Zwei Gifte
Helenas Verschwinden veränderte mich. Hätte ich gewusst, was mit ihr passiert war, wäre es mir besser gegangen. Aber die Ungewissheit war schrecklich.
Ich musste unbedingt mehr über Tadamasa Goto erfahren. Wie viel Macht besaß er? Wer waren seine Verbündeten, wer seine Feinde? Shibatas Tod war ein harter Schlag für mich, und Sekiguchis Tod ein noch härterer.
Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich Folgendes über Goto:
Er hatte den Vorstoß der Yamaguchi-gumi nach Tokio angeführt und besaß mehr als 100 Tarnfirmen. Sein Vermögen wurde auf über eine halbe Milliarde Dollar geschätzt. Eine Zeitlang war er sogar der größte Aktionär der Japan Airlines.
Bekannt wurde er, weil er im Mai 1992 den angesehenen Filmregisseur Juzo Itami hatte ermorden lassen wollen. Itami hatte an einem Film mit dem Titel Minbo no onna gearbeitet, der die Yakuza im Gegensatz zu allen bisherigen Yakuza-Filmen als geldgierige, unangenehme Rüpel darstellte und nicht als edle Gesetzlose. Goto gefiel der Film nicht. Vor allem störten ihn Andeutungen, dass die Yakuza ihre Drohungen oft nicht wahr machten. Am 22. Mai überfielen daher fünf Mitglieder seiner Organisation Itami auf dem Parkplatz vor seinem Haus und verletzten ihn schwer.
Von da an unterstützte Itami öffentlich die neuen Gesetze gegen das organisierte Verbrechen, die die japanische Regierung in diesem Jahr auf den Weg brachte, und wurde zu einem Stachel im Fleisch der Gangster. Er war der lebende Beweis dafür, was die Yakuza wirklich taten, nicht was sie vorgaben zu tun. Angeblich nahm er sich ein paar Jahre später selbst das Leben, indem er von einem Hochhaus sprang.
Ich sammelte Hunderte von Seiten Material über die Goto-gumi und nutzte jeden Trick, den ich bei der Yomiuri gelernt hatte. Um ausreichend Informationen zu erhalten, musste ich einige moralische Kompromisse eingehen, aber ich musste auch meinen Feind kennen. Als sehr nützlich für mich erwies sich ein Geheimbericht über Tadamasa Goto und seine Organisation, den die Nationale Polizeibehörde mithilfe aller Polizeireviere des Landes 2001 erstellt hatte. Ein sehr wertvoller Informant gab ihn mir im Austausch für geleistete Dienste.
»Sie zögern nicht, extreme Maßnahmen gegen andere zu ergreifen, wenn es darum geht, einen Überfall oder einen Rachefeldzug zu planen. Sie schlagen in Gegenwart von Frauen und/oder Kindern zu und zwingen diese, grausame, gewalttätige Handlungen zu beobachten, damit sie hinterher nicht zur Polizei gehen.
Die Hinrichtung von Feinden erfolgt wohlüberlegt, und die Planung kann lange dauern. Die Aufgabenverteilung ist klar (Opfer ausspähen, Ausführung des Mordes, Schmiere stehen usw.). Niemand weiß, wer der Auftraggeber ist (deshalb ist keine gründliche Aufklärung möglich). Wenn sie ein Verbrechen begehen, benutzen sie Fahrzeuge von unbeteiligten Personen und gestohlene Autokennzeichen aus anderen Präfekturen (auch das erschwert die Aufklärung).«
Außerdem heißt es in dem Bericht, es sei typisch für diese Organisation, »die Massenmedien einzuschüchtern«. »Mit dem Namen (und der Macht) der Organisation bedrohen sie ernsthaft und unablässig jeden, dessen Reportagen ihnen missfallen.«
Im Jahr 2006, noch bevor ich mit Shibata Kontakt aufnahm, hegte ich bereits den Verdacht, dass nicht nur Goto, sondern auch drei seiner Partner von der UCLA eine neue Leber erhalten hatten.
Es war sehr wichtig, dass Shibata mir Mios Namen verraten hatte, aber in gewisser Hinsicht war es Tadamasa Goto selbst, der mir am meisten half. Wegen der Methoden, mit denen er in seiner Organisation für Ordnung sorgte, hatte er sich in seinem innersten Kreis Feinde gemacht. Der Polizeibericht beschrieb diese Methoden detailliert:
[Bandenmitglieder werden] »mit Zuckerbrot und Peitsche bei der Stange gehalten. Sie werden immer belohnt, wenn es angezeigt ist (Lebensunterhalt der Familie, Unterhalt nach einem Gefängnisaufenthalt, Bargeld, Autos usw.).
Wenn ein Mitglied die Organisation in Schwierigkeiten bringt, degradiert Goto den Schuldigen. Um ein Exempel zu statuieren, verprügelt er ihn vor Gleichgestellten oder zwingt Kollegen, die Strafe auszuführen.«
Gotos Brutalität bewog einen seiner Soldaten, den er gezwungen hatte, einen Freund zu verstümmeln, sich mir zu offenbaren. Er mochte mich zwar nicht besonders, aber er hasste Goto. Und er war nicht mein einziger Informant aus der Organisation, aber er war der zuverlässigste.
Im November 2006 trafen wir uns weit außerhalb von Tokio, und er erzählte mir etwas, das mich völlig verblüffte. Goto hatte in die USA einreisen können, weil das FBI es ihm erlaubt hatte.
Das FBI.
Er gab mir die genauen Daten und verriet mir auch den Namen der Mannes, der alles arrangiert hatte: Jim Moynihan, juristischer Attaché (de facto ein FBI-Vertreter) der amerikanischen Botschaft in Japan.
Ich kannte Jim, er war ein Freund und Mentor. Am liebsten hätte ich es nicht geglaubt, aber ich wusste, dass es stimmte. Jetzt begriff ich auch, warum Goto meinen Artikel unbedingt verhindern wollte: Denn er hatte Freunde verraten, damit man ihn in die USA einreisen ließ. Es war ein ziemlich einfacher Handel. Er hatte den Behörden die Namen einiger Gangsterbosse, Dokumente und Listen von Tarnfirmen gegeben und ihnen sogar die Banken genannt, die in den USA für die Yamaguchi-gumi Geld wuschen. Ein Verrat dieser Größenordnung wurde in der Welt der Yakuza sicherlich nicht toleriert. Genau dieses Verhalten konnte den Ausschluss aus der Organisation oder den Tod bedeuten.
Im Dezember 2006 aß ich mit Jim zu Mittag und fragte ihn vorsichtig, warum zum Teufel er mit diesem Mann paktierte.
Er erzählte mir, was er sagen durfte, und das ergab Sinn. Natürlich verriet er mir nicht alle Einzelheiten, aber es reichte. Meine Akte wurde dadurch dicker.
Die entscheidende Information erhielt ich allerdings im Sommer 2007, als ein Kripobeamter, der im Polizeirevier von Kitazawa pornografische Bilder auf seinen Computer herunterlud, zufällig ein Datenaustausch-Netzwerk namens WINNY knackte – und damit die gesamte Datei der Tokioter Polizei über Tadamasa Goto. Alle wichtigen japanischen Zeitungen berichteten darüber. Ich lud mir die Dateien sofort herunter.
Es war ein Informationsorgasmus. Die Datei enthielt alle seine Flugdaten, die Namen der meisten seiner Freundinnen (mindestens 9 von 15) und andere nützliche Informationen. Jetzt wusste ich, wann er sich in der UCLA hatte operieren lassen und wer ihn begleitet hatte. Eine der genannten Freundinnen war eine berühmte Schauspielerin. Natürlich berichtete die japanische Presse darüber, denn sie liebt Klatsch über Stars. Nicht erwähnt wurde allerdings, dass Burning Productions, Japans größte und mächtigste Talentagentur, auf der Liste der Tarnfirmen stand. Mit diesem Unternehmen konnte Goto Berichte unterdrücken, die ihm nicht gefielen. Denn jeder Fernsehsender, der ihn ärgerte, lief Gefahr, von Japans bekanntesten Schauspielerinnen, Sängern und Entertainern boykottiert zu werden. Das bedeutete auch, dass er fast jede Zeitung, die zur selben Unternehmensgruppe gehörte wie der Sender, indirekt bedrohen konnte. Und die Unterhaltungssendungen waren allemal lukrativer als Nachrichtensendungen.
In diesen vielen Gigabytes fand ich vieles bestätigt, was ich seit Langem vermutet hatte. Nach einem Gespräch mit einem Informanten im amerikanischen Justizministerium und mit Kontaktleuten bei der japanischen Polizei und in der Unterwelt konnte ich das Puzzle endlich zusammensetzen.
Im Januar oder Februar 2001 erfuhr Goto von seinen Ärzten an der Showa-Universität, dass er ohne eine Lebertransplantation sterben werde. Goto hatte Hepatitis C und Herzprobleme, und seine Chance, in Japan eine neue Leber zu bekommen, waren sehr gering.
Im April 2001 nahm Hoshi Hitoshi, der ehemalige »Fixer« (Spezialist für Schmiergeldzahlungen) von Nobusuke Kishi mit sehr guten Beziehungen zur LDP, in Gotos Auftrag Kontakt mit dem FBI auf. (Kishi war zweimal japanischer Ministerpräsident gewesen. Sein Enkel Shinzo Abe wurde 2006 Ministerpräsident.) Kishi leitete Gotos Angebot weiter.
