»Haben Sie mich verstanden?«, fragte Andreas.

»Sie haben sich mehr als deutlich ausgedrückt«, sagte Jessica, als sie ihn zur Tür begleitete. »Kein Kontakt mit dem Gentleman im Torhaus.«

»Einen Gentleman würde ich ihn nicht nennen.«

»Nach Ihren eigenen Worten hat er Cassies Leben gerettet. Das ehrt ihn zumindest.«

»Eine ehrenhafte Tat macht aus einem labilen Charakter noch keinen anständigen Menschen.«

»Ich habe täglich mit Labilität zu tun. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt.«

»Nun, Sie haben keinen Grund, sich mit dieser ganz speziellen Labilität auseinander zu setzen.« Andreas stieg die Stufen vor dem Haus hinunter. »Schenken Sie Travis einfach keine Beachtung. Er wird nicht lange hier sein. Sie haben genug zu tun.« Er schaute zu Cassies Fenster hinauf. »Kein Alptraum heute Nacht. Das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr?«

»Es ist immer gut. Die Träume zerreißen sie.« Cassies Alpträume wurden immer schlimmer. Und als Folge davon zog sie sich noch weiter in sich selbst zurück. Aber Jessica hatte nicht vor, das Cassies Vater gegenüber zu erwähnen und ihm noch mehr Hoffnung zu nehmen. »Werden Sie morgen Nacht wieder hier sein?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Japan zu Gesprächen über wirtschaftliche Beziehungen. Ich werde fast zwei Wochen unterwegs sein, aber meine Frau wird Sie täglich anrufen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen.«

Jessica schaute der Limousine nach, die langsam die Einfahrt hinunterfuhr, dann wanderte ihr Blick zum Torhaus hinüber. Das Schlafzimmerfenster im hinteren Teil des Hauses war erleuchtet. Der labile Mr. Travis war offenbar noch wach.

Seine Ankunft bedeutete eine interessante Entwicklung. Interessant und vielleicht sogar . vielversprechend. Womöglich würde sie diesen Michael Travis gebrauchen können.

Sie würde weiß Gott alles ausnutzen, um zu verhindern, dass Cassie noch tiefer in der Dunkelheit versank.

»Da bin ich.« Melissa sprang die Eingangsstufen hinauf und fiel ihrer Schwester um den Hals. »Roll out the red

carpet! Strike up the band

»Ich glaube, das ist eine Zeile aus Hello Dolly, aber du bist nicht Barbra Streisand.« Jessica drückte Melissa an sich. »Ich freue mich trotzdem, dich zu sehen. Hattest du eine gute Reise?«

»Bis ich hier am Tor ankam.« Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete Jessica. »Bist du geschrumpft? Ich bin jedenfalls zu alt, um gleich mehrere Zentimeter gewachsen zu sein.«

»Du würdest es fertig bringen, nur um mich zu ärgern. Warum konnte ich nach Dad nicht die Größte sein?«

»Beim Basketball ist es ganz praktisch. Dafür bist du die klassische Südstaatenschönheit. - Wer ist das denn?«

Melissa hatte einen Jogger am anderen Ende der Auffahrt entdeckt.

»Unser Gast. Er wohnt im Torhaus. Er macht jeden Morgen einen Dauerlauf.«

»Wirklich?« Melissa pfiff leise durch die Zähne. »Von dem hast du mir ja gar nichts erzählt. Scharfer Typ.«

Scharfer Typ? War er das? Jessica hatte ihn beobachtet. Michael Travis war nicht unbedingt ein schöner Mann. Er war gut gebaut - groß, schlank, muskulös -, aber seine Züge waren unregelmäßig. Seine Nase war zu groß, sein Mund zu breit, und seine dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Aber sie konnte Melissas Kommentar verstehen. Er strahlte eine Energie aus, die beinahe elektrisierend wirkte, und sie konnte kaum den Blick von ihm wenden. Als Jessica ihn vor zwei Tagen zum ersten Mal gesehen hatte, war sie ... ja, was? Überrascht gewesen?

