Lyon

»Mach nicht auf«, sagte Danielle Claron.

Es klingelte erneut. Henri stand auf.

»Sei nicht verrückt«, flehte sie.

»Wenn das van der Beck ist, müsste ich verrückt sein, ihm nicht aufzumachen. Wir haben das alles besprochen, Danielle. Wir müssen aus Lyon verschwinden, und ich habe nicht vor, das als armer Mann zu tun.«

»Würdest du die Stadt lieber in einem Leichenwagen verlassen?«

»Habe ich nicht immer gut für dich gesorgt? In den letzten zehn Jahren hattest du immer genug zu essen auf dem Tisch, aber jetzt haben wir die Chance, ein Leben zu führen, wie wir es verdienen.«

»Ich bin diejenige, die dir diese Chance gegeben hat. Und ich sage dir, dass du -«

Es klingelte.

»Also gut, mach auf. Aber sei vorsichtig.« Danielle befeuchtete ihre Lippen. »Wir hätten uns gar nicht darauf einlassen sollen. Schließlich sind wir auf das Geld nicht angewiesen.«

»Bisher hast du dich noch nie beschwert. Diese Sache ist auch nichts anderes, nur ein bisschen größer. Überlass das Verhandeln mir.«

Sie ging in Richtung Schlafzimmer. »Glaub mir, ich habe kein Interesse, dabei zu sein.«

»Umso besser. Du bist zu durchsichtig. Ich hab gesehen, wie van der Beck dich beobachtet hat, als er -« Plötzlich erstarrte er, als er durch den Spion spähte. Es war nicht van der Beck. Dieser Mann war groß, blond, kräftig gebaut und höchstens Ende dreißig.

»Ja?«

»Monsieur Claron?« Der Mann lächelte. »Mein Name ist Jacques Lebrett. Jan van der Beck schickt mich. Ich habe etwas für Sie.«

»Warum kommt er nicht selbst?«

»Er ist ein sehr beschäftigter Mann. Hat er Ihnen nicht gesagt, dass er jemanden schicken würde?«

Van der Beck hatte die Möglichkeit erwähnt, aber Claron kam das alles dennoch merkwürdig vor. »Sagen Sie van der Beck, wenn er -«

»Er befindet sich gerade in äußerst delikaten Verhandlungsgesprächen.« Lebrett öffnete seine Aktentasche und hielt sie so, dass der Inhalt durch den Spion sichtbar war.

»Aber er ist nicht zu beschäftigt, um Ihnen eine große Summe für Ihre Informationen zu bieten.«

Geld. Bündelweise Francs. Claron hatte noch nie so viel Geld gesehen.

»Können wir reden, Monsieur Claron?«

So viel Geld ...

Henri löste den Riegel und öffnete die Tür. »Kommen Sie rein.«

»Danke.« Der Mann lächelte. »Ich bin sicher, wir werden uns einigen können.«

Die Frau war entkommen.

Kein Problem. Edward Deschamps hatte das Auto, das in der Einfahrt stand, fahruntüchtig gemacht, und das Haus lag kilometerweit von der Straße entfernt. Henri Claron war zu leicht gestorben, aber seine Frau ausfindig zu machen, war eine nette Herausforderung. Den Mann zu töten, hatte richtig gut getan. Deschamps war schon so lange auf der Jagd nach Travis, dass er allmählich nervös wurde. Als sich herausstellte, dass die Clarons liquidiert werden mussten, hatte er die Gelegenheit beim Schopf ergriffen.

Deschamps säuberte das blutige Messer, wischte sorgfältig seine Fingerabdrücke vom Waschbecken und machte sich daran, das Haus zu durchsuchen. Nicht dass diese Vorsichtsmaßnahmen viel nützen würden. Die forensischen Untersuchungen machten es einem heutzutage reichlich schwer, einen Auftrag zu erledigen. Doch er verhielt sich immer noch genauso, wie man es ihm als Junge beigebracht hatte. Solche Gewohnheiten waren hartnäckig.

Er trat vor das Haus und ließ den Blick über den Garten hinweg bis zum umgebenden Wald schweifen. Er hatte damit gerechnet, dass Claron die Tür öffnen würde. Geld war immer ein guter Köder. Ein paar echte Scheine auf einem Stapel Papier, und der Mann hatte geglaubt, er sei reich. Was für ein Narr.

