»Nehmen Sie ihr die Handschellen ab, Danley«, sagte Andreas. »Und ich will sie bei mir in der Limousine haben.«

»Ich würde Ihnen nicht raten -«

»Ich glaube doch, dass ich mich selbst vor ihr schützen kann.« Er schloss Cassie in die Arme. »Und ich bezweifle, dass sie irgendeine Gefahr für meine Tochter darstellt. Sie haben mir selbst gesagt, dass sie als Erstes versucht hat, Cassie zu retten.«

»Das könnte ein intelligenter Schachzug -«

»Bringen Sie sie in den Wagen, Danley.«

»Jawohl, Sir.« Widerstrebend löste er die Handschellen und öffnete die Tür.

Melissa stieg ein.

»Sie haben einen Kratzer am Hals«, sagte Andreas zu ihr. »Es blutet ein bisschen. Hier, nehmen Sie ein Kleenex.« Er wickelte Cassie noch fester in die Decke. »Tut mir Leid. Ich hatte den Auftrag erteilt, Ihnen nicht wehzutun.«

»Warum?«

»Das war Teil der Abmachung.« Er nahm sein Handy heraus. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich muss jetzt meine Frau anrufen.« Er wählte die Nummer. »Cassie ist in Sicherheit. In völliger Sicherheit. Ja, es ist alles in Ordnung. Sie ist nicht verletzt. Ich liebe dich auch. Ich melde mich später wieder.«

»Welche Abmachung?«, fragte Melissa.

»Michael Travis. Er mich angerufen und mir mitgeteilt,

Verrat. Aber warum war sie so schockiert? Sie hätte es sich denken können, als man sie aus dem Haus geschleppt hatte und weit und breit keine Spur von Travis oder Galen zu sehen gewesen war.

»Und wie lautet die Abmachung?«

»Sie gehen straffrei aus. Sie werden nicht wegen Entführung oder sonst einer strafbaren Handlung belangt. Sie bleiben achtundvierzig Stunden in Sicherheitsgewahrsam und sind dann freizulassen.«

»Und was ist mit Travis?«

»Er ist ein kluger Kopf. Er weiß, dass ich nur darauf warte, ihm den Hals umzudrehen. Die Abmachung war nur auf Sie zugeschnitten. Er war sehr überzeugend, und ich hatte keine Wahl, als er mir sagte, Deschamps wüsste, wo Sie sich alle aufhielten, und könnte jeden Augenblick versuchen, Cassie in seine Gewalt zu bringen. Er sagte, er würde mich anrufen, bevor er sich mit dem Pegasus auf den Weg macht, und wir sollten dafür sorgen, dass wir vor Deschamps eingreifen.«

Deschamps, der ihnen zu der Hütte gefolgt war, wie ihr plötzlich mit Entsetzen klar wurde. Gott, warum hatte sie nicht zwei und zwei zusammengezählt? Wenn sie sich mehr von ihrem Verstand als von ihren Gefühlen hätte leiten lassen, hätte sie sich zusammenreimen können, was Travis offensichtbar sofort klar gewesen war. All die Stunden, die er und Galen am Strand verbracht hatten ...

»Haben Sie die Umgebung abgesucht?«

»Natürlich. Ich wäre hocherfreut gewesen, wenn wir Travis oder Deschamps hätten schnappen können.«

»Deschamps ist Ihr Mann. Er steckt hinter dem Anschlag von Vasaro.«

»Ich will sie beide. Aber ich habe mir nach Travis’ Anruf einen Bericht über Deschamps anfertigen lassen, und offensichtlich ist der Bursche nur eine Randfigur.«

»Er ist ein Monster. Fragen Sie Cassie.«

»Leider wird sie darauf nicht antworten.« Er schaute seine Tochter an. »Stimmt es, dass Cassie keine Alpträume mehr hat?«

Melissa nickte. »Es ist noch verfrüht, etwas Konkretes zu sagen, aber ich denke, damit ist es vorbei.«

»Ich kann nur beten, dass Sie Recht behalten. An dem Tag, als Cassie entführt wurde, hätte ich Ihre Schwester am liebsten erschossen.«

Melissa zuckte zusammen. »Das hat bereits jemand anders für Sie besorgt.«

»Ich weiß. Ich habe ihre Leiche nach Virginia überführen lassen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie eine Komplizin war.«

