Paris

»Fertig?« Galen ließ sein Handy in die Jackentasche gleiten, nachdem er mit Travis gesprochen hatte. »Auf geht’s, Pichot.«

»Sie haben ihn angelogen.«

»Meine Mutter hat mir die Tugend des Teilens nicht beigebracht.« Er ging zum Auto. »Cardeau war einer meiner Leute, und Deschamps hat ihn umgelegt.« Er lächelte. »Übrigens, in solchen Dingen bin ich viel besser als Travis. Es ist eine meiner Spezialitäten.«

»Ich weiß.« Pichot verzog das Gesicht. »Ich verlasse mich darauf. Ich will aus der Geschichte lebend rauskommen.«

»Keine Sorge.« Galen ließ den Wagen an. »So, wo fahren wir hin?«

»Rue Lestape Nr. 15.«

»War das Galen am Telefon?« Als Travis sich umdrehte, stand Melissa mit zerzaustem Haar vor ihm. Sie trug ein marineblaues Nachthemd mit dem Aufdruck der Sorbonne.

»Ja.«

»Hat er Danielle Claron gefunden?«

Travis schüttelte den Kopf. »Er versucht, ihre Eltern dazu zu überreden, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, falls sie ihren Aufenthaltsort kennen. Sie leben in St. Ives, einem kleinen Dorf in der Nähe von Lyon, nicht weit weg von Henri Clarons Bauernhof.«

»Kann es sein, dass sie wissen, wo sie steckt?«

»Klammern wir uns nicht alle an unsere Eltern? Es ist nur natürlich, zu ihnen zu laufen, wenn man Sicherheit sucht. Manche Leute behaupten, dass es in unserem Leben kein stärkeres Band gibt.« Er sah an ihr vorbei ins Badezimmer. »Cassie?«

»Es geht ihr gut.« Sie massierte ihre Nackenmuskeln.

»Stur wie immer. Es ist verdammt schwer, zu ihr vorzudringen, und noch schwerer, sie zum Zuhören zu bewegen. Ich muss mich richtig aufdrängen und unaufhörlich reden.«

»Worüber sprechen Sie mit ihr?« »Über die Außenwelt. Ihren Vater und ihre Mutter. Den Pegasus.« Sie setzte sich in einen Sessel und zog ein Bein an sich heran. »Über Sie.«

»Über mich?«

»Sie sind die Brücke zwischen dem Tunnel und der Außenwelt.« Melissa verzog das Gesicht. »Sie vertraut Ihnen immer noch. Mich betrachtet sie zurzeit als ihre Feindin.«

»Können Sie ihr nicht begreiflich machen, worum es geht?«

»Sie ist erst sieben Jahre alt. Ich hätte mich auch mit Händen und Füßen gesträubt, wenn Jessica diese Taktik bei mir versucht hätte.«

»Und Sie sind immer noch sicher, dass es die richtige Taktik ist?«

»Es bleibt mir nichts anderes übrig. Sonst bin ich verloren. Es muss einfach bald einen Durchbruch geben.«

Sie lehnte ihren Kopf im Sessel zurück. »Ich bin genauso ungeduldig wie Sie und kann es kaum erwarten, dass sie wieder gesund wird.«

»Ich habe nie behauptet, ich wäre ungeduldig.«

»Sie brauchen es gar nicht zu sagen. Ich spüre es.«

Travis lächelte. »Gut, dass Galen nicht hier ist. Er meinte, Sie seien ein bisschen abgedreht.«

»Ach ja? Wahrscheinlich war das eine Anspielung auf eine Bemerkung, die mir rausgerutscht ist. Er mag es nicht, wenn man ihn zu gut durchschaut.«

»Ihnen ist was rausgerutscht?«

Sie hob verlegen die Schultern. »Manchmal weiß ich ... Dinge.«

»Telepathie?« »Um Gottes willen, nein. Ich würde mir die Kugel geben, wenn ich damit geschlagen wäre.«

»Und was ist mit Cassie?«

»Das ist was anderes. Alles, was mit Cassie zu tun hat, ist einfach anders. Normalerweise ziehe ich einfach ziemlich schnell meine eigenen Schlüsse aus irgendwelchen Dingen.«

»Genauso, wie Sie den Schluss gezogen haben, dass ich ungeduldig bin.«

Sie rutschte nervös hin und her. »So was lässt sich schwer verbergen. Sie haben jedes Recht, ungeduldig zu sein. Sie wollen uns los sein, damit -«

»Sie haben Recht, ich will Sie loswerden.« Travis holte tief Luft. »Und zwar auf der Stelle. Gehen Sie wieder ins Bett.«

»In ein paar Minuten.«

»Sofort.«

»Ich meine, wir sollten das zu Ende besprechen. Es gibt zu viel -« Sie atmete hörbar ein, als ihre Blicke sich begegneten. »Travis?«

»Man braucht keine besondere Gabe, um zu sehen, was gerade in mir vorgeht, stimmt’s.«

»Nein.«

»Dann machen Sie gefälligst, dass Sie wieder ins Bett kommen, damit ich in Ruhe an etwas anderes denken kann als diese unverschämt langen Beine und das, was sich dazwischen befindet.«