Das FBI wollte die Namen führender Yakuza haben, weil die japanische Polizei ihm diese Informationen nicht gab – aus Datenschutzgründen. Deshalb konnte das FBI die Aktivitäten der Yakuza in den USA nicht effektiv überwachen.
Goto versprach, dem FBI (vielleicht auch einer anderen Behörde) eine umfassende Liste der Yamaguchi-gumi-Mitglieder, ihrer Tarnfirmen und Banken zu überlassen und Informationen über nordkoreanische Machenschaften zu liefern.
Im Austausch für diese Informationen forderte Goto ein Visum für die USA, damit er sich an der UCLA einer Lebertransplantation unterziehen konnte.21
Zweifellos hatte Goto den Handel mit der UCLA selbst eingefädelt. Er bekam das Visum, nachdem das FBI die Einwanderungs- und Zollbehörde nachdrücklich dazu aufgefordert hatte.
An Jims Stelle hätte ich das auch gemacht, denn der Nutzen für das FBI hätte gewaltig sein können. Das FBI gab ihm aber keine Leber, sondern nur den Schlüssel zur Tür. Die UCLA besorgte den Rest. Manabu Miyazaki, ein Journalist, Fürsprecher der Yakuza und enger Freund von Goto, erzählte mir, dass das FBI nicht nur an der Yakuza interessiert gewesen sei, sondern vor allem auch an Gotos Informationen über Nordkorea. Damals druckten die Nordkoreaner nämlich erstklassige Dollarbanknoten, was den USA natürlich ein Dorn im Auge war. Goto hatte immer gute Verbindungen nach Nordkorea gehabt und bekam von dort angeblich Drogen, Waffen und Geld.
Die Operation fand am 5. Juli statt. Aber Goto gab dem FBI nur einen Bruchteil der Informationen, die er versprochen hatte. Sobald er seine Leber hatte, setzte er sich ins Flugzeug, flog zurück nach Japan und sprach nie wieder mit dem FBI. Über seine Rückkehr nach Japan gab es keine Aufzeichnungen.
Für das FBI war die ganze Geschichte also kein großer Erfolg.
Für Goto jedoch schon. Denn er war vor Jahresende wieder in Japan, ohne gelbe Augen und gesünder denn je.
Bei der jährlichen Neujahrsfeier der Yamaguchi-gumi war Goto bei bester Gesundheit. Er »aß und trank wie ein Wal«, wie die Japaner zu sagen pflegen, und rauchte wie ein Schlot.
Vor Chihiro Inagawa, einem anderen Yakuza-Boss, prahlte er sogar: »Seitdem ich die neue Leber habe, kriege ich ihn wieder jederzeit hoch.« Dabei zeigte er auf seine Leistengegend. Inagawa soll geantwortet haben: »Du hast wirklich verdammtes Glück gehabt. Du hast die Leber eines Jugendlichen bekommen, der bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, und das nur zwei Monate, nachdem man dich auf die Transplantationsliste gesetzt hat. Ein unglaublicher Zufall.«
Goto kicherte. »Oh, das war kein Zufall.«
Inagawa lachte nicht.
Ich weiß bis heute nicht, ob Goto den Autounfall meinte oder seinen Spitzenplatz auf der Liste. Vermutlich hatte er in beiden Fällen die Hände im Spiel.
Auch Inagawa wollte später wegen einer Lebertransplantation in die USA reisen, doch er bekam kein Visum. Bei einem Gespräch mit Vertretern der US-Botschaft durfte er zwar sein Anliegen vortragen, aber ein FBI-Agent erklärte ihm unverblümt: »Wenn Sie wissen wollen, warum wir sie nicht ins Land lassen, dann fragen Sie Herrn Goto.«
Die amerikanische Einwanderungs- und Zollbehörde wollte sich kein zweites Mal übertölpeln lassen. Sie hatte eine ungefähre Vorstellung von dem Handel zwischen dem FBI und Goto und fand, dass er wenig verwertbares Material erbracht hatte.
Goto hatte einem seiner Partner erzählt, er habe für die Leber insgesamt drei Millionen Dollar bezahlt. In Polizeiberichten ist von einer Million die Rede, es wurde spekuliert, dass Gotos Arzt für jeden »Hausbesuch« in Japan, der meist im »Hotel Imperial« stattfand, 100 000 Dollar erhielt. Die einzigen Leute, die vom Handel mit dem FBI wussten, gehörten Gotos engstem Kreis an. Das war gut zu wissen.
Als ich zum ersten Mal das ganze Material über die Yamaguchi-gumi durcharbeitete, wurde mir klar, dass Goto wohl nicht als Einziger von der UCLA eine neue Leber bekommen hatte. Wahrscheinlich gab es noch drei andere Personen.
Das hielt
ich für eine fantastische Story, nicht nur aus amerikanischer
Sicht, sondern auch aus japanischer. Denn Japan hat sehr strenge
Vorschriften, was Organtransplantationen anbelangt. Es gibt wenig
Spender und wenig Operationen. Die meisten Japaner, die ein
Spenderorgan brauchen, gehen ins Ausland oder sterben, während
sie
darauf warten. Für Amerikaner war die Sache ebenfalls schockierend:
Denn japanische Kriminelle wurden gegenüber gesetzestreuen
US-Bürgern eindeutig bevorzugt.
Ich schrieb alles, was ich wusste, für ein Buch auf, das bei Kodansha International, der englischsprachigen Abteilung des Kodansha-Verlags, einem der ältesten und bekanntesten Verlage Japans, erscheinen sollte. Ich versuchte auch, die Story bei einer Wochenzeitschrift unterzubringen. Die Antwort hieß: »Auf keinen Fall.« Gründe wurden nicht genannt.
Also beschloss ich zu warten. Und ich würde vermutlich heute noch warten, wenn es nicht eine kleine Panne gegeben hätte.
Kodansha International veröffentlichte auf seiner europäischen Website eine lange Vorbesprechung des Buches, ohne mich darüber zu informieren. Ich erfuhr erst im November 2007 davon. Die Website verriet nicht alles, aber genug, um Tadamasa Goto eine Vorstellung davon zu geben, was sich da zusammenbraute. Ich sorgte zwar dafür, dass die Besprechung aus dem Netz entfernt wurde, aber ich hatte die englischen Sprachkenntnisse von Gotos Handlangern unterschätzt und auch nicht damit gerechnet, dass sie Google Alerts nutzten. Einer von Gotos Partnern meinte später, es sei wahrscheinlich jemandem gelungen, sich eine Kopie der Katalogbeschreibung meines Buches zu beschaffen, und diese habe den Verdacht wohl bestätigt. Im Dezember 2007 häuften sich die Hinweise dafür, dass ich in ernsten Schwierigkeiten war. Im Januar 2008 wurde mir dann definitiv bestätigt, dass Goto mich ermorden lassen wollte.
Mein Informant bat mich, ihn in Kabukicho zu besuchen. Ich fuhr dorthin und traf ihn in seiner Lieblingsbar. Als ich bereits ziemlich betrunken war, erklärte er mir die Lage.
»Jake, du hast ein großes Problem. Goto weiß, dass du ein Buch schreibst, und das gefällt ihm gar nicht. An deiner Stelle wäre ich sehr vorsichtig.«
Ich versuchte erst gar nicht, es zu leugnen, zuckte aber mit den Schultern und meinte: »Was kann er schon tun? Mir mit meiner Ermordung drohen? Das hat er bereits getan.«
»Er wird nicht länger drohen, er wird es einfach tun. Und er wird dafür sorgen, dass es wie Selbstmord aussieht.«
»Wie bitte? Aber ich habe überhaupt keine Neigung zum Selbstmord.«
»Wie ist deiner Meinung nach Juzo Itami gestorben?«
»Das war Selbstmord. Natürlich habe ich zuerst an Mord gedacht, als ich von seinem Tod hörte, aber dann habe ich erfahren, dass er an Depressionen litt. Und dies besonders schlimm, weil die Wochenzeitschrift Friday seine außereheliche Affäre aufdecken wollte. Also sprang er vom Dach. Hätte es daran irgendwelche Zweifel gegeben, hätte die Polizei bestimmt Nachforschungen angestellt.«
»Hast du den Artikel gelesen? Und weißt du, dass er, als der Reporter ihn darauf ansprach, lachend geantwortet hat: ›Ach das, das weiß sie schon längst.‹ Verhält sich so jemand, der schwer depressiv ist?«
»Ich weiß nicht. Ich kenne die Details nicht. Aber er hat doch einen Brief hinterlassen.«
»Ja, einen Computerausdruck. Den kann jeder geschrieben haben.«
Auf einmal schmeckte mir mein Bourbon nicht mehr.
»Aber warum?«
»Er plante noch einen Film, und zwar über die Goto-gumi und deren Beziehungen zur Soko Gakkai. Goto fand das nicht besonders lustig. Deshalb schnappten sich fünf seiner Männer Itami und zwangen ihn mit vorgehaltener Waffe, vom Hochhaus zu springen. Das war der Selbstmord.«
»Woher weißt du, dass es so war?«
»Keine besonders höfliche Frage.« Seine Finger krümmten sich so fest um sein Glas, dass ich fürchtete, es werde zerbrechen.