Melissa grinste. »Das findest du also auch.«

»Er ist zu alt für dich. Mindestens Mitte dreißig.«

»Himmel Herrgott, ich bin sechsundzwanzig. Du hältst mich immer noch für ein Kind. Vielleicht statte ich ihm einfach mal einen kurzen Besuch ab.« Sie warf Jessica einen schelmischen Blick zu. »Es sei denn, du hast ein Auge auf ihn geworfen.«

»Ich habe noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt.«

»Du bist einfach zu viel mit Kindern zusammen.«

»Der Präsident hat jeden Kontakt mit ihm verboten.«

»Wunderbar. Verbotene Früchte sind doch immer die besten.«

»Willst du denn gar nicht wissen, warum er im Torhaus untergebracht ist?«

»Ich nehme an, du willst deinen Gigolo nicht in dem Haus haben, wo du das Kind behandelst. Das Torhaus bietet erheblich mehr Privatsphäre.«

»Mellie.«

Sie kicherte. »Mach nicht so ein Gesicht.« Sie nahm ihren Koffer und trug ihn ins Haus. »Ich bringe nur schnell meine Sachen in das grässliche blaue Zimmer. Mach uns doch inzwischen einen Kaffee, ja? Nach dem Schrecken, den die mir am Tor eingejagt haben, brauch ich eine Dosis Koffein. Ich hab schon befürchtet, die würden gleich eine Leibesvisitation durchführen. Allerdings, wenn mich dieser Jogger am Tor angehalten hätte . « Bevor Jessica etwas darauf erwidern konnte, war Melissa bereits die Treppe hinaufgelaufen.

Erleichtert ging Jessica in die Küche. Melissa wirkte vollkommen normal. Sie wirkte entspannt, war guter Dinge und wie üblich zu Scherzen und Neckereien aufgelegt. Wenn überhaupt etwas auffallend an ihr war, dann war es eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit. Sie strahlte regelrecht.

»Soll ich uns ein paar Sandwiches machen?« Melissa kam in die Küche. »Ich hab Hunger.«

»Wir haben Schinken und Käse im Kühlschrank.« Jessica füllte zwei Tassen mit Kaffee. »Ich mach das schon.«

»Nein, muss mich ein bisschen bewegen. Ich bin ganz aufgekratzt.«

Melissa war immer aufgekratzt, dachte Jessica. Sie war ständig in Bewegung, redete, lachte ohne Unterlass. Einmal hatte sie gesagt, sie müsse all die verlorenen Jahre nachholen, und Jessica konnte das nachvollziehen. Sie war noch nie einem Menschen begegnet, der so lebendig war wie Melissa.

Außer dem Mann im Torhaus.

Seltsam, dass ihr dieser Vergleich spontan durch den Kopf ging. Die beiden waren einander in keiner Weise ähnlich. Melissa hatte die auffallende Schönheit ihrer Mutter geerbt. Hohe Wangenknochen, glänzendes, kastanienbraunes Haar und blaue, leicht schräg stehende

Augen. Das einzige, was sie mit Travis gemeinsam hatte, war ihr langer, athletischer Körper und die fiebrige Energie.

Fiebrig.

Michael Travis war nicht fiebrig; jede seiner Bewegungen wirkte kontrolliert und zielgerichtet. Und genau besehen passte das Wort auch nicht zu Melissa. Doch heute hatte ihr Verhalten etwas Rastloses, Fieberhaftes.

»Was gibt’s da zu gucken«, fragte Melissa über ihre Schulter hinweg. »Hab ich einen Fleck auf dem T-Shirt?«

»Ich weiß nicht. Meinst du?«

»O Gott, die Analytikerin spricht.« Sie legte ein Sandwich vor Jessica auf den Tisch und nahm ihr gegenüber Platz. »Es geht mir gut. Ich wollte dich einfach nur sehen. Ist das so komisch?«

»Nicht, wenn es die Wahrheit ist.«

»Warum sollte es nicht die Wahrheit sein? Wie geht’s der Kleinen?«

»Nicht gut. Die Alpträume werden schlimmer.« Ihr war klar, dass Melissa sich ihr nicht anvertrauen würde. Sie würde es später noch einmal versuchen müssen. »Ich mache mir Sorgen um sie.«

