Einige Stunden später öffnete sich die Tür zu Travis’ Schlafzimmer.
Er zuckte zusammen.
»Ich bin’s nur«, sagte Melissa.
»Nur?« Er stützte sich auf die Ellbogen. »Was machst du hier?«
»Ich wollte bei dir sein.«
»Möchtest du über deine Eltern reden?«
»Nicht jetzt.«
»Über Deschamps?«
»Ich brauche keinen Therapeuten, Travis.« Sie kam näher. »Darum geht es überhaupt nicht.«
»Um was zum Teufel geht es dann?«
»Was glaubst du denn?«
»Könntest du dich etwas klarer ausdrücken?«
»Du willst Klarheit?« Sie holte tief Luft, um ihre Stimme ruhiger klingen zu lassen. »Okay, die kannst du haben.« Neben dem Bett blieb sie stehen. »Ich ziehe mich jetzt aus. Du bist ja schon nackt, das passt ja gut.« Sie zog ihr Nachthemd über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. »Jetzt werde ich zu dir ins Bett kommen. Dann möchte ich, dass du mir alles bietest, was du draufhast.«
Sie schlug seine Decke zurück. »Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Er schwieg einen Moment. »Glasklar«, sagte er dann mit belegter Stimme. »Aber du hast heute Nacht so verdammt viel durchgemacht. Bist du sicher, dass du beurteilen kannst -«
»Guter Gott. Natürlich bin ich sicher. Zier dich nicht so. Glaubst du vielleicht, mir fällt es so leicht? Ich bin ja nun nicht gerade eine Klosterschülerin, aber -«
»Psst.« Sanft fasste er zwischen ihre Schenkel. »Jetzt glaube ich es dir. Gott, bist du schnell.«
»Ich hoffe, du nicht.« Ihre Stimme zitterte, als sie sich gegen ihn presste. »Ich will, dass das jetzt sehr, sehr lange dauert .«
»Du bist verdammt gut.« Melissa schmiegte sich eng an ihn. »Für jemanden, der sich lieber raushält, gehst du ganz schön rein.«
»Hättest du mich vorgewarnt, dass du mich verführen willst, hätte ich mir vorher noch einiges einfallen lassen.«
»Mir ist lieber, du verlässt dich auf deine Instinkte. Übrigens, ich wusste nicht, dass ich dich verführen werde, war mir vielmehr nicht sicher, ob ich’s tun sollte. Bis du schließlich aufgehört hast herumzureden und mich angefasst hast.« Sie fuhr mit den Lippen über seine Brust.
»Da allerdings wusste ich, dass es genau das Richtige sein würde.«
»Es war eindeutig das Richtige.« Er spielte mit der Hand in ihren Haaren. »Und zum Glück hast du dann nicht festgestellt, dass es nicht der richtige Zeitpunkt, ich nicht der richtige Mann und es womöglich sowieso zu spät wäre.«
»Ich mache dich doch nicht erst an und lass dich dann hängen.« Sie lachte in sich hinein. »Und außerdem, mein eigenes Vergnügen geht mir über alles. Was bist du doch für ein Schlimmer, Michael Travis.«
»Ich lasse mich eben nicht lumpen. Du wolltest alles, was ich draufhabe.«
»Das hast du mir auch geboten.«
»Ach, aber wir haben doch eigentlich noch gar nicht richtig angefangen.« Er nahm ihre Hand und saugte an ihrem Zeigefinger. »Oder?«
Vor Erregung fing sie an zu beben. Der Sex mit ihm war besser als alles, was sie bisher erlebt hatte. Eine Nähe, die fiebrig heiß und mehr als wollüstig war. »Ich glaube, du hast Recht.« Sie presste sich noch enger an ihn. »Los, komm, zeig’s mir ...«
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie auf die Veranda hinausgingen.