Also entschuldigte ich mich schnell.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Sei vorsichtig. Schreib es jetzt, wenn du kannst.«
»Ich kenne den größten Teil der Geschichte.«
»Wenn du nicht alles weißt, wird dir keiner glauben, dann würde es dir nichts nützen. Du musst über alles schreiben, auch über die anderen.«
»Ja, ich weiß, dass es noch andere gibt. Kennst du sie?«
»Nein, du musst das herausfinden. Aber ich kenne jemanden, der dir helfen kann. Sie kann Goto nicht sonderlich gut leiden.«
»Sie?«
»Eine von vielen. Sie hat ihre Gründe.«
»Ist das nicht gefährlich für sie?«
»Ich glaube, das ist ihr egal.«
Dann gab er mir ihre Visitenkarte – auf der Rückseite stand ihre Anschrift – und noch eine zweite Karte. Diese Frau kannte ich aus der Polizeidatei über Goto.
»Warum gerade diese zwei Frauen?«
»Ich glaube, er vertraut ihnen. Außerdem kannst du gut mit Frauen umgehen. Sie vertrauen dir. Sie mögen dich. Ich habe gehört, dass du sogar mit einer Polizistin sehr gut befreundet bist.«
»Ich bin mit vielen Leuten befreundet, weil ich ein netter Kerl bin.«
Ich bat um die Rechnung und zahlte. Als wir gingen, fragte ich ihn, warum Goto mich nicht jetzt sofort umlegen ließ.
»Er wartet noch ab. Ich weiß nicht, warum. Wahrscheinlich weiß er nicht, wie viel du weißt oder wem du schon etwas erzählt hast. Darum lässt er sich Zeit. Er beobachtet dich, sammelt Informationen über dich. Vielleicht versucht er auch, dich unglaubwürdig zu machen, bevor du die Chance hast, etwas zu schreiben. Er könnte zum Beispiel Drogen in deinem Apartment verstecken und die Polizei rufen. Oder eine Frau behauptet, du hättest sie im Zug belästigt. Es gibt viele Möglichkeiten, dich unschädlich zu machen, ohne dich umzubringen. Ein Mord würde natürlich eine Menge Aufmerksamkeit erregen. Weißt du, dass das Gerichtsverfahren gegen ihn noch läuft?«
Natürlich wusste ich das.
Im Mai 2006 wurden Goto als Chef einer Immobilienfirma und acht andere verhaftet, weil man sie verdächtigte, bei den Besitzverhältnissen bezüglich eines Gebäudes im Bezirk Shibuya betrogen zu haben. Der Polizei zufolge hatte Goto als Direktor des börsennotierten Unternehmens Ryowa Life Create zusammen mit den anderen Verdächtigen die Übertragung des Eigentums an einem zwölfstöckigen Gebäude, dem Shjinjuku Building, falsch beurkunden lassen. Die Immobilie gehörte teilweise einer Tarnfirma der Goto-gumi. Die Festnahme erfolgte nach Ermittlungen, die mehr als ein Jahr zuvor begonnen hatten. Im März 2005 war Kazuoki Nozaki, ein 58-jähriger Berater einer Gebäudeverwaltungsfirma und Miteigentümer des Shinjuku Building, auf einer Straße im Tokioter Bezirk Minato erstochen worden.
Die Polizei hatte sich Goto wegen des Verstoßes gegen das Eigentumsrecht geschnappt, weil sie ihm den Mord an Nozaki anhängen wollte. Alle wussten das.
Der Mord war mit der Präzision der Goto-gumi begangen worden: kleine Gruppe, keine Zeugen, keine oder wenig Spuren. Vermutlich würde man auch mich so aus dem Verkehr ziehen, wenn meine Zeit gekommen wäre – man würde mich in irgendeiner Gasse niederstechen und verbluten lassen.
Ich antwortete ihm, dass ich von dem Strafprozess wusste. Mir war aber immer noch nicht klar, warum mich noch nicht das gleiche Schicksal ereilt hatte wie Nozaki.
»Die Leute kennen dich. Sie glauben, dass du für die CIA arbeitest. Das denkt jedenfalls Goto. Und du bist Jude. Er fürchtet Ärger zu bekommen, wenn er dich umlegt.«
»Weil ich Jude bin? Warum das denn?«
»Du könntest beim Mossad sein.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Ich habe dir gesagt, was ich weiß. Du bist jetzt ganz allein. Viel Glück. Unterschätze den Mann nicht. Er unterschätzt dich auch nicht.«
Ich wusste, dass er recht hatte.
Die Lage spitzte sich schnell zu. Ich erfuhr schon bald, dass Goto mich für schuldig befunden hatte, was einem Todesurteil gleichkam. Daher würde er mich ermorden lassen.
Am 5. März 2008 wurde ich deshalb unter Polizeischutz gestellt. Ein Special Agent des FBI begleitete mich zur Nationalen Polizeibehörde, und dort wurde heftig diskutiert, welche Maßnahmen getroffen werden konnten. Das FBI nahm schließlich mit der örtlichen Polizei in Amerika Kontakt auf, damit die dort mein Haus bewachte. Bei dem Treffen wollten die Beamten auch wissen, wer mein Informant bei der Goto-gumi sei. Natürlich verweigerte ich die Auskunft. Sie warnten mich, dass es dies für die japanische Polizei noch schwieriger mache, einen Schutz rund um die Uhr zu begründen. Dazu konnte ich nur sagen: »Ich nehme eben das, was ich kriegen kann.«
Dann brachte man mich ins Polizeidepartment von Tokio, um mit Beamten der Abteilung drei (organisiertes Verbrechen) zu sprechen. Sie sollten sich um meinen Schutz kümmern. Früher hatte ich über diese Leute Artikel geschrieben, jetzt sollten sie mein Leben schützen.
Bevor ich ins Büro des Polizeidepartments ging, schickte ich den Polizisten, die ich dort kannte, rasch eine E-Mail, dass sie so tun sollten, als sei ich ihnen unbekannt. Aber einer der Beamten schrieb sofort zurück: »Wenn in einer Zeit wie dieser ein guter Freund in Schwierigkeiten ist, kümmert es mich einen Dreck, was aus meiner Karriere wird. Ich und die anderen gehen jetzt zum Chef und sagen ihm, dass wir Sie kennen und dass Sie in Ordnung sind. Wir schulden Ihnen immer noch etwas wegen der Soapland-Sache.«
Eigentlich stand ich diesen Polizisten nicht sehr nahe und betrachtete sie lediglich als gute Bekannte, deshalb freute mich das umso mehr. Ich musste mit der Zeit feststellen, dass Leute, die ich für gute Freunde gehalten hatte, keine wirklich guten Freunde waren und dass andere, die ich nur als Bekannte gesehen hatte, die besten Freunde waren, die ich je gehabt hatte. Es kommt im Leben nicht oft vor, dass wir in eine Situation geraten, in der die Loyalität unserer Freunde auf die Probe gestellt wird. Das Ergebnis sieht wahrscheinlich nie so aus, wie wir es erwartet hätten.
Das Gespräch im Polizeidepartment war gut. Einer der Kripobeamten schüttelte mir die Hand, als ich ging, und sagte: »Goto ist ein Dreckskerl. Er ist in mehr als 17 Morde verwickelt und in diesen versuchten Mord in Seijo. Dort fanden seine Schergen den Mann nicht, den Goto tot sehen wollte, deshalb stachen sie auf seine Frau ein. Sie machen ihm das Leben schwer. Sie tun das, was wir eigentlich tun sollten. Viel Glück.«
Das tat mir gut.
Ich musste noch einige Papiere ausfüllen und der Nationalen Polizeibehörde bringen. Als ich das Gebäude verließ, lud mich ein Polizist, den ich als Reporter in Saitama kennengelernt hatte, zu einem Kaffee ein.
Bei einem
recht guten Cappuccino unterhielten wir uns über die alte Zeit. Der
Leiter der Spurensicherung war zunächst Polizeichef in Saitama
geworden, hatte dann gekündigt und war jetzt Vor-
standsvorsitzender der örtlichen Gesellschaft für
Verkehrssicherheit. Sein neuer Job machte ihm Spaß. Ein paar andere
Beamte, die mit dem Hundezüchter-Fall befasst gewesen waren, hatten
ebenfalls gekündigt.
Er hatte ein paar interessante Informationen für mich, aber auch schlechte Nachrichten: »Wahrscheinlich überlegen Sie zurzeit, nach Hause zu fahren. Davon kann ich Ihnen nur abraten. Wenn Sie nach Hause fahren und er weiß, wo Sie leben, gerät Ihre Familie in die Schusslinie. Er würde wahrscheinlich einen Killer anheuern, um Sie zu töten, und wenn Ihre Familie in der Nähe wäre, könnte es die auch erwischen. Wenn er aber an Sie persönlich nicht herankommt, dann wird er vermutlich Jagd auf Ihre Freunde machen.«
Das hatte ich eigentlich nicht hören wollen, denn natürlich wollte ich nach Hause. Aber er hatte noch mehr zu sagen.