»Dazu hast du auch allen Grund.«

Jessica zuckte zusammen. »Warum sagst du das?«

»Du weißt doch, warum. Ich habe dasselbe durchgemacht. Ich hab dir schon mal gesagt, wie nah ich daran war, nie wieder zurückzukommen. Die Alpträume haben mich immer tiefer in die Dunkelheit getrieben, bis ich -«

»Aber du bist zurückgekommen.«

»Du hast mich zurückgeholt. Du hast nicht aufgegeben, bis ich den ersten Schritt getan habe. Es gab Zeiten, da hab ich dich für deine Hartnäckigkeit gehasst. Damals wusste ich noch nicht, was du geopfert hast und wie hart du daran gearbeitet hast, mich zu heilen.« Sie lächelte. »Habe ich dir jemals gesagt, wie sehr ich dich liebe, Jessica?«

»Hör auf. Du hättest dasselbe für mich getan.«

»Ich würde alles für dich tun«, entgegnete Melissa leise.

»Alles, was du verlangst.«

»Okay.« Jessica stand auf. »Du spülst das Geschirr, während ich nach Cassie sehe.«

»Ich habe dich in Verlegenheit gebracht.« Melissa trank ihren Kaffee aus. »Tut mir Leid. Ich musste das einfach sagen. Viel zu viele Menschen gehen durchs Leben, ohne die Worte jemals auszusprechen. Nachdem ich geheilt war, wäre ich am liebsten zu allen Leuten hingelaufen, um ihnen zu sagen, sie sollten nie etwas als selbstverständlich hinnehmen, denn sie könnten jeden Augenblick verschwinden und niemals wiederkehren.«

»Aber das hast du nicht getan.«

»Du hast mich nicht gelassen. Für dich war es in Ordnung, diejenige zu sein, die liebt und hilft, aber du wolltest nie, dass ich ...« Sie zuckte die Achseln. »Naja, macht nichts. Ich hab einfach eine Weile gebraucht, um rauszukriegen, wie ich mit dir umgehen muss.«

»Und jetzt hast du’s raus?«

»Ich hoffe es.« Sie nahm ihren Teller und ging zur Spüle.

»Geh und sieh nach der Kleinen.«

»Wieso sagst du mir das jetzt alles?«

»Es musste sein.« Sie räumte das Geschirr in die Spülmaschine. »Glaubst du, das Kontaktverbot mit dem Adonis im Torhaus gilt auch für mich?« »Allerdings.«

»Schade.«

Lächelnd ging Jessica die Treppe hinauf. Mellies Lebensfreude war ansteckend. Es war ein Vergnügen, im selben Raum, auf demselben Planeten zu sein wie sie.

Als sie in Cassies Zimmer trat, wurde ihr Gesicht wieder ernst. Komm zurück, Kleines. Komm zurück und schau, wie schön das Leben sein kann.

Der Schrei zerriss die Stille der Nacht.

Jessica hatte darauf gewartet. Die Alpträume waren jetzt drei Nächte hintereinander aufgetreten.

»Es ist alles gut, Cassie.« Sie nahm das kleine Mädchen in die Arme. »Ich bin bei dir. Es kann dir nichts passieren.«

Doch Cassie hörte nicht auf zu schreien.

»Wach auf, Kleines.«

Cassie schrie, schrie immer weiter.

»Cassie!«

Die Schreie ließen nicht nach.

»Soll ich eine Beruhigungsspritze vorbereiten«, fragte Teresa.

Es widerstrebte Jessica, ein Beruhigungsmittel einzusetzen. Sie hatte es bei Melanie versucht, doch ihre Schwester hatte ihr später erzählt, dass das Mittel sie manchmal erst recht in ihrem Alptraum festgehalten, alles noch schlimmer gemacht hatte. Wenn Jessica das Trauma verstärkte, würde Cassie sich noch weiter zurückziehen.

»Noch nicht.«

»Cassie.« Sie wiegte das Kind in ihren Armen. »Wach auf, Cassie.«

Erst nach fünf Minuten hörten die Schreie auf, doch plötzlich wurde Cassies Körper ganz schlaff.

Jessica erschrak.

Das Kind lag reglos da, die Augen weit geöffnet.

»Cassie?«

Jessica überprüfte ihren Herzschlag. Der Puls ging schnell, aber es bestand keine Gefahr - diesmal.

Was ging in dem Kind vor?