Er ging in den Hof hinaus, zündete sein Feuerzeug und hielt die Flamme an den mit Benzin getränkten Lappen, den er mitgebracht hatte. Dann warf er den Lappen auf die hölzerne Veranda, die er zuvor mit Benzin übergossen hatte.

Das Haus ging in Flammen auf.

»Henri Claron ist tot«, sagte van der Beck.

»Was?« Travis’ Hand umklammerte das Telefon. »Wie ist das passiert?«

»Sein Haus ist bis auf die Grundmauern abgebrannt, aber die Polizei glaubt, dass er tot war, bevor das Feuer ausbrach. Seine Frau haben sie bisher nicht gefunden.«

»Ist sie geflüchtet?«

»Möglich. Aber wenn ja, dann hat sie sich in irgendeinem Loch verbuddelt, aus dem sie so schnell nicht wieder rauskommt.«

»Wenn sie am Leben ist, muss ich wissen, wo sie ist. Du hast gesagt, sie war ebenso nervös wie ihr Mann. Gut möglich, dass sie weiß, was er wusste. Oder vielleicht sogar noch mehr.«

»Glaubst du im Ernst, sie riskiert ihren Hals, nach dem, was mit ihrem Mann passiert ist?«

»Manchmal sind Angst oder Rache ein stärkerer Antrieb als Geld. Versuch, sie zu finden, Jan.«

»Das tue ich bereits.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »Gestern hab ich zwei Wanzen in meiner Wohnung gefunden. Vor drei Tagen, als ich zum letzten Mal nachgesehen hab, waren sie noch nicht da.«

Travis zuckte zusammen. »Karlstadt?«

»Kann sein. Oder vielleicht die CIA. Aber es waren chinesische Wanzen. Ich glaube kaum, dass das die Sorte ist, die die CIA normalerweise benutzt.«

Travis gefiel das alles nicht. Die Dinge nahmen eine vertrackte Entwicklung, und die Zeit drängte.

»Wie laufen die Verhandlungen mit Karlstadt?«

»Ich habe ihn bis auf dreiundzwanzig hochgehandelt. Würdest du dich darauf einlassen?«

»Ich überleg’s mir.« »Gut. Die Sache mit Claron gefällt mir überhaupt nicht. Es kommt mir sehr seltsam vor, dass er ermordet wurde, noch bevor ich die Verhandlungen abgeschlossen habe. Das bringt mich auf den Gedanken, dass da noch irgendjemand mitmischt, und dass dieser Jemand uns dichter auf den Fersen ist, als mir lieb ist.« Er schwieg einen Moment lang. »Außerdem glaube ich, dass mir jemand folgt.«

»Die CIA?«

»Ach, die beiden. Zwei Männer in einem grünen Porsche. Die hab ich entdeckt, drei Tage nach deiner Abreise aus Amsterdam. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass mich noch jemand beschattet.«

»Hast du irgendjemanden gesehen?«

»Nein, aber ich habe dieses Jucken im Nacken.«

»Ein eindeutiger Beweis.«

»Mir ist es Beweis genug. Wie du weißt, hat es mir schon mehrfach das Leben gerettet. Das Pflaster wird mir hier allmählich zu heiß. Ich denke, ich werde mir meinen Anteil nehmen und mich auf eine sehr lange Reise begeben. Ruf mich an, wenn du dich entschieden hast, Michael. Bis bald.«

»Moment noch.« Dreiundzwanzig Millionen waren genug, und die Situation wurde zu gefährlich für Jan.

»Nimm das Angebot an.«

»Gut.« Jan seufzte erleichtert. »Karlstadt wird darauf bestehen, dass du sofort lieferst.«

»Halte ihn hin.«

»Das ist genauso, als wollte ich eine Kobra hinhalten, die zubeißen will. Er kann es nicht ausstehen zu -«

»Wir haben keine andere Wahl. Ich habe hier ein paar Probleme.« »Höchstens vier Tage. Und ich warne dich jetzt schon. Karlstadt wird einen Tobsuchtsanfall bekommen.«

»Ich rufe dich an.«

Plötzlich musste Jan lachen. »Ich hätte nie geglaubt, dass du dich auf das Angebot einlassen würdest. Bekommst du allmählich ein weiches Herz, Michael?«

»Vielleicht. Du bist doch derjenige, der mir dauernd sagt, was für ein abgebrühter Kunde Karlstadt ist.«

»Oh, ich glaube nicht, dass du dich vor Karlstadt fürchtest. Wahrscheinlich machst du dir eher Sorgen um mich. Das gefällt mir.«

»Warum sollte ich mir um dich Sorgen machen? Du hast doch dieses magische Nackenjucken, das dir immer das Leben rettet.« Er legte auf.