Langsam erhob sie sich aus dem Sessel. »Ich kann nicht - das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, Travis.«

»Ich weiß.« Er bemühte sich, nicht zu heftig zu klingen. »Ich bin kein Trottel. Aber wir beide wissen, dass es von Anfang an da war.« Er verzog das Gesicht. »Der Verstand ist eine Sache, aber mein Körper erkennt Trauer nicht als stichhaltigen Grund an, sich abzuschalten. Schließlich dient das alles nur der Arterhaltung. Also verschwinden Sie jetzt, okay?«

»Ich bin schon weg.« Aber sie blieb noch stehen. »Es ist nicht so, dass ich -«

»Ich weiß. Der falsche Zeitpunkt.« Er griff nach dem Buch, das auf dem Tisch lag. »Und wahrscheinlich der falsche Mann. Wir könnten verdammt viel Spaß miteinander haben, aber ich glaube nicht, dass Ihnen an Sex für eine Nacht liegt. In Ihnen steckt zu viel von Jessica.«

»Ich bin kein bisschen wie Jessica.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Aber Sie haben Recht, ich habe meine Probleme mit Schiffen, die im Nebel vorüberfahren. Ich möchte wissen, woran ich bin.«

»Das wissen Sie. Sie haben mich sofort erkannt, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Die meiste Zeit hat Ihnen nicht gefallen, was Sie sahen.«

»Das stimmt nicht. Es war nur so, dass die Situation ohnehin schon kompliziert war und Sie sie noch komplizierter gemacht haben. Ich musste tun, was -« Sie ging zur Tür. »Gute Nacht, Travis.«

Und weg war sie.

Wie hatte er sich nur so dämlich anstellen können? Verdammt, er hätte den Mund halten sollen.

Ach, zum Teufel, sie wohnten dicht beieinander, und er war nicht der Typ, still vor sich hin zu leiden. Es kostete ihn schon genug Mühe, sich einfühlsam und brüderlich zu geben. Sollte sie ihm ruhig dabei helfen. Jetzt wo sie Bescheid wusste, würde sie auf der Hut sein.

Das war doch genau, was er wollte, oder?

Überhaupt nicht.

Am liebsten hätte er es, wenn sie auf seinem Schoß säße, diese langen Beine um ihn schlingen und Geräusche von sich geben würde, die - Er durfte nicht länger an Melissa denken. Er sollte lieber dieses verdammte Buch lesen. Oder sich einen Plan ausdenken, wie sie alle zusammen aus dieser Situation herauskamen.

Bloß nicht mehr an sie denken.

Bloß nicht an ihn denken.

Gott im Himmel, sie war davongelaufen. Unfassbar. Sie hatte sich geschworen, nie wieder vor etwas davonzulaufen, nachdem Jessica sie zurückgeholt hatte. Aber sie hatte die Flucht ergriffen wie ein Teenager.

Warum? Sie war ja nicht gerade eine Jungfrau, die keusch errötete. Sie hatte leidenschaftlichen Sex erlebt. Sex war Spaß und Vergnügen und bereitete ihr einen ähnlichen Genuss wie die Euphorie, die sich einstellte, wenn sie sich im Fitnessraum verausgabte.

Es war von Anfang an da.

Seit jenem ersten Tag in Juniper, als sie ihn beim Joggen beobachtet hatte. Sie hatte mit Jessica über ihren attraktiven Nachbarn gefrotzelt, aber zum Teil hatte sie es auch ernst gemeint. Wenn ihre Träume sie nicht so geängstigt hätten, hätte sie Travis vielleicht aus anderen Gründen einen Besuch abgestattet. Sie hatte zwar dasselbe Knistern gespürt wie er, es jedoch ignoriert.

Am besten, sie ignorierte es auch jetzt.

Doch das ging nicht mehr, denn sie hatte sich geschworen, sich jeder Angst zu stellen. Dennoch war sie vor Travis davongelaufen.

Weil sie glaubte, sie würde ihre Trauer um Jessica entwürdigen, wenn sie mit ihm schlief? Nein, das Leben war dazu da, genossen zu werden, und Jessica hätte nicht gewollt, dass sie auch nur eine Minute ihres Glücks opferte, um irgendwelchen Konventionen zu genügen.

Sex für eine Nacht.

Das musste es sein. Doch sie befürchtete, mehr von ihm zu wollen als Sex für eine Nacht. In zu vielen Dingen fühlte sie sich zu Travis hingezogen. Erst kürzlich war sie ihm zu nahe gekommen und hatte eine andere Seite an ihm entdeckt. Er hatte Recht; manchmal konnte sie durch ihn hindurchsehen, und was sie sah, war nicht das, was er glaubte. Sie hatte Humor, Geduld und Mitgefühl hinter seiner kühlen und analytischen Fassade entdeckt. Irgendetwas an ihm ... berührte sie.

Der Gedanke versetzte sie erneut in Panik. Sie war zurzeit zu verletzlich und konnte wirklich keine zusätzlichen Probleme gebrauchen. Sie würde nicht versuchen, die Fassade zum Einstürzen zu bringen, mit der er die Menschen auf Distanz hielt.

Deshalb würde sie von nun an ebenfalls Distanz halten.