»Als Goto in die UCLA-Klinik ging, überprüfte die Nationale Polizeibehörde den Geldfluss auf seinen Kasinokonten. Sie fand fast eine Million Dollar. Er hatte ein Konto in Tokio bei der japanischen Filiale eines großen Kasinos. Sie haben über den Kajiyama-Fall geschrieben, also wissen Sie, wie das abläuft. Ihre Informationen sind gut.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber Sie sind eine Bedrohung für seinen Ruf und sein Ansehen. Wenn er Sie erledigt, kann er vielleicht verhindern, dass er auffliegt. Sobald Sie aber Ihr Buch veröffentlicht haben, macht es für ihn weniger Sinn, Sie umzubringen. Sie sind Schriftsteller, oder, dann ist es jetzt Zeit zu schreiben.«
Am 7. März ärgerte ich die Nationale Polizeibehörde, weil ich den Prozess gegen Goto im Bezirksgericht besuchte. Die Polizisten, die den Fall bearbeiteten, erzählten, dass ein Zeuge derart eingeschüchtert worden sei, dass er sich weigere auszusagen. Es gelang mir, ein paar Minuten im Gerichtssaal zu verbringen. Ich saß direkt hinter Goto.
Ich hätte die Hand ausstrecken und ihn erwürgen können, wenn ich gewollt hätte. Oder ich hätte ihn mit einem Bleistift in den Kehlkopf stechen können. Natürlich tat ich das nicht, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, ihn anzustupsen, nur um mich zu vergewissern, dass er echt war. Er bemerkte es anscheinend nicht.
Mitten in der Verhandlung musste ich gehen. Eigentlich hätte ich gar nicht dort im Gerichtssaal sein dürfen. Ich wartete draußen im Flur.
Nachdem die Journalisten über den Freispruch unterrichtet worden waren, sagte einer der Polizisten, die den Fall bearbeitet hatten, kopfschüttelnd zu mir: »Wissen Sie, jeder, der gegen Goto ausgesagt hat, wird verschwinden. Man wird einen nach dem anderen tot auffinden.«
Dann geschah etwas Unerwartetes. Goto kam mit seinem Leibwächter aus dem Gerichtssaal und ging zum Aufzug. Er nahm nicht den Hinterausgang, aber es warteten auch keine Publikumsmassen auf ihn. Kein einziger Reporter versuchte, mit ihm zu reden. Natürlich sahen ihn alle an, aber keiner wollte ihm folgen. Sobald jedoch sein Anwalt auftauchte, liefen alle schnellstmöglich zu ihm hin, fort von Goto. Und einen kurzen Augenblick lang standen nur ich, Goto und sein Bodyguard vor dem Aufzug. Es war das erste und letzte Mal, dass ich diesem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Und zum ersten Mal verstand ist, warum er so mächtig war. Er war nicht beleibt, muskulös oder imposant, doch wenn er einem in die Augen sah, hatte man das Gefühl, seine Hand an der Gurgel zu spüren. Als er mich erkannte, formten seine Lippen einige japanische Worte, eine hörbare Drohung wollte er wohl nicht ausstoßen. Aber mir kam es auf jeden Fall wie eine Drohung vor, doch ich bin in keiner Sprache ein guter Lippenleser. Also antwortete ich ebenfalls nonverbal – mit einem einzigen Finger. Das war alles, was wir einander zu sagen hatten.
Nachdem der Leibwächter seinen wütenden Chef in den Aufzug geschoben hatte, folgte ich der Reportermeute zu seinem Anwalt, Yoshiyuki Maki, einem ehemaligen Staatsanwalt.
Er strich sich über das grau gesprenkelte Kinn und faselte etwas darüber, wie ungerecht die Verhaftung seines Mandanten und die Anklage gegen ihn waren. Außerdem machte er deutlich, dass sein Mandant jede Zeitung verklagen könne, die ihn als Straftäter hinstelle. Durch Maki legte Goto so der ohnehin gefügigen Presse einen Maulkorb an.
»Die gesetzwidrige Verhaftung und der lange Prozess waren für Goto-san die Hölle. Ich denke, die Medien sollten ein wenig Rücksicht darauf nehmen, was mein Mandant alles durchlitten hat.«
Ich konnte diesen Quatsch nicht länger ertragen und hob die Hand, um eine Frage zu stellen. Doch es wurde eher eine Schimpftirade als eine Frage, was nicht gerade sehr professionell von mir war. In einem Gerichtsgebäude sollte man nicht über Recht und Unrecht diskutieren. Und man sollte die Anwälte der Yakuza nicht beschuldigen, selbst Verräter und Verbrecher zu sein, schließlich tun sie auch nur ihre Pflicht. Aber es fiel mir doch sehr schwer, die Sache objektiv zu betrachten. Ich fand auch, dass der Anwalt dadurch alle Opfer beleidigte. Wenn es unter den Yakuza jemanden gab, der es verdient hatte zu leiden, dann war es Goto.
»Entschuldigen Sie bitte, aber was meinen Sie mit durchleiden? Dieser Mann gehört einer Organisation an, die Menschen ermordet, Drogen verkauft, Kinderpornografie verbreitet und ausländische Frauen sexuell ausbeutet. Warum sollte jemand auch nur einen Gedanken daran verschwenden, ob er leidet? Und wie können Sie als ehemaliger Staatsanwalt so etwas sagen?«
Maki war überrascht, entweder wegen meiner Frage oder wegen meiner Wut. Er zuckte richtig zusammen, und die anderen Reporter zogen sich von mir zurück, als wäre ich ein tollwütiger Hund. Dann räusperte sich Maki und erklärte: »Es ist meine Aufgabe, meinen Mandanten zu verteidigen, und es gibt keinen Zweifel daran, dass Goto-san nichts Illegales getan hat und dass ...«
Während er weiterredete, drehte ich mich um und ging. Wenige Sekunden später hörte ich die Journalisten kichern. Vermutlich hatte Maki einen Witz auf meine Kosten gemacht, und ein bisschen fühlte ich mich auch selbst wie eine Witzfigur. Aber ich hatte gesehen, wie er zusammengezuckt war, und das fühlte sich gut an.
Am Tag nach dem Prozess machte ich mich wieder an die Arbeit. Ich sammelte alle meine Notizen und gab sie Reportern, die ich kannte und denen ich vertraute. Einige kannte ich zwar, vertraute ihnen aber nicht. Mir ging es nicht um den Erfolg. Ich wollte nur, dass die Geschichte gedruckt wurde, und es war mir egal, wer die Lorbeeren dafür erntete.
Während ich das tat, wurde ich mit einem ernsten Problem konfrontiert.
Einige Beamte der Nationalen Polizeibehörde kamen vorbei, um etwas mit mir zu trinken. Einen von ihnen, Akira-kun, kannte ich schon lange. Zum Glück war Alien Cop für ein Jahr in die NPA versetzt worden und arbeitete nun in der Abteilung für das organisierte Verbrechen. Er brachte eine riesige Flasche Sake mit. Asako, eine gute Freundin aus meiner College-Zeit, die mich gelegentlich bei meinen Recherchen unterstützte, war ebenfalls anwesend. Sie flirtete mit den Polizisten und riss Witze. Wir saßen mit gekreuzten Beinen im Tatami-Raum um einen kleinen Tisch herum.
Erst unterhielten wir uns über den Goto-Prozess und seinen unglücklichen Ausgang. Alle hielten Gotos Anwalt Maki für einen Gauner, aber ich versuchte ihn zu verteidigen und wies darauf hin, dass er früher einmal gute Absichten gehabt habe. Vor etwa zehn Jahren hatte er ein vorzügliches Buch über das japanische Rechtssystem geschrieben.
Plötzlich setzte Alien Cop sein Sake-Glas ab, nickte seinen drei Kollegen aufmunternd zu und räusperte sich.
»Jake, einer unserer Kollegen, Leutnant K., steht auf Gotos Gehaltsliste. Er hat sich nach Ihnen erkundigt. Wir wissen, dass er korrupt ist, aber er beschafft uns nützliche Informationen über andere Ganoven, und darum lassen wir ihn sozusagen gewähren.«
Ich füllte mein Glas. »Was heißt das?«
»Das heißt, dass Goto alles über Sie weiß: wo Sie wohnen, wo Ihre Familie lebt – alles, was in unseren Akten über Sie steht. Und es ist möglich, ja sogar ziemlich wahrscheinlich, dass er über Ihre Telefongespräche Bescheid weiß. Ihre Nummer steht ja auf Ihrer Visitenkarte, also ist das vermutlich ganz einfach für ihn.«
Akira-kun nickte und fügte hinzu: »Angeblich hat er die G Detective Agency beauftragt, Sie gründlich auszuforschen. Goto besitzt mindestens zwei private Detektivbüros. Erpressung ist schließlich seine Spezialität. Wenn Sie Leichen im Keller haben, werden die es ziemlich bald herausfinden.«
Alien Cop bat mich, ihm mein Handy zu zeigen. Ich zog es aus der Tasche und reichte es ihm. Er betrachtete einige Sekunden lang das Namensverzeichnis und gab mir das Handy dann zurück.