»War sie auch nicht. Juniper zu verlassen schien zu der Zeit das Beste für Cassie zu sein.« Sie reckte das Kinn vor. »Und sie hatte Recht. Cassie geht es mittlerweile viel besser. Wenn sie in dem Haus geblieben wäre, hätte es möglicherweise keine Rettung für sie gegeben, oder sie wäre an einem dieser hysterischen Anfälle gestorben.«

»Soll ich etwa dankbar sein?«

»Zum Teufel, ja.«

»Sie hat Cassie in Gefahr gebracht.«

»Und sie hat ihr Leben für Ihre Tochter gelassen.«

Er schwieg. »Genau wie Sie heute in der Hütte bereit gewesen wären, für sie zu sterben.«

»Ich habe einfach instinktiv reagiert. Und selbst wenn sie gewusst hätte, dass sie sterben würde, wäre Jessica dennoch in das Museum gegangen, um den Pegasus zu sehen. Sie sah darin ihre einzige Chance, Cassie zurückzuholen. Sie war ganz nahe dran.«

»Das hat Travis mir schon erzählt.« Andreas wandte den Blick wieder zu Cassie. »Wie nahe war sie dran?«

»Sehr nahe.«

»Sie hatte mich gebeten, Cassie noch einmal nach Vasaro zu bringen. Ich habe mich geweigert.«

»Sie hätten es tun sollen.«

»Im Nachhinein ist man immer klüger. Aber es wird Sie freuen, dass Ihre Schwester ihren Willen bekommt.«

»Wie bitte?«

»Wir werden dorthin fahren, für zwei Tage, und Sie sind mein Gast.«

»Warum?«

»Sagten Sie nicht eben erst, es sei das Beste für Cassie?«

Melissa musterte ihn prüfend. »Aber warum ausgerechnet jetzt? Ich hatte den Eindruck, Sie wollten so schnell wie möglich zurück in die Staaten und sie zu ihrer Mutter bringen.«

»Ich muss einige Tage hier bleiben, und ich will sie nicht aus den Augen lassen. Ich bin nicht mehr bereit, mich auf andere Leute zu verlassen, was ihre Sicherheit betrifft. Das werden Sie verstehen.«

»Ja.« Aber Andreas verschwieg ihr doch irgendetwas.

»Offensichtlich haben Sie das schon geplant, bevor -«

»Keine Spur von der Skulptur, Mr. President.« Danley hatte die Tür geöffnet. »Wir haben alles auf den Kopf gestellt.«

»Damit habe ich auch nicht gerechnet. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Travis sie wirklich bei sich hat. Sagen Sie dem Fahrer, er soll losfahren.« »Sie haben nach dem Pegasus gesucht«, murmelte Melissa, als der Wagen angelassen wurde. »Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass Travis gar nicht vorhatte, ihn aus dem Museum mitzunehmen. Er meinte, Sie würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn zurückzubekommen. Ich habe ihn dazu gedrängt.«

»Warum?«

»Deschamps hatte meine Schwester getötet, und er wollte die Skulptur. Ich hatte vor, sie als Köder zu benutzen.«

»Dann müssen Sie ja wirklich überzeugend gewesen sein«, erwiderte er grimmig. »Bitte hören Sie damit auf, ihn zu verteidigen. Der Diebstahl des Pegasus ist das Geringste seiner Verbrechen.«

»Er hat Cassie nichts zuleide getan.«

»Er hat sie in Gefangenschaft gehalten. Und ich will, dass er bestraft wird.«

Erschöpft lehnte sie sich im Sitz zurück. Warum versuchte sie, Travis zu retten, obwohl sie doch so sauer auf ihn war? Er hatte sie ausgetrickst und versuchte nun auch noch, ihr die Hände zu binden. »Von mir aus, tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber in Gegenwart von Cassie sollten Sie lieber nicht darüber sprechen. Für sie ist er immer noch ein Held.«

Andreas runzelte die Stirn. »Glauben Sie, dass sie jetzt wach ist?«

»Ich weiß es. Sie hört alles, was wir sagen.«

»Und woher wissen Sie das?«

Offensichtlich hatte Travis Andreas nichts von der besonderen Beziehung zwischen Melissa und Cassie erzählt, und sie hatte auch nicht vor, ihn darüber aufzuklären. Glaubwürdigkeit war in der jetzigen Situation von entscheidender Bedeutung. Es reichte, wenn er das Gefühl hatte, bei ihr seien einfach nur ein paar Schrauben locker.