»Da drüben sitzt Galen, auf der Düne.« Melissa winkte ihm zu und beobachtete, wie er sich schläfrig streckte, gähnte und sich wieder in den Sand legte. »Er wirkt so entspannt, völlig gelöst, und betrachtet einfach die Boote. Es ist das erste Mal, seit wir hier sind, dass er einfach nur abhängt. Sonst ist er immer beschäftigt, kocht, telefoniert oder organisiert alles um sich herum.«
Travis folgte ihrem Blick zu Galen und zu den beiden Booten, die vor der Küste ankerten. »Vielleicht ist er einfach nur taktvoller, als du dir vorstellen kannst. Wahrscheinlich wollte er uns nicht stören. Er versteht die Dinge.«
»Welche Dinge?« Sie sah ihn an. Sein Haar war zerzaust, sein Hemd zerknittert, und dieser Gesichtsausdruck ... Sie wandte den Blick ab. Sie hatte geglaubt, sie hätte schon genug, aber vielleicht . »Was versteht Galen denn deiner Meinung nach von uns beiden?« Sie lächelte. »Glaubst du, er denkt, ich hätte dich verführt, um meinen Willen durchzusetzen?« »Er ist kein Narr.« Sein Blick war geradeaus gerichtet.
»Aber würdest du die Güte haben, mir mitzuteilen, wieso ich so ein Glück habe?«
»Ich wollte es«, sagte sie schlicht.
»So einfach ist es wohl nicht.«
»Doch. Ich war diejenige, die alles noch schwieriger gemacht hat, was eigentlich nicht meine Art ist. Wir sollten jeden Moment des Lebens genießen. Ich wollte dich, aber ich habe mich nicht auf dich eingelassen. Aber letzte Nacht hatte ich Todesangst. Ich dachte, ich würde sterben, und dann bekam ich Angst um dich. Das hat mir doch ziemlich zu denken gegeben. Ich empfinde . etwas für dich.«
»Was?«
»Ich weiß nicht. Manchmal fühle ich mich dir so nah, und das ... hat mir irgendwie Angst gemacht.«
»Was du nicht sagst.«
»Was ist los? Bist du jetzt beleidigt? Ich wollte einfach nur ehrlich zu dir sein.«
»Das warst du tatsächlich. Ich kann mir vorstellen, warum du dich dagegen gewehrt hast, etwas für mich zu empfinden. Wir sind zwei entgegengesetzte Pole.«
»Und du willst dich auf keinerlei Verpflichtung einlassen.«
Er schwieg.
Sie lächelte. »Aber auf mich wirst du dich einlassen müssen. Weil ich mich von Menschen, denen ich einmal nahe gekommen bin, nicht mehr abwende. Also, ob es dir gefällt oder nicht, ich bin jetzt Teil deines Lebens.«
»Ach ja?« »Keine Panik. Es gibt alle möglichen Arten, sich einzulassen. Freundschaft ist eine davon. Damit müsstest du doch leben können.«
»Ich glaube, dein Hang, meinen Charakter zu analysieren, geht mir langsam auf die Nerven.«
»Tut mir Leid«, sagte sie müde. »Ich versuche doch nur, mit all dem zurechtzukommen. Festzustellen, dass meine Gefühle für dich so heftig sind, war wie ein Schock für mich. Ich will nicht, dass dir irgendwas passiert. Es würde mich unglaublich -«
»Traurig machen?«
Wenn es nur das wäre. Sie hatte das Gefühl, so nah am Abgrund zu balancieren, dass sie sich jeden Schritt genau überlegen musste. »So könnte man es nennen.« Sie wechselte das Thema. »Und wie geht’s jetzt weiter? Wir haben die einzige Spur, die wir hatten, verloren. Glaubst du, Deschamps -«
Er reagierte gereizt. »Herrgott noch mal, bei der Jagd nach Deschamps wärst du letzte Nacht beinahe getötet worden. Kannst du nicht mal davon aufhören? Und verdammt, stell dich nicht taub.« Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Hör mir zu.«
»Das tue ich.«
»Aber du nimmst nichts auf. Du läufst vor mir weg.«
»Ich laufe nicht weg.« Sie begegnete seinem Blick.