Vier Tage.

Wie zum Teufel sollte er hier in vier Tagen rauskommen? Die Barrieren waren geradezu unüberwindbar. Cassie. Andreas. Der Secret Service.

Und Jessica und Melissa Riley. Diese beiden Frauen könnten sich tatsächlich als das größte Hindernis von allen entpuppen.

Nun gut, Hindernisse waren dazu da, überwunden zu werden. Er hatte bereits eine Idee, wie er seinen Abgang deichseln konnte, suchte aber noch nach einer anderen Möglichkeit.

Es war vertrackt. Äußerst vertrackt.

Aber das galt ebenso für die Situation in Amsterdam, und dort fand sein wirkliches Leben statt, nicht hier in dieser Villa in Virginia. Jan war kein Narr, und wenn er eine Gefahr witterte, dann existierte sie auch. Womöglich stand sein Leben auf dem Spiel. Bei der Geschichte war Travis dafür zuständig, das Geld zu übernehmen und sie beide vor den Russen und vor Karlstadt in Sicherheit zu bringen. Diese Aufgabe hatte jetzt Vorrang.

Es lag etwas Ironisches darin, dass Jan ihm ein weiches Herz unterstellte. Wenn er allerdings wüsste, welchen Fluchtplan Travis ausgeheckt hatte, würde er wohl seine Meinung ändern.

Äußerst vertrackt ...

Als Jessica Travis die Tür öffnete, ging die Sonne gerade unter.

»Kann ich Sie einen Moment sprechen?«, fragte er.

Verblüfft runzelte sie die Stirn. »Kommen Sie rein. Stimmt irgendetwas nicht?«

»Nichts, für das keine Lösung gefunden werden könnte. Ich würde lieber nicht ins Haus kommen. Wollen wir zum Teich runter spazieren?«

»Ich muss wieder zurück zu Cassie. Ich mache nur eine kleine Pause.«

»Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.«

Sie zögerte. »Eine Viertelstunde.« Sie folgte ihm die Stufen hinunter. »Ich wollte auch mit Ihnen reden. Gestern Abend hatte ich ein Gespräch mit Melissa. Sie meint, dass Cassie in ihrem Tunnel nach dem Pegasus sucht. Aber sie scheint den Eindruck zu haben, dass es Cassie schaden würde, wenn wir dieser Spur nachgehen.«

»Und was glauben Sie?«

»Ich glaube, dass wir nach jedem Strohhalm greifen müssen, wenn wir ihr helfen wollen. Ich habe Mellie das Versprechen abgenommen, dass sie nicht versuchen wird, Cassie von dem Pegasus abzulenken.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass ihr das ziemlich schwer gefallen ist«, murmelte Travis.

»Aber sie hat sich darauf eingelassen.« Jessica sah ihn an. »Sie scheinen sich gar nicht zu wundern.«

»Ich denke, uns ist beiden klar, dass Ihre Schwester ein bisschen extrem reagiert hat.«

»Und warum haben Sie dann nicht nachgehakt?«

»Warum hätte ich das tun sollen? Ich wusste, dass Sie das selbst übernehmen würden, und Sie hätten nur ablehnend reagiert, wenn ich ihr irgendetwas unterstellt hätte.«

»Ja, da haben Sie Recht.« Sie blieb stehen, als sie den Teich erreichten. »Sie wollte kein Unheil anrichten. Sie ist nur besorgt um Cassie.«

»Das sind Sie doch auch.«

»Natürlich.«

»Sie lieben Ihre Schwester sehr, nicht wahr?«

»Das ist kein Geheimnis.«

»Und Sie würden nicht wollen, dass ihr etwas Schlimmes zustößt.«

Jessica hielt die Luft an. »Mein Gott, soll das eine Drohung sein?«

»Ich fürchte, ja.« Er sah sie an. »Ich muss sehr bald von hier weg. Ich muss unbedingt zurück nach Amsterdam. Und ich möchte Sie, Melissa und Cassie mitnehmen. Es ist die einzige Möglichkeit, von hier zu verschwinden, ohne mein Gewissen zu belasten.« Seine Mundwinkel zuckten. »Und ich muss zugeben, dass wir gemeinsam leichter wegkommen werden.«