»Seit wir von Juniper weg sind, bin ich fast rund um die Uhr bei ihr. Deshalb weiß ich es.«

Er streichelte Cassies Wange und sprach mit samtweicher Stimme auf sie ein. »Ich liebe dich, mein Kleines. Ich bringe dich bald nach Hause. Das gefällt dir doch bestimmt. Willst du nicht mit mir sprechen? Nein. Ist schon in Ordnung. Vielleicht später.« Er räusperte sich und wandte sich wieder Melissa zu. »Aber Sie haben sie zum Sprechen gebracht?«

Sie runzelte die Stirn. »Wie kommen Sie denn darauf? Nein, so weit sind wir noch nicht.«

»Danley sagte, sie hätte Ihren Namen geschrien.«

Melissa riss die Augen auf. »Tatsächlich? Sie hat wirklich meinen Namen gesagt?«

»Geschrien.«

»Gott sei Dank.« Sie spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Dann sollte ich eigentlich nicht sauer auf Travis sein. Es hätte vielleicht noch Wochen gedauert, an diesen Punkt zu kommen, wenn sie nicht solche Angst gehabt hätte.« Entschlossen fügte sie hinzu: »Und auch Sie sollten nicht wütend auf ihn sein.«

»Ich werde darüber nachdenken ... später.«

Nachdem sie ihn gewarnt hatte, würde er es nicht wagen, seine Cassie zu verwirren. Aber das hieß noch lange nicht, dass er sich beruhigen würde. Andreas war schwer zu durchschauen, und es waren noch reichlich Unterströmungen vorhanden, sowohl bei ihm, als auch in der ganzen Situation. Aber gut, wenn sie sich den Weg durch das Chaos bahnen wollte, musste sie bald damit beginnen. Es spielten sich mehr Dinge ab, als Andreas ihr gesagt hatte. Aber das, was Andreas eben erwähnt hatte, war schon mal ein Anhaltspunkt. Darauf wollte sie sich zuerst konzentrieren.

Warum fuhren sie nach Vasaro?

Von Travis’ Hubschrauber aus wirkten die Limousine und die Begleitfahrzeuge wie eine Riesenschlange, die sich auf ihrem Weg zur Autobahn nach Vasaro dahinwand.

Galen stieß einen leisen Pfiff aus. »Andreas hat ein halbes Bataillon bei sich.«

»Er will auf jeden Fall verhindern, dass ihm Cassie noch einmal abhanden kommt.« Travis’ Blick schweifte zu dem Boot hinüber, das im Hafen vor Anker lag und sich jetzt in Bewegung setzte. »Da haben wir ja auch Deschamps. Er wird sich vor Wut ins Bein beißen, dass er nicht in die Hütte gestürmt ist und sich die Skulptur geholt hat, solange noch Zeit war.« Er zeigte ihm den Stinkefinger. »Fick dich, du Scheißkerl.«

»Fertig?«

Travis nickte. Die goldene Skulptur stand auf dem Boden zu seinen Füßen. Er hatte sie absichtlich nicht in die Kiste gepackt. Als sie den Strand entlang zum Hubschrauber gerannt waren, hatte sie im Sonnenlicht gefunkelt. Deschamps musste sie gesehen haben. »Nichts wie weg hier.«

Als Melissa Vasaro erblickte, verschlug es ihr beinahe den Atem. Sanfte, mit Blumen übersäte Hügel erstreckten sich vor ihr, und Gott, wie gut es duftete ...

Jetzt begriff sie, warum Andreas das Fenster heruntergefahren hatte. Der köstliche Duft von

Lavendelblüten ließ einen ganz schwindelig werden.

»Wunderbar«, murmelte sie.

