlag hatte ich meinen wichtigsten Yakuza-Informanten und meinen wichtigsten Polizeiinformanten verloren. Was sollte jetzt aus meiner Goto-Story werden? Es sah düster aus.
Sekiguchi
war 48 Jahre alt. Ich hatte ihn und seine Familie fast
14 Jahre lang gekannt. Er tat seinen letzten Atemzug an einem
regnerischen Tag Ende August um 15.45 Uhr. Meine Familie und ich
waren zu der Zeit nach Japan gekommen und wohnten bei meiner
Schwiegermutter. Das war gut für die Kinder – sie sprachen sehr gut
englisch und mussten nun ihr Japanisch verbessern.
Am Tag vor unserer beabsichtigten Rückreise in die USA, etwa am 29. August, aßen wir gerade chinesisch, als Sekiguchis Frau anrief und mich über seinen Tod unterrichtete. Ich wollte den Flug verschieben und zur Beerdigung gehen. Alle außer den Kindern ärgerten sich darüber. Ich hatte einen heftigen Streit mit Sunao und meiner Schwiegermutter. Denn sie waren beide der Meinung, dass ich zur Totenwache gehen sollte, falls es eine gab. Aber die Familie konnte ich bei meinem nächsten Aufenthalt in Japan besuchen. Ich jedoch war anderer Meinung. Kaum vorstellbar, dass ein verrückter jüdischer Bursche und ein zehn Jahre älterer Kriminalbeamter so gute Freunde werden konnten, aber genau das war in diesen vielen Jahren geschehen. Ich wollte daher bleiben, aber Sunao blieb stur. Ich fragte sie, ob sie nicht mit den Kindern allein nach Hause fahren könne. Ich würde sie zum Flughafen bringen und dafür sorgen, dass jemand sie in Amerika abholte und nach Hause brachte. Aber ich bekam nur den Vorwurf zu hören, dass ich meine egoistischen Bedürfnisse über die meiner Familie stellte.
Wir verließen das chinesische Restaurant und kehrten zurück zu Sunaos Elternhaus. Ich wollte zumindest die Familie Sekiguchi besuchen und dem Toten die letzte Ehre erweisen. Um zehn Uhr abends fuhr ich daher im Taxi durch den Regen zu Sekiguchis Haus im trostlosen Konan. Sunao begleitete mich. Wir redeten nicht miteinander. Es regnete so heftig, dass das Taxi unterwegs ein- oder zweimal anhalten musste. Der Fahrpreis betrug fast 250 Dollar.
Wir kamen um Mitternacht zu Sekiguchi. Ich fühlte mich fast wie in der alten Zeit, aber es war anders. Ich trug einen schwarzen Anzug, den ich mitgebracht hatte, und eine schwarze Krawatte, die ich von Sunaos Mutter ausgeliehen hatte.
Ich weiß, dass Beerdigungen und Totenwachen sinnlose Rituale sind – aber nicht für die Hinterbliebenen. Ich hatte Sekiguchi versprochen, zu seiner Beerdigung zu gehen, dabei einen guten Anzug zu tragen und, wenn möglich, passende Socken anzuziehen. Ich schuldete ihm daher zumindest ein Räucherstäbchen. Man sollte meinen, dass es jedem klar ist, dass manche Versprechen über den Tod hinaus gelten. Zu den wenigen Dingen, die ich in meinem Leben bereue, gehört, dass ich nicht bei seiner Beerdigung war, obwohl ich es versprochen hatte.
Sein Leichnam war schon im Haus, als ich ankam. Er war nicht nach buddhistischer Sitte aufgebahrt, wie es in Japan üblich ist, sondern sollte ein Shinto-Begräbnis erhalten. Darum lag er auf einem Futon im Wohnzimmer. Mit Shinto-Ritualen kannte ich mich nicht aus. Es war eine neue Erfahrung.
Sekiguchi hatte mir mehr über das Schreiben von Berichten, über Verhöre, Ehre und Vertrauen beigebracht als alle anderen Leute, die ich je gekannt hatte. In gewisser Weise war er mein zweiter Vater. Ich hatte ihm meine Tochter gezeigt, noch ehe ich sie zu meinen Eltern gebracht hatte. Noch im Tod lehrte er mich also etwas über Japan.
Es war
seltsam, ihn so auf dem Tatami-Boden liegen zu sehen. Sie zogen das
weiße Tuch weg, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. Er schien zu
lächeln. Es war das gleiche süffisante Grinsen, das er aufzusetzen
pflegte, wenn er mir ein paar Informationsbrocken hinwarf, einen
schlechten Witz riss oder wenn ich wieder mal eine Wette
verloren hatte.
In den vergangenen Monaten hatte er große Schmerzen gehabt. Selbst Morphium half ihm nicht mehr. Der Krebs wütete in seinem ganzen Körper. Eine Zeitlang war er ins Ariake Cancer Institute in Odaiba gegangen, das etwa drei Stunden von seinem Haus in Saitama entfernt war. Dort wurde er ambulant behandelt. Nachdem man ihn mit Chemikalien und Strahlung traktiert hatte, musste er noch im Zug zurückgefahren, manchmal in der Stoßzeit, wenn es keine Sitzplätze gab.
Ich bestand darauf, dass er nach der Therapie im »Hotel Grand Pacific Le Daiba« in der Nähe der Klinik abstieg und wollte die Rechnung bezahlen. Denn er brauchte Ruhe, bevor er heimfuhr. Natürlich protestierte er und weigerte sich, da er so ein Geschenk als Polizist – es war kaum zu glauben, aber er arbeitete immer noch – nicht annehmen könne. Daher behauptete ich, dass ich für eine Firma arbeitete, der das Hotel gehörte, und das Zimmer kostenlos mieten konnte.