Panik erfasste sie. »Sie können hier nicht weg.«

»Es bleibt mir nichts anderes übrig.«

»Blödsinn. Andreas wird Sie daran hindern.«

»Ich werde es tun, Jessica.« »Cassie wird sterben.«

»Nicht, wenn Sie mitkommen.«

»Und Mellie.«

»Sie gewinnt immer mehr Kraft. Sie könnte überleben, selbst wenn Cassie sterben sollte.«

»Sie verdammter Mistkerl.« Ihre Hand zitterte, als sie sie an ihre Lippen hob. »Das ist verrückt. Um Himmels willen, Sie wollen Cassie entführen. Man wird Sie finden und für den Rest Ihres Lebens einsperren.«

»Nicht, wenn wir Cassie heilen.«

»Wir? Glauben Sie etwa, ich würde Sie bei Ihren kriminellen Machenschaften unterstützen?«

»Haben Sie eine Wahl? Sie lieben Cassie und Melissa. Sie würden es nie zulassen, dass den beiden etwas zustößt.«

»Ihnen wird nichts zustoßen.« Sie war wütend. »Sie bleiben, und wir machen genauso weiter wie bisher.«

»Nicht ganz.«

»Was soll das heißen?«

»Wenn Cassie einen Alptraum hat, werde ich nicht kommen, um ihr zu helfen.«

»Was?« Sie starrte Travis ungläubig an. »Sie müssen kommen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie mögen ein Mistkerl sein, aber Sie würden es nicht fertig bringen, Cassie Ihre Hilfe zu verweigern, wenn sie leidet.«

»Sie ist Ihre Patientin, und die Behandlung liegt in Ihrer Verantwortung. Ich habe gesagt, ich bin bereit zu helfen ... zu meinen Bedingungen.«

»Sie bluffen. So kaltherzig sind Sie nicht.« »Wenn es sein muss, bin ich kaltherziger, als Sie sich überhaupt vorstellen können.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Bluffe ich, Jessica?«

O Gott, sie fürchtete, dass er nicht bluffte. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, aber seine Augen ... Sie hatte ihn während der vergangenen Wochen ein bisschen kennen gelernt; er war nicht fähig, Cassie im Stich zu lassen, wenn sie einen Alptraum hatte. »Sie bluffen.«

»Tut mir Leid. Ich hatte gehofft, ich könnte es uns allen leichter machen. An Ihrer Stelle würde ich Melissa nichts davon sagen. Es würde sie sehr beunruhigen. Schließlich sind Sie auch für ihr Wohlergehen verantwortlich.«

»Ich tue, was ich will.«

»Nein, Sie tun das, was das Beste ist für die Menschen, die Sie lieben. Darauf baue ich.«

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als sie ihm nachschaute. Verdammt. Verdammt.

Er bluffte. Es konnte nicht anders sein.

In der folgenden Nacht ging in Cassies Zimmer das Licht an.

Im Torhaus läutete das Telefon.

»Kommen Sie rüber«, sagte Jessica. »Sofort.«

»Ein Alptraum?«

»Ja.«

Er legte auf.

Nicht zurückrufen.

Nicht ins Haus gehen.

Nicht an das kleine Mädchen denken.

Er trat ans Fenster.

Und wartete.

Eine halbe Stunde später sah er, wie Jessica die Auffahrt hinunterrannte. Er öffnete die Tür und wartete auf sie.

»Sie verdammter Mistkerl.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Sie Unmensch.« Sie packte ihn am Arm. »Sie kommen jetzt mit.«

»Nein.«

»Sie müssen -«

»Ich muss gar nichts. Ich tue, was ich will.«

»Ich werde Fike schicken, damit er Sie rüberholt.«

»Und ich werde mich in den Sessel neben dem Bett setzen und kein Wort sagen.«

»Das würden Sie nicht -« Fassungslos starrte sie ihn an. »Sie würden es fertig bringen. Mein Gott, Sie werden es zulassen, dass Mellie und Cassie ...« Sie wandte sich um und rannte zurück zum Haus.

Gott, ihm war übel.