Andreas nickte. »Cassie hat das immer so gern gehabt. Ich hatte gehofft, dass sie vielleicht irgendwie darauf reagieren würde.«

»Sie ist stur.« Die Limousine fuhr auf ein großes, schlichtes Haus zu. Es war ein hübscher, großzügig angelegter Bauernhof, der von gut erhaltenen Nebengebäuden umgeben war. Offensichtlich war der Hof noch in Betrieb, aber Melissa konnte niemanden bei der Arbeit sehen. »Hat Mr. Danley alle Arbeitskräfte vom Hof gejagt?«

»Caitlin Vasaro wäre ganz sicher empört, wenn wir das getan hätten. Ihre Arbeiter sind wie eine Familie für sie. Wir haben vorübergehend andere Unterkünfte für sie in der Nähe gefunden.« Die Limousine hielt vor der Eingangstür. »Dieses Haus ist besser gesichert als Fort Knox. Hier wird Cassie nicht noch einmal etwas zustoßen.«

»Deschamps lauert immer noch irgendwo da draußen. Wäre es nicht besser, sie nach Washington zu schicken?«

»Deschamps hat keinen Grund, meine Tochter aufs Korn zu nehmen. Ich habe den Pegasus nicht mehr.«

Andreas stieg aus, Melissa folgte ihm. »Ich werde sie in ihr Zimmer bringen. Es ist das zweite im Obergeschoss. Suchen Sie für sich irgendein Zimmer aus, Sie haben die Wahl.« Er sah sich nach ihr um. »Sie können sich im ganzen Haus frei bewegen. Das Gelände ist allerdings tabu. Wenn Sie es versuchen, die Veranda zu verlassen, wird man Sie daran hindern.«

Sie nickte und ließ ihren Blick zu den Ausläufern des Gebirges schweifen. Sie sah, wie Dutzende von Männern ausschwärmten und rund um das Haupthaus und die

Nebengebäude Position bezogen. »Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie mich. Cassie hat sich an mich gewöhnt.«

»Sie wird Sie nicht brauchen. Für eine Krankenschwester und einen Arzt ist gesorgt. Und ich werde so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen.« Er verzog das Gesicht.

»Wer weiß? Vielleicht wird sie ja jetzt mit mir sprechen.«

»Ich hoffe es.«

Er musterte ihren Gesichtsausdruck. »Sie meinen es ernst.«

»Ich glaube zwar nicht, dass Sie es mir abnehmen, aber ich liebe sie.« Und nach einer Weile: »Ich werde etwas zu essen machen und es ihr bringen. Cassie und ich haben heute noch nichts gekriegt. Also wenn Sie wollen, dass mir einer der CIA-Leute auf die Finger schaut, damit ich Ihnen nichts ins Essen tue, sollten Sie ihn jetzt gleich herschicken. Wo ist die Küche?«

Die riesige Küche des Bauernhofs war voller Vorräte, und Melissa fand Dosensuppe und Gemüse für einen Salat. Sie nahm etwas davon für sich selbst und stellte den Rest auf ein Tablett, das sie nach oben zu Andreas und Cassie brachte.

Eine Stunde später stand sie an der Spüle, wusch das Geschirr ab und betrachtete durch das Fenster die Hügel. Es musste wunderbar sein, hier zu wohnen und immer diese Blumen sehen zu können. Was für ein schöner Ort

Plötzlich lief es ihr eiskalt über den Rücken.

Was für ein tödlicher Ort.

Melissa stand im Türrahmen zu Cassies Zimmer. »Kann ich Sie hier draußen auf dem Korridor sprechen?«

»Nicht jetzt«, erwiderte Andreas.

»Doch, jetzt. Ich möchte nicht in Cassies Gegenwart sprechen, aber notfalls tue ich es.«

Er sah erst Melissa, dann Cassie an. »Gut, fünf Minuten.« Er stand auf und folgte ihr aus dem Zimmer. »Sie sind ja weiß wie ein Gespenst. Was ist los?«

»Sagen Sie es mir. Irgendwas geht hier vor. Was ist es?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Von wegen.« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. »Irgendwas geht hier vor sich, und Sie sind ein Teil davon.«

»Warum sagen Sie das?«

»Weil es wahr ist, stimmt’s?«

»Sie haben eine blühende Fantasie. Sie und Cassie sind hier in Sicherheit.«

Sie wusste, dass das stimmte. »Es ist Travis.«

Er drehte sich um.

Sie ergriff seinen Arm. »Was wird mit Travis geschehen?«

»Was er verdient hat.« Er ging in Cassies Zimmer zurück und verschloss die Tür.

Scheißkerl. Sie taumelte gegen die Wand. Er war so hart und unnachgiebig. Er erzählte ihr überhaupt nichts. Er würde es geschehen lassen .