»Überlegen Sie gut, wen Sie in den letzten zwei Monaten am häufigsten angerufen haben. Wenn Goto nämlich merkt, dass er an Sie nicht herankommt, oder wenn er wissen will, wo Sie sind, wird er sich an diese Leute wenden. Leutnant K. ist Gotos Erfüllungsgehilfe. Wenn K. eine Telefonnummer hat, kann er ganz leicht die Anschrift herausfinden. Das kostet ihn nur ein paar Anrufe. Und selbst wenn es ihm nicht gelingen sollte, die G Detective Agency hat die notwendigen Kontakte. Sie müssen unbedingt all die Leute warnen, die Ihnen nahestehen. Sie müssen sehr vorsichtig sein.«
Alien Cop goss mir noch ein Glas Sake ein. »Trinken Sie aus. Ich bezweifle ja, dass der Kerl überhaupt etwas unternehmen wird, aber wir dachten, Sie sollten Bescheid wissen. Nicht alle Polizisten sind Ihre Freunde.«
»Na, dann«, sagte ich, »trinken wir auf alle meine Freunde!«
»Übrigens«, fügte Alien Cop noch hinzu, während er allen nachschenkte, »K. sucht anscheinend nach einem guten Foto von Ihnen. Es gibt offenbar nicht viele davon. Da er weiß, dass ich Sie kenne, hat er mich gefragt, ob ich ihm eines geben könnte. Natürlich habe ich Nein gesagt. Vielleicht versucht er ja, sich mit Ihnen zu treffen. Das müssen Sie unbedingt ablehnen.«
»Warum?«
»K. ist ein guter Zeichner mit einem ausgezeichneten fotografischen Gedächtnis. Manchmal kann man einen Menschen anhand einer Zeichnung sogar noch leichter identifizieren. Wenn Sie ihn treffen, hängt bald ein hübsches Porträt von Ihnen in Gotos Hauptquartier. Und die Typen, die er Ihnen auf den Hals hetzt, haben dann eine Kopie in Brieftaschengröße dabei.«
»Toll. Und was soll ich jetzt tun?«
»Schreiben Sie diesen verdammten Artikel, und hören Sie auf herumzuschnüffeln. Nehmen Sie Goto das Motiv, Sie umzubringen. Ganz einfach. Dann können Sie mich in diese Strip-Bar mit den vielen weißen Miezen einladen. Das schulden Sie mir, Adelstein.«
Asako lachte. »Jake, ich wusste ja gar nicht, dass du solche Lokale frequentierst.«
Alien Cop grinste. »Dann kennen Sie ihn aber nicht sehr gut.«
Irgendwann an diesem Abend gingen Alien und ich hinaus, um zu rauchen, und er fragte mich, wie es mir wirklich gehe.
»Ganz gut.« Mehr konnte ich nicht sagen.
»Ich habe mich wegen Ihrer Freundin umgehört.«
»Und?«
»Nichts. Die Bar, in der sie gearbeitet hat, wurde durchsucht, so im Februar 2006. Sie haben ohne Gaijin-Mädchen neu eröffnet. Ich habe versucht, sie zu finden. Die Einwanderungsbehörde schuldete mir noch einen Gefallen. Aber so viel die wissen, hat keine Frau namens Helena das Land verlassen. Hat sie vielleicht einen anderen Namen? Oder eine doppelte Staatsbürgerschaft?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Haben Sie mit ihr geschlafen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil sie eine gute Freundin war. Ich meine, sie ist eine gute Freundin.«
»Sie waren mit ihrem Beruf nicht einverstanden?«
»Nein, das ist es nicht.«
»Schlafen Sie überhaupt mit irgendwelchen anderen Frauen?«
»Ich bin ein Gentleman. Diese Frage würde ich schon aus Prinzip nicht beantworten.«
»Ich hatte recht, oder?«
»Womit?«
»Sie wissen schon.«
»Ach so, ja. Die Grundsätze. In einem Punkt haben Sie sich geirrt.«
»Und der wäre?«
»Es ist kein schlüpfriger Abhang, sondern eine verdammte Wasserrutschbahn.«
»Nun ja, Jake, manchmal müssen Sie Gift eben …«
»… mit Gift bekämpfen. Ich kenne das Sprichwort.«
»Sie tun, was Sie tun müssen, um Ihre Arbeit zu beenden. Darauf kommt es letztlich an. Verstehen Sie?«
»Klar«, versicherte ich ihm. Er war zwar nicht Sekiguchi, aber auf seine Art klug. Vielleicht kein guter Polizist, aber ein guter Mensch und ein guter Freund. Er setzte für mich seine Karriere aufs Spiel, dadurch dass er mir all das erzählte. Ich war mich nicht sicher, ob ich sein Wohlwollen verdiente, aber ich war sehr froh darüber.
Wir tranken noch bis halb zwölf, dann gingen alle nach Hause. Als sie weg waren, goss ich mir einen Drink ein, zündete eine Zigarette an, legte ein paar Miles-Davis-Platten auf und dämpfte das Licht. Dann dachte ich nach.
Wer allein trinkt, weiß, dass er Probleme hat. Die ganze Welt schien tot zu sein, die einzigen Geräusche waren das Knistern der Zigaretten, der Wind, der an den Jalousien rüttelte, und die Klänge der CDs.
Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie einsamer gefühlt.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in die Magengrube: Ich hatte jeden Menschen, den ich mochte, liebte oder auch nur kannte, in Gefahr gebracht. Jeder, den ich auch nur irgendwann mit diesem verdammten Telefon angerufen hatte, war jetzt ein potenzielles Druckmittel für einen Mann, der sich nicht scheute, Menschen als Mittel zum Zweck zu benutzen.
Ich musste mit jemandem reden. Da ich ein wenig betrunken war und nicht mehr klar denken konnte, rief ich Sekiguchis Handy an. Die Nummer hatte ich immer noch gespeichert. Erst nach einigen Klingelzeichen fiel mir ein, dass er nicht antworten konnte. Ich hatte keinen Mentor mehr. Niemanden, der mir einen guten Rat geben konnte. Ich war auf mich selbst angewiesen.
Was würde Sekiguchi in meiner Situation tun?
Zuerst würde er die Lage analysieren. Also tat ich das. Sie war nicht gerade erfreulich.
Die meisten Yakuza lassen normale Bürger in Ruhe, das sollen sie zumindest. Denn es gilt nicht als ehrenhaft, auf die Frau, die Freundin oder den besten Freund eines Mannes loszugehen, den man nicht leiden kann. Kein echter Yakuza vermöbelt den Bruder einer Zielperson, er schlägt die Zielperson selbst zusammen.
Aber Tadamasa Goto war ein Yakuza anderer Art. Er stand im Ruf, skrupellos alles niederzumachen. Und dieser verdammte Cop hatte ihm dazu alle Informationen geliefert. Wichtig war nun herausfinden, an wen er sich wohl als Erstes wenden würde.
Ich musste unverzüglich damit anfangen, für Schadensbegrenzung zu sorgen, Also holte ich meine Schachtel mit Visitenkarten, breitete alle Karten auf dem Fußboden aus, öffnete meinen Laptop und schrieb alle Namen ab, die ich in meinem Handy gespeichert hatte. Ich erstellte eine Rangliste meiner am meisten gefährdeten Freunde. Da ich keine Liste meiner Telefongespräche besaß, durchsuchte ich meine E-Mails der letzten zwei Monate und versuchte zu rekonstruieren, wo und bei wem ich gewesen war.
Unter den vielen Visitenkarten war auch die von Helena – eingerissen, verblasst und zerknittert, weil ich sie immer wieder in meine Brieftasche gestopft und wieder herausgeholt hatte.
Ich weiß noch, wann sie mir die Karte gab. Ich hatte sie mir verdienen müssen. Bei unserer ersten Begegnung hatte ich Helena meine Karte gegeben, aber erst beim dritten oder vierten Treffen hatte sie so viel Vertrauen zu mir, dass sie mir ihren richtigen Namen verriet. Sie parodierte geschickt eine japanische Verbeugung und überreichte mir ihre Karte mit beiden Händen. »Helena«, sagte sie dabei, »eine Hure, aber keine gewöhnliche – eine professionelle Hure.« Sie lachte und ihre Augen blitzten, so sehr amüsierte sie sich über ihren Scherz.
Ich habe immer ein Tagebuch geführt, wenn auch nicht immer ganz exakt. Das ist hilfreich, weil wir Reporter so viel vergessen. Wir begegnen so vielen Leuten, schreiben über so viele Tragödien, verfassen so viele Artikel, dass wir uns kaum merken können, was alles passiert und wo wir überall gewesen sind. Aber manche Gegenstände wecken mehr Erinnerungen als ein Tagebuch in Telefonbuchformat. Die Visitenkarte in meiner Hand weckte unzählig viele Erinnerungen in mir.
Ich vermisste meine Gespräche mit Helena plötzlich so sehr, dass ich ein paar Sekunden lang kaum atmen konnte.
Am liebsten hätte ich nicht mehr an sie gedacht, aber ich konnte nicht anders.
Hätte ich im Jahr 2005 nicht nachgegeben, wäre Goto vielleicht entmachtet worden, und all das wäre und würde nicht geschehen. Damals schien es mir die richtige Entscheidung zu sein. Ein strategischer Rückzug. Aber war es das wirklich gewesen? War es nicht Feigheit oder einfach Faulheit? Ich spiele diesen Augenblick immer wieder durch.