Nicht nachgeben. Du bist schon so weit gegangen. Wenn du heute nachgibst, musst du es morgen auch tun und übermorgen wieder.

Fünf Minuten.

Zehn Minuten.

Das Telefon läutete.

»Also gut, Sie Scheißkerl.« Jessicas Stimme zitterte.

»Ich tue alles, was Sie wollen. Aber kommen Sie auf der Stelle her.«

»Bin schon unterwegs.« So schnell er konnte, rannte er auf das Haus zu.

Gott, es war schlimmer gewesen, als er sich hatte träumen lassen.

»Was ist passiert, Jessica?« Melissas Stimme klang schwach. »Es hat so lange gedauert ...«

Schweigend fühlte Jessica Melissas Puls. »Wie fühlst du dich?«

»Fürchterlich. Er ist nicht gekommen . Es hat so lange gedauert .«

»Dein Herzschlag ist immer noch ein bisschen unregelmäßig, aber er normalisiert sich allmählich.« Sie legte die Decke über Melissas Schultern. »Und Cassie geht es auch besser.«

»Es ging ihr aber gar nicht gut. Sie ist inzwischen regelrecht abhängig von ihm. Ich habe versucht, mich von ihr zu lösen und mit ihr zu sprechen, aber sie . hat mich abgelehnt. Wenn ich ein Teil von ihr bin, bin ich ein Teil des Schreckens ... aber nicht Teil der Erlösung.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Er ist derjenige ... den sie für ihren Retter hält.«

»Ein feiner Retter.« Jessica schob ein paar Strähnen aus Melissas Stirn. »Ist es in Ordnung, wenn ich dich jetzt allein lasse und wieder nach Cassie sehe?«

»Ja. Wo ist er, Jessica?«

»Er ist ein bisschen spät hier angekommen.«

»Schlimm . « Melissa schloss die Augen. »Ganz schlimm. Wir hatten solche Angst. Er hätte früher kommen sollen.«

»Es war schlimm.« Jessica stand auf. »Aber es wird nicht wieder vorkommen. Beim nächsten Mal wird er sofort herkommen.«

»Gut. Wir ... bekamen keine Luft, und unser Herz tat so weh .«

»Es wird nicht wieder vorkommen«, wiederholte Jessica und schloss die Tür.

Mistkerl. Sie blinzelte ihre Tränen fort und ging zu

Cassies Zimmer.

Fike trat ihr entgegen. »Gott, ich hoffe, der Kleinen geht es wieder besser. So schlimm hab ich sie ja noch nie schreien hören.«

»Es geht ihr besser.«

»Mr. Travis ist immer noch bei ihr. Meistens hilft er doch, oder?«

»Meistens.«

»Er hat gesagt, diesmal sei sie beinahe gestorben. Ich drücke ihr die Daumen, dass sie es schafft.«

»Danke, Larry. Das wird sie bestimmt.« Sie öffnete die Tür und trat ins Zimmer.

Travis saß auf Cassies Bett. Als Jessica eintrat, schaute er auf. »Wie geht es Melissa?«

»Was glauben Sie wohl?«

Er drückte Cassies Hände. »Gute Nacht, Kleines. Wir sehen uns bald wieder.« Er stand auf und trat vom Bett weg, damit Cassie ihn nicht hörte. »Melissa ist wahrscheinlich erschöpft und sehr schwach. Stimmt’s?«

»Das haben Sie sich doch denken können.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Sie hätten die beiden umbringen können.«

»Das würden Sie nicht zulassen.«

»Darauf haben Sie gebaut. Sie haben damit gerechnet, dass ich nachgeben würde, um zu verhindern, dass die beiden leiden und womöglich sterben. Wie konnten Sie nur so etwas tun?«

»Es war nötig.«

»Sie können mich mal.«

»Denken Sie, was Sie wollen. Wir haben alle unsere Pläne.«

»Und warum haben Sie sich dann in unsere Pläne eingemischt?«

»Sie haben mich dazu aufgefordert. Und wollen Sie ernsthaft behaupten, Sie wären nicht froh über meine Hilfe? Als ich heute nicht gekommen bin, habe ich die Situation lediglich auf die Ausgangsposition zurückgebracht.«

»Um Ihren Willen durchzusetzen.«

»Um meinen Willen durchzusetzen.« Er sah ihr in die Augen. »Ich hoffe, Sie werden mich nicht zwingen, es noch einmal zu tun. Denn ich werde es tun, Jessica.«