Also gut, sie konnte es nicht dadurch verhindern, dass sie hier herumstand und sich selbst bemitleidete.

Sie richtete sich auf und lief in das Zimmer, das sie sich ausgesucht hatte, schnappte sich einen gehäkelten Umhang und wickelte ihn sich um die Schultern. Gott, war ihr kalt. Sie kauerte sich auf die Fensterbank und starrte hinaus auf die Hügel.

Was für ein tödlicher Ort.

Dieser Gedanke war ihr aus dem Nichts gekommen und mit ihm das Bild von Travis, der stürzte und aus der Brust blutete. Seine Augen wurden glasig, als er sein Leben aushauchte.

Er würde sterben.

Genauso wie Jessica gestorben war und auch der nette alte Mann an der Universität. Sie hatte beides nicht verhindert. Auch dass Travis starb, würde sie nicht verhindern können.

Du hast ihm keine Chance gelassen, hatte Travis gesagt. Man könnte es auch Schicksal nennen.

Travis, der stürzte und starb.

»Nein!« Sie verscheuchte das Bild.

Feigling. Vielleicht gab es irgendetwas, womit sie die Einzelteile zusammensetzen konnte. Sie zwang sich, die Augen zu schließen und sah Travis vor sich, der stürzte .

Wo war er?

Travis, der stürzte .

Er befand sich in einem Gebäude oder Schuppen, und neben ihm an einem Pfosten hing eine alte Laterne mit einem Kupferdeckel. Hinter ihm sah sie einen Tisch mit merkwürdigen Kisten, und an einer Ecke leuchtete etwas Goldenes auf.

Der Pegasus.

Sie wurde von Entsetzen gepackt.

Eine Blutlache und smaragdgrüne Augen, die hinabstarrten .

Nein, das war Jessica. Es durfte nicht noch einmal so geschehen. Sie konnte es verhindern.

Wie aber sollte sie das anstellen, wenn sie nicht einmal die Panik in den Griff bekam, die ihren Verstand blockierte? Vor Verzweiflung hätte sie schreien können. Es ist nicht fair. Wenn du mich schon etwas sehen lässt, dann gefälligst so viel, dass ich es verhindern kann.

Travis, der stürzte und starb.

Also gut, dann willst du mich eben nicht mehr sehen lassen. Ich bekomme es schon heraus.

16:30

»Sie können da nicht hineingehen.« Danley versperrte Melissa den Weg, als sie versuchte, das Arbeitszimmer zu betreten. »Der Präsident hat zu tun.«

»Ich will ihn sprechen. Und wenn er nicht gerade einen Angriff auf den Irak anordnet, dann will ich ihn sofort sprechen.«

»Er möchte nicht gestört werden.«

»Jetzt sofort.«

»Ich kann Sie auch abführen lassen -«

»Schon in Ordnung, Danley.« Andreas tauchte in der Tür auf. »Offensichtlich kennt die Dame die Bedeutung des Wörtchens nein nicht.« Er trat zur Seite. »Kommen Sie herein, Ms. Riley. Ich kann einige Minuten erübrigen.«

Sarkastisch fügte er hinzu: »Der Irak bereitet mir zurzeit keine Probleme. Sie werden sich vielleicht erinnern, dass ich andere Sorgen habe.«

»Wie könnte ich das vergessen?« Sie sah ihm direkt ins Gesicht. »Wo wollen Sie Travis heute Nacht treffen?«

»Wie bitte?«

»Versuchen Sie nicht, Ihr Spielchen mit mir zu treiben. Sie hätten Cassie direkt nach Hause gebracht, wenn Sie nicht gute Gründe hätten, hier zu bleiben. Also habe ich mich gefragt, welche Gründe das sein könnten.«