»Ich dachte schon, wir hätten sie verloren«, flüsterte Teresa.

Ihr Leben oder ihren Verstand verloren? Jessica hatte beides befürchtet.

»Sie müssen irgendetwas tun«, sagte Teresa.

»Das weiß ich.«

Eine halbe Stunde verging, und nur ganz allmählich nahm Cassies Gesicht wieder Farbe an.

»Gehen Sie nach draußen an die frische Luft«, sagte Teresa. »Sie sind ja noch blasser als die Kleine. Ich bleibe solange bei ihr.«

»Nur ein paar Minuten.« Jessica stand auf und streckte sich. »Rufen Sie mich, falls sich etwas verändert.«

Im Flur blieb sie stehen und lehnte sich gegen die Tür.

»Alles in Ordnung«, erkundigte sich Larry Fike. »Sie hat mich zu Tode erschreckt.«

»Mich auch. Aber sie ruht sich jetzt aus.«

»Diese Schreie und dieses Schluchzen .«

Jessica nickte und ging auf die Treppe zu. Schluchzen? Cassie hatte nicht geschluchzt.

Doch dann hörte sie es. Leises, unterdrücktes Schluchzen. Sie hörte es genau, aber es kam nicht aus Cassies Zimmer.

Das blaue Zimmer.

Vorsichtig ging sie auf die Tür zu. »Mellie?«

Keine Antwort.

Sie klopfte an und öffnete die Tür. »Mellie, ist alles in -

«

»Es geht mir gut. Lass mich allein.«

»Den Teufel werd ich tun.« Trotz der Dunkelheit konnte sie Melissas Umrisse in dem großen Bett erkennen.

»Was ist los?«

»Was glaubst du wohl? Ich bin frustriert, weil du mir verbietest, den Typen im Torhaus anzubaggern.«

»Wenn er dir so viel bedeutet, werde ich ihn dir auf einem silbernen Tablett servieren.« Jessica kam näher und setzte sich auf die Bettkante. »Und jetzt sag mir die Wahrheit.«

»Ich kann dieses Zimmer nicht ausstehen.«

»Mellie.«

Sie warf sich in Jessicas Arme. »Es tut so weh«, flüsterte sie. »Und wir wären beinahe gestorben, Jessica.«

»Was?«

»Sie sind hinter uns her, und wir kommen nicht vom Fleck. Und da ist so viel Blut . Wir müssen tiefer und tiefer in den Tunnel hineingehen, aber wir können nicht entkommen. Es gibt nur einen Fluchtweg.«

Jessica erstarrte. »Mellie, was sagst du da?«

»Was du nicht hören willst. Wir werden sterben, Jessica. Wir können nicht weiter, wir können nicht entkommen, wir -«

»Mellie, hör auf, du ängstigst mich zu Tode.« Sie schaltete die Nachttischlampe ein. »Du redest verworrenes Zeug.«

Melissa hielt den Kopf gesenkt.

»Du hast geträumt, stimmt’s?«:

»Ja . wir haben geträumt.«

»Warum sagst du dauernd wir?«

»Das weißt du doch.« Sie richtete sich auf und streifte sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Lippen zitterten, als sie zu lächeln versuchte. »Es ist doch schließlich schon einmal passiert.«

Jessica befeuchtete ihre Lippen. »Cassie?«

»Sie ist ein starkes kleines Mädchen. Es fiel ihr ganz leicht, mich mit in den Tunnel zu ziehen. Nicht wie Donny Benjamin. Er hat es versucht, aber ich hab es geschafft, vor seiner kleinen Höhle zu bleiben, obwohl er so einsam war und ich am liebsten hineingegangen wäre, um ihm Gesellschaft zu leisten.« Sie holte tief Luft. »Wenn ich reingegangen wäre, wäre er vielleicht nie wieder zurückgekommen. Aber am Ende ist er zurückgekommen. Du hast ihn zurückgeholt. Genau wie mich.« Sie schaute Jessica an. »Nur dass du zusammen mit mir noch etwas anderes geholt hast, stimmt’s?«

»Du glaubst, du hast dich mit Cassie verbunden?«

»Ich weiß es.« Sie wischte sich die nassen Wangen mit dem Handrücken. »Du willst das nicht glauben, genauso wenig, wie du es bei Donny geglaubt hast. Es macht dir Angst.«