»Willst du wieder rein und mit mir schlafen?«
»Nein. Ach Mist, natürlich will ich’s. Aber ich lasse nicht zu, dass du mich benutzt, um - Was zum Teufel rede ich da eigentlich?«
»Ich habe dich nicht benutzt. Wir haben es doch miteinander genossen. Oder nicht?«
Er starrte sie an und nickte langsam. »Gott, was bist du nur für eine Frau?«
Eine Frau, die dich lieben könnte.
Sie wünschte, sie könnte die Antwort von vorhin rückgängig machen. Aber es gab alle möglichen Arten von Liebe, genauso, wie es alle möglichen Arten gab, sich einzulassen. Sie würde damit klarkommen. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Du solltest mittlerweile wissen, dass ich leicht zu durchschauen bin.«
»Von wegen.«
Sie wandte sich zum Haus um. »Im Vergleich mit dir bin ich durchsichtig wie Glas. Ich habe Hunger. Willst du mit mir frühstücken?«
»Nein, ich mache einen Spaziergang. Wir sehen uns später.«
Sie sah ihm nach, als er auf Galen zuging. Er war verärgert. Nun, sie konnte es nicht ändern. Sie war so ehrlich wie möglich zu ihm gewesen. Sie konnte Deschamps nicht vergessen, und sie wollte Travis nicht belügen.
Galen und Travis sprachen miteinander. Schnell. Heftig.
Über Deschamps? Wahrscheinlich. Falls sie etwas ausheckten, hieß das für sie, dass sie schon wieder außen vor bleiben würde. Das konnte sie nicht zulassen. Verdammt, Travis spielte noch mehr den Beschützer als zuvor. Die vergangene Nacht war vielleicht doch ein Fehler gewesen.
Unsinn, Spaß zu haben, war nie ein Fehler. Sie würde sich einfach mit den Problemen, die sie jetzt erwarteten auseinander setzen müssen.
Galen kam zurück, stieg lächelnd die Verandastufen hinauf. »Travis meinte, Sie wären hungrig. Was hätten Sie gern zum Frühstück?« »Ich mach das schon.«
»Nein, ist alles im Preis inbegriffen.« Er öffnete die Fliegengittertür. »Und ich kann mir vorstellen, dass Sie nach der vergangenen Nacht ein bisschen Ruhe gebrauchen können.«
Sie blinzelte.
Er lachte. »Ach so. Ich rede von den Ereignissen bei der Kirche.«
Sie schaute zu Travis hinüber, der immer noch am Strand war. »Kommt er auch?«
»Nicht sofort. Er meinte, er brauchte ein bisschen Zeit für sich selbst. Pfannkuchen? Eier und Speck?«
An Travis’ wachsamen Bewegungen konnte sie ablesen, wie angespannt er war. Sie würde mit ihm reden, sobald er zurückkam. Aber vielleicht war es auch besser, wenn er sich erst einmal beruhigte.
Sie wandte sich zu Galen um. »Pfannkuchen. Ich decke den Tisch.«
Travis warf noch einen Blick auf die Veranda und beobachtete, wie Melissa hineinging. Wie stur sie war!
Und stark und mutig und großherzig. Und so intelligent und schön, dass es ihn .
Zu Tode ängstigte.
Sie würde nicht aufgeben. Wenn die vergangene Nacht sie nicht entmutigt hatte, würde nichts sie zurückhalten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie herausfand, dass Deschamps auf dem Boot in der Bucht war. Wäre sie in der vergangenen Nacht nicht so verstört gewesen, hätte sie sich wahrscheinlich längst ausrechnen können, dass Deschamps sie erneut aufs Korn nehmen würde. Travis hatte keinen Zweifel daran, dass Deschamps es noch einmal auf sie absehen würde. Sie hatte ihm ins Handwerk gepfuscht, und sie war jetzt eine Augenzeugin.