Er musterte sie durchdringend. »Und wie lautet die Antwort?«

»Der Pegasus oder Deschamps. Oder beides.«

»Es könnten auch ganz andere Gründe als persönliche sein.«

»Aber persönliche Gründe haben Sie hierher geführt.«

»Und ich habe bekommen, weshalb ich gekommen bin.«

»Nicht vollständig. Solange Deschamps noch frei herumläuft, werden Sie nie das Gefühl haben, dass Cassie in Sicherheit ist.« Melissa holte tief Luft. »Und das ist, was Travis Ihnen versprochen hat, stimmt’s? Als er Sie anrief, bevor er in den Hubschrauber stieg, hat er Ihnen gesagt, Sie sollten nach Vasaro fahren, dort würde er Sie treffen und Ihnen die Skulptur übergeben. Im Gegenzug sollten Sie ihm Straffreiheit garantieren. Aber mit diesem Anruf sollte lediglich Deschamps hereingelegt werden. Travis hatte Sie zuvor schon einmal angerufen, stimmt’s? Er hat Sie aufgefordert mitzuspielen, dann würde er Ihnen auch noch Deschamps ans Messer liefern. Dann hätten Sie alles, was Sie wollten.«

»Ach ja? Das ist reine Spekulation.«

»Aber ich liege doch richtig, oder? Er hat Vasaro ausgesucht, weil er weiß, dass Deschamps sich leicht hierher locken lassen würde. Schließlich kennt er sich hier aus, denn er hat vor dem Entführungsversuch das Haus und das Areal gründlich ausgekundschaftet. Was kann es schon schaden, wenn Sie es zugeben?«

Andreas schwieg einen Augenblick, dann nickte er langsam. »Travis rief mich tatsächlich nach Ihrem Treffen mit Deschamps in St. Ives an und sagte, ich solle nach Cannes kommen und dort abwarten, er werde mich später per E-Mail kontaktieren.«

»Wo will Travis Sie treffen?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine Einmischung.«

»Sie treffen ihn gar nicht, stimmt’s?«

»Es ist nicht geplant. Es war von vornherein nur als Falle für Deschamps gedacht. Travis versprach mir, den Pegasus zurückzulassen, sobald er Deschamps erledigt hätte.«

»Wo zurücklassen?«

Andreas lächelte. »Sie sind ganz schön hartnäckig.«

»Werden Sie Travis laufen lassen, nachdem er Deschamps getötet hat?«

»Darüber haben wir nicht geredet. Ich denke, er weiß, dass er auf sich allein gestellt ist, sobald ich das habe, was mir gehört. Er ist ein intelligenter Bursche. Es könnte ihm gelingen zu entkommen.«

»Aber Sie werden zuschlagen, sobald er Vasaro verlassen hat.«

»Natürlich habe ich vorgesorgt, dass mir Deschamps nicht entwischt, sollte er Travis töten.«

Travis, der stürzte und im Sterben lag ...

Dieses Bild versetzte sie in Panik. Sie musste sich beherrschen, Ruhe bewahren. »Aber Sie beabsichtigen nicht, in der Nähe zu sein, falls Travis Hilfe braucht.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mein Gott, Sie haben eine ganze Armee hier versammelt. Sie könnten Leute hinschicken, die dafür sorgen, dass Deschamps Travis nichts antun kann.«

»Was wiederum Deschamps warnen könnte, der dann die Chance hätte, die Flucht zu ergreifen.«

»Auf jeden Fall hätten Sie die Skulptur.«

Er lächelte. »Ich will alles.«

Das hatte sie befürchtet. »Sie wollen, dass Travis getötet wird. Sie betrachten das Ganze als persönliche

Angelegenheit, aber Sie wollen weder Danley noch einem seiner Leute den Auftrag geben. Weil das Ihrer Amtsauffassung als Präsident widerspräche. Sie hoffen aber, dass er stirbt.«

Sein Lächeln verschwand. »Er hat meine Tochter entführt. Er hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Tagelang war sie auf dem Präsentierteller, nicht nur für Deschamps, sondern auch für jeden anderen Idioten, der es auf mich abgesehen hat. Meine Frau hat Höllenqualen ausgestanden. Sie hätte ihr Baby verlieren können. Ich glaube, der Gerechtigkeit würde ein großer Dienst erwiesen, wenn die beiden sich gegenseitig umlegten. Also, war’s das jetzt? Ich muss wieder an die Arbeit.«

Es war zwar aussichtslos, dennoch musste sie es versuchen. »Bitte schicken Sie Danley oder jemand anders hin, um ihn zu retten.«

»Soll er sich doch selbst retten. Vielleicht hat er ja Glück.«

»Er wird sterben.«

»Guten Tag, Ms. Riley.«

Sie holte tief Luft. »Okay, dann sagen Sie mir wenigstens, wo er ist, damit ich ihm helfen kann.«