»Allerdings. Dir nicht?«

»Meistens nicht. Heute Nacht hat es mir Angst gemacht. Ich möchte leben.«

»Und Cassie nicht?«

»Wenn die Alpträume kommen, ist sie ängstlich und verwirrt und will nur weg. Und es gibt nur einen Ort, der sicherer und weiter weg ist als ihr Tunnel.«

»Mellie.«

»Tut mir Leid. Ich weiß, dass dich das irritiert.« Sie stand auf und begann, im Zimmer umherzugehen. »Ich werde mir das Gesicht waschen. Dann können wir vielleicht nach unten gehen, uns mit einem Glas Limonade auf die Veranda setzen und das alles für ein Weilchen vergessen. Einverstanden?«

Wie sollte sie das alles vergessen, fragte sich Jessica. Als sie Donny Benjamin behandelt hatte, war es ihr gelungen, die Vorstellung zu unterdrücken, dass Melissa sich mit dem Jungen verbunden hatte. Sie hatte das alles Melissas blühender Fantasie zugeschrieben und es sich damit erklärt, dass ihre Schwester gerade erst geheilt worden war. Schließlich hatte Jessica oft mit Melissa über Donny gesprochen und ihr von den Fortschritten des Jungen erzählt. Genauso wie sie mit ihr über Cassie gesprochen hatte.

Aber Donnys Träume waren nicht von Entsetzen und Trauer geprägt gewesen. Melissa hatte ganz ruhig und mitfühlend über den Jungen gesprochen, sich jedoch zurückgehalten, als sie spürte, wie sehr Jessica das alles verwirrte und ängstigte.

»Hör auf, dir über mich den Kopf zu zerbrechen«, sagte Melissa, als sie aus dem Bad kam. »Deswegen bin ich nicht nach Hause gekommen. Wenn du nicht in meine Privatsphäre eingedrungen wärst und mich in einem schwachen Augenblick erwischt hättest, wärst du nie mit meinen Halluzinationen konfrontiert worden.«

»Aber für dich sind das doch gar keine Halluzinationen.«

»Doch. Wenn sie etwas anderes wären, würdest du dir solche Sorgen machen, dass du einen Nervenzusammenbruch bekämst. Nachdem ich sechs Jahre im Traumland verbracht habe, wäre es ein Wunder, wenn ich nicht ab und zu Halluzinationen hätte.«

»Du lügst.«

»Vielleicht.« Sie ging auf die Tür zu. »Aber das Glas Limonade will ich wirklich haben. Kommst du mit?«

»Schöne Nacht. Das tut mir gut. Ich weiß noch, wie wir als Kinder oft nachts hier gesessen haben.« Die Schaukel bewegte sich sanft. »Sitzt du manchmal hier draußen, Jessica?«

»Dazu hab ich keine Zeit.« Jessica trank einen Schluck Limonade. »Wenn ich nicht gerade mit einem Patienten arbeite, bin ich meistens in der Spezialklinik für autistische Kinder.«

»Ja, davon hast du mir erzählt. Das stelle ich mir deprimierend vor. Im Vergleich zur Arbeit mit autistischen Kindern müssen die sechs Jahre mit mir ja eine Wonne gewesen sein.«

»Es gibt gewisse Parallelitäten in der Behandlungsmethode, und wir haben schon einige Fortschritte erzielt.«

»Und dafür opferst du dein ganzes Leben.« Melissa schwieg eine Weile. »Tust du es meinetwegen? Bin ich daran schuld?«

»Schuld? Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Ich erinnere mich daran, wie du warst, als ich klein war, bevor Mom und Dad gestorben sind.« Sie lächelte.

»Die Beliebtheit in Person, eine Cheerleaderin. Mit einer gesunden Portion Egoismus.«

»Da war ich noch jung.«

»Du bist immer noch jung, und ein bisschen egoistisch zu sein hat noch niemandem geschadet. Ich glaube, das hast du ganz vergessen.« Melissa nippte an ihrem Glas.