Das war natürlich gelogen. Und ich denke, er wusste, dass es eine Lüge war und dass ich wusste, dass er es wusste. Aber nur so konnte er mein Geschenk akzeptieren, was mir wirklich wichtig war. So ist das eben in Japan. Es gibt ein bestimmtes öffentliches Image, tatemae, eine Fassade, die man aufrechterhalten muss, und es gibt das, was tatsächlich passiert. Mit diesem Trick war ihm und mir gleichermaßen geholfen. »Uso mo hoben« – auch Lügen können eine schlaue Taktik sein – lautet ein Sprichwort aus einem buddhistischen Sutra.
Dieses Sutra erzählt die Geschichte von einigen Kindern, die in einem Haus spielen. Als es anfängt zu brennen, besteht die Gefahr, dass die Kinder verbrennen, wenn sie nicht hinauslaufen. Weil das Spiel ihnen gerade so großen Spaß macht, wollen die Kinder aber das Haus nicht verlassen. Draußen schreien Leute, dass sie herauskommen sollen, aber sie wollen nicht, und die Tür ist von innen versperrt. Da verspricht ihnen jemand köstliche Bonbons, wenn sie herauskommen. Das ist zwar eine Lüge, aber sie lockt die Kinder aus dem Haus, und sie sind gerettet.
Uso mo hoben. Manchmal ja.
Ich wusste, wie ich mich bei einer buddhistischen Beerdigung zu verhalten hatte, aber in diesem Fall war ich ratlos. Daher tat ich, was Frau Sekiguchi mir sagte: Ich gab ihm Wasser und verbeugte mich. Dann legte ich eine Zigarette auf den Tisch mit Speisen, der neben ihm stand.
Nicht die Zigaretten waren an seinem Krebs schuld. Es war ein Verrat. Denn ein Kollege hatte ihn vor ein paar Jahren bei einer Zeitung verleumdet, weil er ihm seinen Erfolg neidete.
Sekiguchis »Verbrechen« hatte darin bestanden, dass er einem Yakuza die Handschellen abgenommen hatte, damit er eine Schale Nudeln essen konnte. Erst danach hatte er ihn ins Revier gebracht, wo er dann eingesperrt wurde. Außerdem hatte Sekiguchi einen Aufstand in einem Gefängnis verhindert, indem er einen Yakuza aus der Zelle geholt und ihm eine Zigarette gegeben hatte. Damit hatte er allerdings gegen die Vorschriften der Polizei verstoßen. Der Kollege, der ihn nicht mochte, informierte einen Reporter der Mainichi Shimbun über diese Vorfälle. Die Zeitung veröffentlichte den Bericht natürlich, und alle anderen druckten ihn nach. Damit war er plötzlich ein »schlechter Polizist«.
Er verlor seinen Posten bei der Kripo, wurde degradiert, verwarnt und für einige Jahre zur Verkehrspolizei versetzt. Das setzte ihm furchtbar zu, wahrscheinlich bekam er damals Krebs. Für mich war der eigentliche Grund für die Erkrankung eine Kombination aus Verrat, Demütigung und Enttäuschung.
Einige Monate vor seinem Tod bat er mich um einige Dinge, und ich habe die meisten meiner Versprechen gehalten. Ich habe ihm versprochen, ab und zu nach seiner Frau und seinen Töchtern zu schauen. Und das tue ich immer noch. Es ist kaum zu glauben, dass die Töchter jetzt richtige Frauen sind. Wenn ich sie treffe, dann sehe ich immer noch das sechsjährige und das neunjährige Mädchen vor mir, die mir einreden wollten, dass ich kein Jude sei, weil alle Juden im Zweiten Weltkrieg umgekommen seien. Das hätten sie in der Schule gelernt. Die Jüngere wollte mich sogar als Musterexemplar mit in die Schule nehmen.
Sekiguchi lebte gut. Und er starb gut. Bei unserer letzten Begegnung hatte er frisch gewirkt. Damals war mir klargeworden, dass er sterben würde. Den meisten Menschen geht es kurz vor dem Ende scheinbar besser. Geistig Verwirrte werden klarer, Krebskranke sehen gesund aus. Am Tag vor seinem Tod hatte er mit seiner Familie gesprochen und hatte viel Positives erzählt. Es war ein gutes Gespräch gewesen. Er verließ die Welt offenbar im Frieden mit sich selbst und mit seiner Familie. Das erzählte mir Frau Sekiguchi, und ich freute mich sehr darüber.
Buddhisten glauben, dass sie nach 49 Tagen wiedergeboren werden, aber Shintoisten werden nach 50 Tagen zu einem Gott, erklärte mir die Familie Sekiguchi. Als ich ihn ansah, dachte ich: Hoffentlich stimmt das, denn es ist immer gut, einen Gott an seiner Seite zu haben.
Ich wusste, dass ich in Schwierigkeiten war. Ich wusste, dass ich meine Familie gefährdet hatte. Und Helena wurde immer noch vermisst.
Ich kann mich immer noch an das Lächeln auf Sekiguchis Gesicht erinnern. Es sah aus, als würde er schlafen. Im Geiste konnte ich ihn mit mir reden hören. Und ich hätte dringend seinen Rat gebraucht, hätte so gerne seine Worte gehört: »Jake, manchmal musst du dich erst zurückziehen und dann zurückschlagen. Überleg, ob das jetzt die richtige Zeit dafür ist.«
Ich hatte auf jeden Fall genug davon, verprügelt zu werden, aber Rückzug kam wohl nicht mehr in Frage. Vielleicht war es ja an der Zeit zurückzuschlagen. Das gefiel mir auf jeden Fall besser als die Alternative.