Dann beschloss ich, dass ich jetzt alles tun musste, um Goto das Handwerk zu legen. Ich hatte es satt wegzulaufen. Realistisch betrachtet hatte ich nicht viel. Ich konnte weder auf 900 Leute zurückgreifen, die für mich arbeiteten, noch auf mehrere Millionen auf versteckten Bankkonten. Aber ich hatte einige gute Freunde, ein paar Informationen, Kontakte und eine Menge Wut.
Doch bevor ich etwas unternehmen konnte, musste ich ein paar Leute anrufen und einige E-Mails verschicken. Viele Leute waren nicht gerade sehr erfreut über das, was ich ihnen zu sagen hatte. Einige kündigten mir sogar die Freundschaft. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mir das egal gewesen sei. Aber ich konnte sie verstehen, weil Freundschaft normalerweise nicht bedeutet, zur menschlichen Zielscheibe zu werden.
Schließlich schrieb ich den Artikel.
Es schien mir ganz einfach: Schreib oder stirb!
Doch das Problem war, dass niemand meinen Artikel veröffentlichen wollte. Nicht einmal die Leute, auf die ich ganz fest gezählt hatte.
»Die Sache ist zu alt.« »Wir wollen die Nationale Polizeibehörde nicht verärgern – die stünde schließlich ziemlich dumm da, wenn wir das drucken würden.« »Ich glaube nicht, dass das FBI bereit ist, das zu bestätigen.« Eine Zeitung schien interessiert sein, aber ihr ging es letztlich nur darum, dem FBI eins auszuwischen, und das brachte meiner Meinung nach nichts. Außerdem fand ich, dass das FBI mit dem Handel keinen Fehler begangen hatte, und wollte Jim nicht lächerlich machen. Das konnte ich nicht zulassen.
Nur der Chefredakteur eines Verlages war ehrlich zu mir. »Das ist ziemlich gefährliches Material. Wenn wir das herausbringen, kriegen wir es nicht nur mit Gotos Anwälten zu tun, sondern wir müssen ein Vermögen für ein besseres Sicherheitssystem ausgeben. Denn er wird ganz bestimmt zurückschlagen. Menschen werden darunter leiden. Vielleicht lässt er Brandbomben in unsere Büros werfen. Außerdem drucken wir einiges für die Soko Gakkai, und Goto würde uns diese Verträge kündigen. Tut mir leid.«
Das war wohl die schlimmste Zeit in meinem Leben. Ich hatte alle wichtigen Daten, konnte aber nichts damit anfangen. Eine Zeitschrift versicherte mir, dass sie die Story drucken würde, wenn ich eindeutigere Beweise beschaffen könnte. Also machte ich heimlich einen Abstecher an die amerikanische Westküste und sprach mit einem Kunsthändler, der für die Goto-gumi Geld wusch. Doch das Gespräch war ein totaler Reinfall.
Ich konnte nicht herbeischaffen, was die Zeitschrift wollte und forderte. Mein Gefühl, dass mir alles aus den Händen rutschte, wurde immer stärker. Als ich am Abend in meinem Hotel saß, las ich Das Handbuch für den perfekten Selbstmord und überlegte, ob ich seine Tipps ausprobieren sollte. Es schien eine Alternative zu sein. Viele japanische Versicherungen zahlen die Prämie nach Ablauf einer bestimmten Zeit auch nach einem Freitod aus. Wenn ich mir das Leben nähme, wäre meine Familie versorgt, und Goto hätte keinen Grund mehr, jemanden zu belästigen, der mir nahestand. Vor zehn Jahren hätte ich mir niemals vorstellen können, auch nur im Entferntesten zu erwägen, mich den vielen Unglücklichen anzuschließen, die sich an die Vorschläge des Handbuchs gehalten hatten. Aber jetzt war ich unzufrieden mit mir selbst und machte mir Sorgen – über alles.
Ich war richtig deprimiert, und hätte mich nicht rechtzeitig die richtige Person angerufen, wäre ich vielleicht diesen Weg gegangen, obwohl ich mich schäme, es zuzugeben.
Schließlich beschloss ich, die Geschichte selbst zu schreiben – auf Englisch. Ich rauchte eine Zigarette, betrachtete die aufgehende Sonne und bereitete mich auf den Rückflug nach Japan vor. Dann wusste ich plötzlich, was ich tun musste. Ich hätte wissen müssen, dass mein Artikel auf keinen Fall zuerst in Japan veröffentlicht werden würde, daher hätte ich von Anfang an anders vorgehen müssen.
Ich ging davon aus, dass die Zeitung des Foreign Correspondents’ Club of Japan (FCCJ) den Artikel drucken würde. Aber auch das war ein Irrtum. Nachdem ich ihn eingereicht hatte, schickte mir ein Redakteur versehentlich eine E-Mail, deren Tenor lautete: »Das FBI soll einem berüchtigten Yakuza ein Visum gegeben haben, damit er sich eine neue Leber einpflanzen lassen kann? Das klingt total unglaubwürdig. Der Typ hat wohl eine Macke.«
Das tat weh. Natürlich wusste ich, dass ich den Eindruck eines Spinners erweckte und sich die Geschichte unglaublich anhörte.
Ich setzte mich nun mit allen Leuten in Verbindung, die ich kannte. Dann stellte ein Freund der Familie mich John Pomfret vor, einem Redakteur der Washington Post. Auch er hielt mich zunächst für verrückt, was ich ihm nicht vorwerfen konnte. Als er nach Beweisen fragte, gab ich ihm alles, was ich hatte, etwa 100 Seiten.
Keiner meiner Artikel war jemals so gründlich geprüft worden wie dieser. Ich beantwortete jeden Tag stundenlang Fragen, überprüfte Fakten und Informanten, bis Pomfret nach mehr als einem Monat endlich zufrieden war. Schließlich erhielt die Washington Post vom FBI die Bestätigung, dass ich die Wahrheit sagte. Und am 11. Mai wurde der Artikel dann veröffentlicht. Auch der FCCJ druckte ihn ab, allerdings ohne Gotos Namen zu nennen.
Vor der
Veröffentlichung hatte ich ein Mitglied einer anderen
bedeutenden Gruppe innerhalb der Yamaguchi-gumi kontaktiert. Ich
wusste, dass diese Männer Goto für einen Unruhestifter
hielten.
Ich teilte ihm mit, dass ich einen Artikel auf Englisch über Tadamasa Gotos Handel mit dem FBI schrieb, und bat um eine Stellungnahme der Yamaguchi-gumi-Führung. Natürlich rechnete ich nicht wirklich damit, eine zu erhalten. »Ich möchte wissen, ob die Führung der Yamaguchi-gumi mit diesem Handel einverstanden war und wenn ja, warum. Ist das ein Problem?«
Dann gab ich ihm den englischen Artikel und meine Übersetzung. Er las sie sofort, zeigte jedoch keinerlei Reaktion.
Ein paar Tage später rief er mich an und meinte sehr höflich.
»Wir haben keinen offiziellen Standpunkt dazu. Wie Sie wissen, gibt die Yamaguchi-gumi keine Interviews und keine Kommentare. Aber ich wurde beauftragt, Ihnen dafür zu danken, dass Sie uns auf diese Sache aufmerksam gemacht haben. Wir wussten nichts davon. Wir würden das Ganze wirklich gerne intern regeln. Natürlich ist uns klar, dass Sie eine Menge Arbeit investiert haben, und wir würden Sie gerne für Ihre Zeit und Ihre Bemühungen entschädigen.«
Da mir nicht klar war, was er damit meinte, fragte ich ganz unverblümt: »Ich bin kein Japaner, ich bin Ausländer und Subtilitäten verstehe ich nicht. Was genau wollen Sie damit sagen?«
»Ich kann Ihnen 300 000 Dollar anbieten, wenn Sie den Artikel nicht schreiben. Ich brauche nur den Namen Ihrer Bank und Ihre Kontonummer. Dann haben Sie das Geld morgen.«
»Das kann ich leider nicht annehmen.«
»Ich kann Ihnen innerhalb einer Woche eine halbe Million besorgen. Aber ich muss die Summe dann auf zwei verschiedene Konten überweisen. Sie können problemlos ein zweites Konto eröffnen, wenn Sie noch keines haben.«
»Vielen Dank, aber es geht mir nicht um den Betrag. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«
»Nun, ich denke nicht, dass das eine kluge Entscheidung ist. Sie können doch erreichen, was Sie meiner Ansicht nach erreichen wollen, und dann als reicher Mann ein neues Leben beginnen.«
»Ich liebe mein Leben, wie es ist. Aber ich weiß Ihr Angebot zu schätzen und fühle mich geehrt. Doch ich muss es ablehnen.«
»Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Ich versprach es.
Ich würde lügen, wenn ich bestreiten würde, dass ich versucht war, das Geld anzunehmen und abzuhauen. Aber dann wäre ich erpressbar gewesen.
Bevor der Artikel erschien, schickte ich eine Kopie an die Yomiuri. Ich hielt das für anständig, aber er wurde ignoriert, genau wie von den anderen Zeitungen in Japan auch. Ich war mir ziemlich sicher gewesen, dass es so kommen würde.