»Das weiß ich.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, damit sie nicht so zitterten. »Aber sobald ich eine Möglichkeit finde, wie ich ohne Ihre Hilfe auskommen kann, werde ich Sie am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Hoffentlich wird man Sie für die nächsten hundert Jahre ins Gefängnis stecken.«

»Dann sollten Sie dafür sorgen, dass Cassie vorher geheilt ist. Sie würden doch sicherlich nicht wollen, dass ich für sie außer Reichweite bin. Haben Sie Melissa irgendetwas gesagt?«

»Nein, nur dass es nicht wieder vorkommen wird. Aber wenn sie sich wieder erholt hat, wird sie sich mit dieser Antwort nicht länger zufrieden geben.«

»Dann werden Sie sie hinhalten müssen. Melissa ist absolut in der Lage, meine Pläne zu durchkreuzen, und das wäre schlecht für uns alle.«

»Ich werde sie nicht belügen.«

»Wäre es Ihnen lieber, wir würden sie hier zurücklassen, wo Sie sich nicht um sie kümmern können? Ich weiß nicht, ob sie über eine größere Entfernung hinweg immer noch Verbindung mit Cassie aufnehmen könnte, und außerdem möchte ich nicht das Risiko eingehen, sie an einem Ort zurückzulassen, wo man sie nicht überwachen kann.«

Travis sah sie herausfordernd an. »Aber Sie vielleicht?«

»Sie Vollidiot.«

»Das würde ich auch nicht von Ihnen erwarten.« Er ging zur Tür. »Regeln Sie es, egal wie.«

»Warten Sie.«

Er schaute über seine Schulter.

»Sie werden uns das nicht antun, ohne dafür zu bezahlen. Ich werde mit Ihnen kooperieren, wenn Sie mir garantieren, dass Sie uns in Amsterdam nicht im Stich lassen.«

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich das nicht tun werde.«

»Und noch etwas. Ich möchte, dass Sie Cassie zum Pegasus bringen und dafür sorgen, dass sie ein bisschen Zeit bei ihm verbringen kann.«

»Das wird nicht leicht sein. Außerdem, warum sollte ich das tun? Ich habe bereits gewonnen, Jessica.«

»Weil Sie es uns schuldig sind, Sie Mistkerl.«

Er schwieg einen Moment lang. »Da ist was dran. Also gut, ich verspreche es. Aber denken Sie daran, wenn man uns im Museum erwischt, könnte es passieren, dass man mich erschießt oder ins Gefängnis steckt. Beides wäre für alle Beteiligten schlecht.«

»Das wäre es beinahe wert.«

Er schüttelte den Kopf. »Das meinen Sie nicht ernst.«

Er hatte Recht. Sie meinte es nicht ernst. Niemals würde sie Cassie und Melissa opfern, um Travis zu bestrafen. Sie sah ihn verzweifelt an. »Das ist vollkommen verrückt.

Denken Sie noch mal über alles nach. Sie können hier nicht rauskommen.«

»Doch, ich kann. Aber Ihnen wird nicht gefallen, wie ich es anstelle.«

Sie zuckte zusammen. »Was meinen Sie damit?«

»Wenn ich es Ihnen sage, werden Sie versuchen, mich davon abzubringen, und Sie werden sich zu Tode sorgen, bis es so weit ist.«

»Werden Sie jemanden töten?«

»Nicht, wenn niemand versucht, mich zu töten. Ich werde Ihnen den Spielplan mitteilen, kurz bevor es losgeht.« Er verließ das Zimmer.

Gütiger Himmel, worauf hatte sie sich da eingelassen? Wenn man sie bei dem Fluchtversuch nicht erschoss, würde man sie jagen wie Kriminelle. Sie würden Kriminelle sein, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jonathan Andreas Milde walten lassen würde, wenn es um seine Tochter ging.

Falls der Fluchtversuch misslang, wäre alles umsonst gewesen. Sie würde im Gefängnis landen, und Cassie und Melissa würden sterben.

Die Flucht musste unter allen Umständen gelingen. Zu viel stand auf dem Spiel. Würde Travis sein Versprechen halten und Cassie heilen? Darüber würde sie sich später den Kopf zerbrechen müssen. Ebenso über seinen Fluchtplan.

Ihr blieb nur, zu hoffen, dass niemand verletzt würde.