»Und wahrscheinlich bin ich doch daran schuld. Du hattest plötzlich einen Zombie am Hals, um den du dich kümmern musstest, und irgendwann wurdest du dadurch zur heiligen Jessica.«

»Sei nicht albern. Du konntest doch nichts dafür, dass du in dem Auto warst, mit dem Mom und Dad tödlich verunglückt sind. Es ist nun einmal passiert, wir können es nicht rückgängig machen und uns bleibt nichts anderes übrig, als uns dem Leben zu stellen und unseren Weg zu gehen.«

Melissa hob ihr Glas. »Wie gesagt, die heilige Jessica. Ich an deiner Stelle hätte einen Tobsuchtsanfall nach dem anderen bekommen und meine Schwester in ein Heim gesteckt.«

»Nein, das hättest du nicht. Das ist doch dummes Gerede. Du hättest dasselbe für mich getan.«

»Ach du lieber Himmel, ich als heilige Melissa?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das kannst du vergessen.«

»Immerhin hast du dich entschlossen, Medizin zu studieren und Ärztin zu werden. Das ist nicht gerade ein Beruf, bei dem in erster Linie Egoismus gefragt ist.«

»Glaubst du etwa, ich habe vor, in deine Fußstapfen zu treten?«

»Ich glaube einfach, dass du großherziger und mitfühlender bist, als du zugibst.«

»Ist dir je in den Sinn gekommen, dass ich Medizin studiere, weil ich nach Antworten suche?«

»Deswegen studieren wir doch alle.«

»Aber ich bin auf der Suche nach ganz persönlichen Antworten. Ich will wissen, warum ich mich sechs Jahre lang von der Welt abgekapselt habe.« Sie schaute in ihr Glas. »Und ich will wissen, was mit Donny Benjamin passiert ist.«

»Mellie, du warst in einem höchst emotionsgeladenen Zustand, und deine Fantasie ist mit dir durchgegangen.«

»Und du willst nicht glauben müssen, dass deine kleine Schwester einen Dachschaden hat.«

»Du hast keinen Dachschaden. Wenn du davon überzeugt wärst, übersinnliche Kräfte entwickelt zu haben, dann hättest du Kurse in Parapsychologie belegt.«

»Oh, ich habe genug Bücher über Hellseherei gelesen, ich könnte eine ganze Bibliothek damit füllen. Aber dort habe ich nicht nach Antworten gesucht. Glaub mir, ich würde viel lieber eine ganz normale wissenschaftliche Erklärung für das finden, was mit mir passiert ist.«

»Das glaube ich dir gern. Donny Benjamin war ein einmaliger Fall und absolut erklärbar.«

»Und Cassie?«

»Dieselbe Erklärung. Ich habe beide Fälle mit dir diskutiert, und auf diesem Gebiet bist du sehr empfänglich für Suggestion.«

»Auf dem Gebiet des Traumlands?«

»Wie auch immer du es nennen willst. Es ist nachvollziehbar, dass du -«

»Hör auf.« Melissa lachte. »Eins ist mir mittlerweile vollkommen klar. Was mit mir geschehen ist, hat nichts mit Vernunft zu tun. Es ist sehr nett von dir, dass du alle möglichen Erklärungen aufführst, bloß um zu verhindern, dass ich im Irrenhaus lande, aber ich bin, was ich bin.«

»Und was ist das?«

»Eine Irre.« Sie hob eine Hand, um Jessica zum Schweigen zu bringen. »Eine nette, intelligente, charismatische Irre. Aber auf jeden Fall eine Irre. Und hör auf, mich so anzusehen, als würdest du mich am liebsten ins Bett stecken und mir einen kühlen Waschlappen auf die Stirn legen. Ich weiß, dass du dieses fantastische Buch über mich geschrieben hast, und ich weiß, wie sehr wir darum gekämpft haben, in die Normalität zurückzukehren. Aber in einem Punkt irrst du dich gewaltig: Normal bin ich nicht.«

»Natürlich bist du normal.«

»Ich weiß noch nicht mal, was das ist. Nur wenige von den Leuten, die ich kenne, sind vollkommen normal. Du bist auch nicht normal, du bist die heilige Jessica.« Sie stand auf. »Ich gehe jetzt ins Bett. Für heute Nacht hast du dir genug Sorgen gemacht.«

»Stimmt.«

»Aber du versuchst schon wieder, eine Lösung zu finden. Oder soll ich lieber sagen, eine Behandlungsmethode?«