Darum hatte
ich bereits mit der Los Angeles
Times gesprochen, noch ehe der
Artikel für die Washington
Post fertig war. Ich hatte im
Mai John Glionna, den Bürochef in San Francisco, während seines
Aufenthalts in Japan getroffen, und er hatte sofort eine gute Story
gewittert. Wochenlang arbeitete ich mit ihm und Charles Ornstein
zusammen. Die Washington
Post hatte die UCLA nicht
erwähnt, und darüber waren sie sehr erfreut. Es war ihre
Schlagzeile am 31. Mai. Diesmal konnten die japanischen Medien die
Sache nicht unter den Teppich kehren, obwohl einige es versuchten.
Aber fast jede Zeitung, die darüber berichtete, hatte kalte Füße
und formulierte es in der Art: »Einem Artikel in der
Los Angeles Times zufolge ...« Das ist eine beliebte Vorgehensweise
in Japan, wenn man schwierige Nachrichten veröffentlichen muss: Die
anderen sind schuld. Wir haben das nicht gesagt – es war die
Los Angeles Times! Ich fand keinen einzigen Artikel, in dem jemand
versucht hätte, den Sachverhalt selbst zu
verifizieren oder gar tiefer zu schürfen.
Die Story war somit draußen, aber das schien Goto nicht wirklich zu berühren. Ich weiß nicht, wie er sich aus der Sache herausredete, aber der Artikel hatte keine erkennbaren Folgen. Allerdings schlief ich jetzt erheblich besser. Nun war ich ein klar erkennbares Ziel, und gerade das machte es viel unwahrscheinlicher, dass Goto mich auslöschen oder einen meiner Freunde behelligen würde. Aber wenn ich Goto wirklich stürzen wollte, musste ich wohl alles bis ins kleinste Detail erforschen und auf Japanisch schreiben.
Tomohiko Suzuki, ein guter Freund und ehemaliger Redakteur einer Zeitschrift für Yakuza-Fans, fragte mich, ob ich ein Kapitel für einen Sammelband mit »gefährlichen Geschichten und Nachrichten« für den Takarajima-Verlag schreiben wolle. Ich fragte, ob wir es gemeinsam schreiben könnten. Das war eine ganz schöne Zumutung, weil er die Goto-gumi dann auch gegen sich aufbringen würde. Aber er schreckte nicht davor zurück, warnte mich aber vor dem enormen Risiko. Als ich erklärte, dass ich bereit sei, das Risiko auf mich zu nehmen, riet er mir, einen Mann namens Teruo Mochizuki als Leibwächter zu engagieren. Ich kannte diesen Mann. Er war ein guter Freund von Yasunobu Endo gewesen, dem Yakuza-Chef, den Gen Sekine in den Neunzigerjahren ermordet hatte. Sie gehörten nicht derselben Clique an, aber manchmal schlossen Yakuza Freundschaften jenseits der Grenzen ihrer Gruppe. Ein Mitglied der Sumiyo Shikai konnte der »Blutsbruder« eines Inagawakai-Yakuza sein. So war es bei Mochizuki und Endo gewesen. Wichtig war, dass wir einander kannten. Ich fragte Suzuki, warum Mochizuki dazu bereit sei.
»Er ist kein Yakuza mehr. Er ist voriges Jahr ausgestiegen. Aber er ist der perfekte Bodyguard und Fahrer. Ein guter Mann.«
»Ja, ich kenne ihn. Aber er war doch ein Gangsterboss, und so viel ich weiß, arbeiteten 100 Leute für ihn.«
»Stimmt.«
»Dann wäre es doch ein Abstieg, wenn er für mich arbeiten würde.«
»Das schon, aber ein Yakuza mit neun Fingern und einer Ganzkörpertätowierung kann nicht wählerisch sein. Es ist schon in Ordnung.«
Also stellte ich Mochizuki ein. Glücklicherweise hatte ich etwas Geld zurückgelegt, das ich von einer kalifornischen Firma für Recherchen über die Spielhallen-Industrie bekommen hatte. Im Grund hatte ich keine andere Wahl.
Im Juli war der Sammelband druckreif. Mochizuki war schon einige Zeit bei mir. Ich wollte seine Meinung hören, ehe ich die endgültige Version einreichte, denn er kannte Goto recht gut und schien mir der geeignete Ratgeber.
Nachdem er das Manuskript gelesen hatte, sah er nicht besonders glücklich aus. Da er sehr höflich ist, brauchte er einige Sekunden, um aussprechen zu können, was ihm durch den Kopf ging.
»Jake, wenn Sie das schreiben, versucht er womöglich, uns beide umzubringen. Zuerst Sie natürlich, denn er hasst Sie wirklich. Niemand wird es Ihnen verübeln, wenn Sie es nicht veröffentlichen. Sie könnten einfach das Land verlassen.«
Mochizuki holte eine Zigarette aus seiner Manteltasche, reichte sie mir und gab mir Feuer.
Es war ein seltsames Gefühl, sich von einem ehemaligen Yakuza Zigaretten anzünden und morgens Kaffee kochen zu lassen.
Aber gut, er war eben kein Gangsterboss mehr und arbeitete für mich. Ich würde lieber sagen, er habe mit mir gearbeitet, aber das würde ihm nicht gefallen. Da ich ihn bezahlte, war ich sein Chef. Er war 50 Jahre alt, ich 39, er war also älter und viel härter als ich, aber er befolgte meine Anweisungen. Ich verstand diesen Yakuza-Soldaten nie ganz, aber ich schätzte seine Arbeitshaltung.
Wie gewöhnlich trug er ein langärmliges Hemd, das seine Tattoos bedeckte. Der fehlende Finger an seiner linken Hand ließ sich allerdings nicht verbergen. Er hätte eigentlich nie Yakuza werden sollen, sondern Künstler. Tatsächlich war er einmal Künstler gewesen, und zwar kein schlechter. Aber dann hatte er sich mit den falschen Leuten eingelassen und Schulden angehäuft. So war er bei der Yakuza gelandet. Als sein Untergebener einen Auftrag vermasselte und er sich einen Teil seines kleinen Fingers abhackte, um Buße und Reue zu bekunden, war eine Rückkehr zur Kunst so gut wie unmöglich – dafür hätte er alle zehn Finger gebraucht. Später drängte ihn die Yakuza aus der Organisation – wegen Ungehorsams. Die zunehmende Geldgier der Führung gefiel ihm nicht, denn er war altmodisch, ein Relikt aus einer Zeit, als alle Yakuza noch eine Art Ehrenkodex hatten, so fragwürdig dieser in moralischer Hinsicht auch gewesen sein mochte. Vor einem Jahr hatte er 100 Gangster befehligt, jetzt zündete er einem verrückten Juden Zigaretten an und riskierte als Bodyguard 24 Stunden am Tag sein Leben.
Wir waren wohl beide Ausgestoßene, jeder auf seine Art. Mit Sicherheit waren wir beide nicht dort gelandet, wo wir wollten. Ich sah Mochizuki an, der auf meine Antwort wartete.
»Ich werde es zu tun. Verdammt, er bringt mich sowieso um. Er wartet doch nur darauf, dass der aufgewirbelte Staub sich legt. Wenn ich die Chance habe, den Kerl endgültig zu ruinieren und vielleicht seinen Rauswurf aus der Yamaguchi-gumi zu erreichen, dann möchte ich diese Chance auch nutzen.«
»Dann halte ich Ihnen den Rücken frei.«
»Das weiß ich zu schätzen, aber was haben Sie davon?«
»Ein neues Leben. Ich arbeite gerne für Sie.«
»Aber ich zahle Ihnen einen kümmerlichen Lohn.«
»Das stimmt.«
»Wollen Sie nicht wieder Gangsterboss werden, wenn sich die Lage in Ihrer alten Organisation beruhigt hat?«
»Nein. Ich denke jetzt anders. Die letzten paar Monate waren sehr angenehm. Ich hatte endlich Zeit für meinen Sohn und meine Frau. Und meine Arbeit gefällt mir. Außerdem muss ich mich nicht mehr ständig nach hinten abzusichern, wenn ich die Straße entlanggehe.«
»Ich kann Sie nur bis zum Jahresende bezahlen.«
»Dann suche ich mir eben einen neuen Job.«
»Danke. Was raten Sie mir?«
»Streichen Sie das Wort ›betrogen‹. Das ist ein zu emotionales Wort. Wenn Sie sagen, Goto habe die Yamaguchi-gumi betrogen, schütten Sie Öl ins Feuer. Suchen Sie ein besseres Wort.«
Ich befolgte seinen Rat.
Als der Tag der Veröffentlichung nahte, bat er mich um ein Gespräch.
Wir saßen im Erdgeschoss, rauchten Zigaretten und hörten eine unbekannte japanische Rockband, die er mochte.