Das machte ihn ganz krank.
Er, Travis, musste ihn bremsen.
»Lust auf eine Runde Poker?«, fragte Galen. »Solitaire hängt mir zum Hals heraus.«
Melissa, die am Fenster stand und Travis beobachtete, drehte sich zu ihm um. »Nein, danke.«
»Selbst schuld.« Er spielte eine Dame auf einen König.
»Ich bin als der schlechteste Spieler auf dem Kontinent verschrieen. Da können Sie ihr Ego bestens aufbauen.«
Ja, vielleicht würde ihr das gut tun. Travis war ihr den ganzen Tag aus dem Weg gegangen. Nur zum Abendessen war er kurz ins Haus gekommen. Wahrscheinlich war das eine ganz normale Reaktion. Abgesehen davon, dass sie sich geweigert hatte, die Finger von Deschamps zu lassen, hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ab jetzt in seinem Leben zu bleiben beabsichtigte. Das war ihm wohl nicht ganz geheuer.
Nun gut, sollte er sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen. Von ihr aus konnte er die ganze Nacht am Strand verbringen. Sie würde nicht herumsitzen und auf ihn warten. »Ich gehe schlafen. Gute Nacht, Galen.«
Er sah nicht auf. »Gute Nacht.«
Cassie schlief, und Melissa schlich auf leisen Sohlen ins Bad, um sich die Zähne zu putzen und das Gesicht zu waschen. Aber als sie sich zu Cassie ins Bett legte, wachte die Kleine auf.
»Melissa?«
»Psst. Schlaf weiter.« »Mach ich. Bin so schläfrig ... Warum ist Michael hier?«
»Er ist nicht hier.«
»Doch, ist er. Ich spüre es. Ist fetzt fast immer bei dir .«
Sie war wieder eingeschlafen.
Ist jetzt fast immer bei dir.
Melissa starrte in die Dunkelheit. Konnte es sein, dass Cassie die starke Verbindung spürte, die zwischen ihnen entstanden war? Oder bekam sie nur mit, dass Melissa jetzt häufiger an Travis dachte?
Aber Cassie irrte sich. Heute Nacht war Michael nicht bei ihr. Er war irgendwo da draußen an dem blöden Strand.
Und sie war einsam. Merkwürdig, dass sie sich nach nur einer einzigen Nacht mit ihm schon einsam fühlte. Ob es ihm ebenso erging?
Das konnte sie nur hoffen. Sie wollte sich nicht allein so elend fühlen. Aber wahrscheinlich fühlte er sich pudelwohl. Männer waren nicht so mit sich selbst beschäftigt wie Frauen, und das war ziemlich unfair.
Schlaf jetzt. Vergiss ihn.
Aber, Gott, sie fühlte sich so verlassen .
»Monster!«
Melissa fuhr aus dem Schlaf. Verdammt, sie hatte geglaubt, die Alpträume wären vorbei. Aber da war es wieder, Cassies Entsetzen.
»Sie kommen. Warum liegst du hier? Wir müssen sie bekämpfen!«
»Wir haben schon darüber gesprochen. Du weißt, dass im Tunnel keine Monster sind, Cassie.«
»Monster. Gewehre. Sie sind hinter dir her.«
»Nicht hinter dir?« Das war doch zumindest ein Durchbruch. In ihren Alpträumen hatte Cassie sich bisher immer selbst bedroht gefühlt.
» Wollen mir nichts tun. Steh auf. Lauf weg.«
»Ich lasse dich nicht allein. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Die Monster existieren bloß in deiner Fan-«
Die Schlafzimmertür wurde aufgerissen.
Vier Männer. Pistolen.
»Nein.« Sie warf sich auf Cassie. »Tun Sie ihr nichts.«
»Melissa!«, schrie Cassie.