»Warum hast du bisher nie mit mir über diese Dinge gesprochen? Warum ausgerechnet heute Nacht?«

»Beinahe hätte ich es auch diesmal nicht getan, weil ich dich liebe und deine Anerkennung brauche. Aber als ich hier saß, musste ich an Cassie denken. Vielleicht bin ich egoistisch, aber ich kann nicht verbergen, was ich bin, wenn Cassie deswegen stirbt.« Sie sah ihre Schwester ernst an. »Beim nächsten Mal wird es noch schlimmer sein. Du musst eine Möglichkeit finden, den Ablauf zu unterbrechen und etwas Neues ins Spiel zu bringen. Egal was, du musst sie aus ihren Träumen herausreißen.«

»Wie zum Teufel soll ich -«

»Ich weiß es nicht. Du bist die Seelenklempnerin.« Sie ging auf die Tür zu. »Tu’s einfach.«

»Mellie.«

Sie drehte sich um.

»Bist du deswegen nach Hause gekommen? Hast du von Cassie geträumt?«

»Nein.« Sie wandte sich ab und legte die Hand auf den Türknauf. »Bis heute Nacht hatte ich keine Träume von - mit Cassie.«

»Sie hätten sich länger ausruhen sollen«, sagte Teresa, als Jessica das Zimmer betrat. »Sie brauchen Entspannung.«

»Wie geht es ihr?«

»Unverändert.« Teresa stand auf. »Ich gehe nach unten und trinke eine Tasse Kaffee, und dann komme ich wieder rauf und schicke Sie ins Bett. Sie sehen allmählich aus wie eine Ihrer Patientinnen.«

»Nein, es geht mir gut.« Was eine Lüge war. Es ging Jessica alles andere als gut. Sie war erschöpft und so von Angst erfüllt, dass ihr übel war. Sie wusste nicht, ob sie mehr Angst um Cassie oder um Melissa hatte. Das Kind war verloren, aber ihre Schwester, von der sie angenommen hatte, dass sie geheilt war, schien erneut in den Abgrund zu stürzen.

Dabei hatte Melissa gewirkt, als sei sie vollkommen mit sich im Reinen. Andererseits, wie viele Patienten hatte Jessica schon behandelt, die völlig gesund schienen, außer wenn sie gerade einen Schub hatten.

Melissa war gesund. Sie war nur ...

Ja, was?

Seufzend lehnte Jessica sich in ihrem Sessel zurück. Diese zusätzlichen Sorgen hatten ihr gerade noch gefehlt. Die Vorstellung, dass irgendeine Art von mentaler Verbindung stattgefunden haben sollte, war einfach absurd. Das verstieß gegen jede Logik. Was auch immer heute Nacht geschehen sein mochte, es war genauso simpel wie die Erklärung, die sie Melissa angeboten hatte.

Sie nahm Cassies Hand. »Du musst bald zurückkommen. Die Alpträume tun dir weh. Ich dachte, wir könnten noch warten, aber . Komm aus dem Tunnel heraus, Kleines. Dann wirst du wieder glücklich sein, ich verspreche es dir. Dann wirst du wieder bei deiner Mama und deinem Daddy sein, und sie werden -«

Tunnel? Wie war sie jetzt darauf gekommen?

Sie erstarrte. Melissa hatte gesagt, Cassie befinde sich in einem Tunnel. Es wäre viel naheliegender gewesen, sich Cassie in dem dunklen Wald vorzustellen, in dem Melissa selbst diese sechs Jahre verbracht hatte. Aber das hatte sie nicht gesagt.

Sie ist ein starkes kleines Mädchen. Es fiel ihr nicht schwer, mich mit in den Tunnel zu ziehen.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. War das Melissas Einbildung, oder war es vielleicht .?

Sie sträubte sich gegen die Vorstellung, sie war allzu abwegig. Sie musste sich auf ihren Verstand verlassen, was Cassie anging . und Melissa. Doch sie zweifelte, ob Cassies geschwächter Körper eine weitere Nacht wie diese überleben würde.

Beim nächsten Mal wird es noch schlimmer sein. Du musst eine Möglichkeit finden, den Ablauf zu unterbrechen.

Gütiger Himmel.