»Jake«, sagte er auf einmal, »eines verspreche ich Ihnen. Wenn Ihnen etwas zustößt, finde ich heraus, wer das war, und bringe ihn um.«
»Nein, das würde ich nie von Ihnen verlangen, und Sie dürfen es auch nicht tun.«
»Isshukuippaku no ongi. Das ist eine japanische Redensart, die Sie kennen sollten. In der Yakuza-Welt ist damit der Dank gemeint, den Sie jemandem schulden, der Sie für eine Nacht aufnimmt und verköstigt. Sie haben mich aufgenommen und sich um mich gekümmert, deshalb stehen meine Familie und ich in Ihrer Schuld. Und ich bezahle meine Schulden immer. So wie es sich für einen echten Yakuza gehört.«
»Ich schätze Ihre Einstellung, aber …«
»Dann respektieren Sie bitte, was ich sage. Ich werde es tun. Was für ein Mann wäre ich denn, wenn ich kneifen würde? Ich wäre überhaupt kein Mann.«
»Und was erwarten Sie von mir?«
»Versuchen Sie nicht, mich zu rächen, wenn mir etwas zustößt. Lassen Sie es auf sich beruhen. Sie sind kein Yakuza, aber Sie sind ein guter Mann. Versprechen Sie, dass Sie sich um meinen Sohn kümmern – sorgen Sie dafür, dass er eine gute Ausbildung erhält, dass er gut erzogen wird. Das erwarte ich von Ihnen, darum bitte ich Sie.«
»Natürlich werde ich das tun. Wenn Ihnen etwas passiert, adoptiere ich ihn. Und was soll ich ihm dann über seinen Vater erzählen?«
»Sagen Sie ihm, dass sein Vater ein Yakuza war, einer der letzten richtigen Yakuza, und dass er verdammt stolz darauf war.«
»Das werde ich tun, falls etwas passiert. Und Ihre Frau?«
»Die, ach sorgen Sie nur dafür, dass sie keinen Idioten heiratet. Oder einen Journalisten. Diese Leute machen nur Ärger.«
Ich war mir nicht sicher, ob er das scherzhaft meinte.
Der Sammelband wurde am 9. August unter dem Titel Heisei Nihon Taboo Daizen 2008 (Tabu-Nachrichten in Japan 2008) veröffentlicht. Mein Mann in der Yakuza-Führung bekam eine Kopie des Kapitels, lange bevor das Buch im Handel erschien.
Ich hatte etwas eingefügt, was nie zuvor publiziert worden war: die Namen der anderen drei Yakuza, die sich einer Lebertransplantation unterzogen hatten. Nach Goto war es Yoshiro Ogino, ein Gangsterboss der Matsuba-kai, einer anderen Tokioter Yakuza-Gruppe.22 Er und Goto waren Blutsbrüder. Ogino soll der UCLA nach seiner Operation 100 000 Dollar gespendet haben. Ihm folgte wahrscheinlich Hisatoshi Mio, dessen Namen mir Shibata genannt hatte. Dann kam Saburo Takeshita. Er war das Finanzgenie der Goto-gumi. Takeshita leitete 20 Tarnfirmen und verwaltete einen Großteil der Goto-gumi-Gelder. 1992 verhaftete die Polizei von Shizuoka ihn und einen Komplizen wegen Bedrohung und Körperverletzung. Denn er hatte von einem Firmeninhaber Schutzgeld verlangt, und als der 51-jährige Mann nicht zahlen konnte, hatte ihm Takeshita befohlen, seine Tochter zu holen, »um ihr das Gesicht zu zerschneiden«. Als der Mann nicht gehorchte, traten Takeshita und sein Komplize ihn so hart in den Brustkorb und auf die Beine, dass er mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen musste.
Ja, sie alle waren hart arbeitende japanische Männer, die es verdienten, vor irgendwelchen faulen, wertlosen Amerikanern eine Leber zu bekommen.
Allerdings – das sei zugunsten der UCLA erwähnt – wurde nie nachgewiesen, dass sie oder Dr. Busuttil zur Zeit der Operationen wussten, dass ihre Patienten zur japanischen Mafia gehörten. Beide erklärten, dass sie normalerweise kein moralisches Urteil über ihre Patienten fällen und ihren Entscheidungen nur medizinische Aspekte zugrunde legen. Sie bestritten jedoch nicht ausdrücklich, gewusst zu haben, dass einige dieser Patienten Verbindungen zur Yakuza hatten. Sie verweigerten einfach die Auskunft darüber, was genau sie über diese vier Männer wussten und wann sie es erfuhren. Außerdem möchte ich erwähnen, dass die amerikanischen Centers for Medicare and Medicaid Services zusammen mit der UCLA untersucht haben, ob das medizinische Zentrum der UCLA rechtswidrig gehandelt hatte, als es die vier japanischen Patienten mit einer neuen Leber versorgte. Der Los Angeles Times zufolge erbrachte die Untersuchung keine Hinweise auf unrechtmäßiges Verhalten. Wie dem auch sei, auf jeden Fall bezweifelten viele Leute, dass es moralisch korrekt sei, Ausländern mit kriminellem Hintergrund auf Kosten von Amerikanern Organe zu überlassen.
Was in der UCLA geschehen ist, könnte aber nicht nur moralisch verwerflich sein. Die Bundespolizei hat angedeutet, dass die UCLA möglicherweise unwissentlich an einer Geldwäsche beteiligt war. Mehrere Beamte erklärten mir, dass Geldwäsche auf internationaler Ebene nichts weiter bedeute als den Transfer schmutziger Gelder von Übersee in die USA, so wie im Fall des Kaisers der Kredithaie. Da die Yakuza-Leute den größten Teil ihres Geldes mit kriminellen Geschäften verdienen, ist es zumindest recht wahrscheinlich, dass das Honorar, das die UCLA von mindestens einem der vier behandelten Männer mit Yakuza-Kontakten erhielt, teilweise aus illegalen Aktivitäten in Japan stammte. Meines Wissens wurde gegen keinen dieser Männer wegen Geldwäsche ermittelt. Jede Ermittlung würde natürlich die Unterstützung der japanischen Behörden voraussetzen. Es bleibt also die Frage, ob die UCLA überhaupt wusste, dass sie Yakuza-Mitglieder behandelte (soviel ich weiß, hat sie es nie abgestritten, sondern nur betont, sie fälle kein moralisches Urteil über ihre Patienten), und ob sie wusste, dass irgendwelche Zahlungen (einschließlich Spenden) möglicherweise aus kriminellen Aktivitäten stammten. Ich wüsste gerne die Antwort darauf.
Die Reaktion auf die Textsammlung war heftig. Suzuki bekam alle Telefonanrufe und Drohungen ab. Ich glaube, ich hatte Glück, mich nicht darum kümmern zu müssen. Das Buch wurde von einigen Stellen zur Kenntnis genommen und rezensiert. Shukan Jitsuwa, ein Yomiuri-Fanmagazin, veröffentlichte einen Artikel über das Buch und mich. Man warf mir vor, ein CIA-Agent zu sein, eine Schachfigur der CIA oder möglicherweise Teil einer internationalen jüdischen Verschwörung oder aber ein publicitygeiler, blöder Amerikaner, der keine Ahnung davon hatte, wie großartig die Yakuza war und wie viel sie für die japanische Gesellschaft tat.
Ohne mein Wissen stellte Mochizukis Blutsbruder, der immer noch in der Organisation war, als der Sammelband erschien, 24 Stunden am Tag vier Autos in meiner Nähe ab. Das war eine Warnung an die Goto-gumi: Ich stand unter dem Schutz einer anderen kriminellen Gruppe. Obwohl ich nicht darum gebeten hatte, war ich froh darüber. Er hatte auch nicht gefragt, ob das in Ordnung sei, da er wusste, dass ich Nein gesagt hätte. Denn ich wollte unbedingt vermeiden, irgendeiner japanischen Mafiagruppe etwas zu schulden. Aber nun war es so und ich musste dem Mann dankbar dafür sein, dass er für mich seinen Hals riskierte.
Leider hatte das Ganze noch eine bedauerliche Folge. Kodansha International zog das Buch zurück. Man hatte die Risiken einer Veröffentlichung geprüft, und das Ergebnis war nicht gut ausgefallen.
Um den 14. Oktober wurde Goto schließlich offiziell aus der Yamaguchi-gumi ausgeschlossen. Wer mag da noch behaupten, Bücher seien wirkungslos? Offiziell hieß es, der reichste und einflussreichste Yakuza des Landes sei ausgeschlossen worden, weil er lieber Partys gefeiert habe, statt seine Pflicht zu erfüllen. Doch die Polizei versicherte mir, dass die Veröffentlichung des Heisei Nihon Taboo Daizen 2008 der ausschlaggebende Grund gewesen sei. Man riet mir daher auch, mich eine Weile möglichst ruhig zu verhalten.
Einige von Gotos Helfershelfern wurden ebenfalls für immer oder zeitweise hinausgeworfen. Die Goto-gumi wurde in zwei Familien aufgeteilt, und Goto war damit kein Gangsterboss mehr, nur ein ehemaliger Gangsterboss. Das war ein großer Tag für mich. Ich erhielt Glückwünsche von Polizisten, Freunden, Kollegen und Informanten.
Am 15. nahm ich den Telefonhörer ab und hörte eine Stimme, die mich sprachlos machte. Ich hatte sie schon einmal gehört, auf einer DVD über eine Yamaguchi-gumi-Zeremonie. Aber ich hätte nie erwartet, von einem so ranghohen Mafioso angerufen zu werden. Nachdem er seinen Namen genannt hatte, kam er sofort zur Sache.
»Danke, dass Sie uns auf die Angelegenheit aufmerksam gemacht haben. Ich glaube, wir haben sie zufriedenstellend gelöst. Wir wissen Ihre harte Arbeit zu schätzen.«
Dann hängte er auf.
Ich habe keine Ahnung, woher er meine Nummer hatte.