»Keine Einmischung.«

»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich verlange wirklich nicht viel.« Sie rieb sich die Stirn. »Es wird heute Nacht passieren, denn Sie haben mir gesagt, Sie wollten mich lediglich achtundvierzig Stunden festhalten. Sie werden ihn nicht in die Nähe von Cassie lassen, also muss er irgendwo weit draußen im Gelände sein. Er ist in einer Art Haus, hab ich Recht?«

Er hob die Augenbrauen. »Gut geraten.«

»Ich werde ihn schon finden.«

»Sie sind meine Gefangene. Sollten Sie das Gelände verlassen, wird auf Sie geschossen.«

»Das glaube ich nicht. Sie sind ein ehrenwerter Mann, und Sie wissen, dass ich Cassie geholfen habe. Sie müssen mich schon töten, wenn Sie mich aufhalten wollen.« Ihr Kinn bebte. »Aber vielleicht bekommen Sie ja noch einen Bonus, falls Deschamps mich gleich in einem Aufwasch ins Jenseits befördert.«

»Vasaro ist ein großes Gelände. Sie werden Travis nie finden.«

»Ich werde ihn finden. Sie brauchen lediglich Danley anzuweisen, dass er mich nicht als Übungszielscheibe benutzen soll. Sagen Sie ihm, er soll mir eine Waffe besorgen.«

»Sie überspannen den Bogen reichlich.«

»Mir bleibt nichts anderes übrig.« Sie versuchte, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen, was ihr jedoch nicht gelang. »Travis hat das nicht verdient. Es stimmt, er hat einiges getan, was er nicht hätte tun dürfen, aber er ist ein guter Mensch. Sie machen einen Fehler.«

Er schüttelte den Kopf.

»Außerdem werden Sie es bereuen.«

»In meiner Position muss ich viele Entscheidungen treffen, die ich später bereue.«

»Aber diese muss doch nicht dazugehören. Er hat Cassie einmal das Leben gerettet. Hat das denn überhaupt kein Gewicht?« Sie kam nicht an ihn heran, stellte sie resigniert fest. »Cassie denkt an Travis wie an einen Freund. Werden Sie später irgendwann in der Lage sein, ihr klar zu machen, was Sie mit ihm gemacht haben?«

Er antwortete nicht direkt. »Es ist offenkundig, dass Sie Travis zugetan sind, aber es wäre vernünftig, wenn Sie es sich noch einmal überlegen würden. Ich habe kein Interesse daran, Ihnen wehzutun. Halten Sie sich da raus, Ms. Riley.«

»Den Teufel werde ich tun.« Sie wandte sich um und lief wütend an Danley vorbei den Flur entlang. Sie musste aufhören zu zittern. Sie hatte ohnehin nicht viel Hoffnung gehabt, Andreas überreden zu können, ihr zu helfen. Wenn es ihrem Kind so ergangen wäre, würde sie bestimmt die gleiche Verbitterung empfinden.

Sie machte sich etwas vor. Sie hatte auf ein Wunder gehofft. Also gut, das Wunder war nicht eingetreten, und nun war sie auf sich allein gestellt. Sie stieß die Tür zur Bibliothek auf. Sie konnte nicht blind auf dem ganzen Gelände von Vasaro herumlaufen. Es musste irgendwo einen Grundstücksplan geben, auf dem alle Außengebäude verzeichnet waren.

Den musste sie bloß finden.

Melissa benötigte drei Stunden, um den Plan aufzustöbern. Er befand sich nicht im Regal, sondern steckte in einem Umschlag mit anderen Unterlagen über das Haus in der obersten Schreibtischschublade.

Hastig breitete sie den Plan auf dem Schreibtisch aus. Er sah ziemlich neu aus, daher mussten eigentlich alle aktuellen Gebäude auf dem Grundstück verzeichnet sein. Sie lagen offensichtlich kilometerweit auseinander. Ihre Chancen, das Richtige ausfindig zu machen, waren praktisch gleich null.

Sie sah aus dem Fenster. Die Sonne ging schon unter. Bald würde die Nacht hereinbrechen, und dann würde es passieren. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihr noch blieb. Sie ließ sich in den Schreibtischsessel fallen und schlug die Hände vors Gesicht.