»Karlstadt bietet zwanzig Millionen«, sagte Jan van der Beck. »Keinen Dollar mehr.«

»Wenn er bereit ist, zwanzig zu zahlen, zahlt er auch fünfundzwanzig. Bleib dran.«

»Das sagt sich so leicht.«

»Du musst dir deine dreißig Prozent schon verdienen.«

»Seine Leute würden nicht davor zurückschrecken, mit mir einen Ausflug aufs Land zu machen und mich so lange auszuquetschen, bis sie deinen Aufenthaltsort raushaben.«

»Ist es nicht ein Glück, dass du ihn nicht kennst?«

»Vor allem für dich.«

»Was hast du von Henri Claron erfahren?«

»Nichts Genaues. Ich bearbeite ihn noch.«

»Weiß er etwas?«

»Allerdings. Henri ist ein schlechter Schauspieler, und er hat Angst. Fast so viel Angst wie seine Frau. Sie hat mich dauernd angesehen, als würde ich ihren Mann foltern.«

»Wenn er dermaßen verängstigt ist, wundert es mich, dass er noch lebt.«

»Vielleicht hat er sich abgesichert.« Er wechselte das Thema. »Karlstadt wird allmählich nervös. Er hat von den Russen gehört und meint, du würdest auch mit denen verhandeln.«

»Ein bisschen Unsicherheit kann niemandem schaden.«

»Sie hat bereits jemandem geschadet, und diesmal könnte es mich treffen.«

»Ich verspreche dir, ich werde dich nicht hängen lassen.«

»Wenn er sich auf fünfundzwanzig Millionen einlässt, solltest du dich darauf einstellen, dass alles sehr schnell gehen muss.«

»Dann sieh zu, dass du Henri Claron zum Reden bringst.«

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Alles. Es muss alles gleichzeitig klappen, damit ich zurück nach Amsterdam kommen kann. Lass nicht locker, Jan, ich weiß, du kannst es schaffen.«

»Ich muss mich mit Karlstadt auseinander setzen, ich habe keine Zeit. Vielleicht kann ich jemand anderen losschicken, der Henri die Daumenschrauben anlegt.« Er seufzte. »Ich werde mein Bestes tun, Michael.«

»Noch eins. Kannst du mir ein paar Informationen über den Pegasus besorgen?«

»Was? Ich werde dir nicht helfen, diese Skulptur zu stehlen, Michael.«

»Ich will sie nicht stehlen. Ich will nur wissen, wie die Sicherheitsvorkehrungen aussehen, und ob sie in nächster Zeit irgendwo anders ausgestellt wird.«

»Klingt reichlich verdächtig. Vergiss es. Ich hab zu viel am Hals.«

»Naja, vielleicht später.« Travis legte sein Telefon weg und trat ans Fenster. Karlstadt war nicht der Einzige, der nervös war. Er hatte Jan noch nie so beunruhigt erlebt, und der Holländer ließ sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen. Vielleicht hätte er den Pegasus nicht erwähnen sollen. Ihm war einfach in den Sinn gekommen, dass dieser womöglich ein Schlüssel zur Lösung sein könnte, denn immerhin hatte er Cassie am Fuß der Skulptur vorgefunden. Normalerweise hätte Jan sich nach einigem

Widerstreben bereit erklärt, Erkundigungen einzuziehen, aber er hatte sich rundweg geweigert. Also musste er tatsächlich zutiefst beunruhigt sein.

Aber es blieb noch genug Zeit. Solange die Verhandlungen liefen, war Jan in Sicherheit. Karlstadt würde erst gefährlich werden, wenn das Geschäft abgeschlossen war. Dann würde Travis blitzschnell handeln müssen, damit Karlstadt nicht auf die Idee kam, er solle hingehalten werden.

Heute Nacht brannte kein Licht in Cassies Zimmer. In dieser Woche war er bereits drei Mal nachts dort gewesen. Jessica hatte ihn jedesmal gerufen, wenn Cassies Anfälle losgingen, und beim letzten Mal war es ihnen gelungen, die Kleine nach weniger als fünfzehn Minuten aus ihrem Alptraum zu reißen.

Was würde mit Cassie Andreas geschehen, wenn er nicht mehr in der Nähe war?

Und wie zum Teufel sollte er von hier fortkommen, wenn Henri Claron nicht auspackte, was er über Vasaro wusste? In diesem Fall würde Andreas ihn auf keinen Fall gehen lassen. Er hatte sich zwar für diesen Fall einen Plan zurechtgelegt, aber er würde noch ein bisschen daran feilen müssen.

Er wollte nicht abhauen und Cassie Andreas auf dem Gewissen haben. Doch was würde er tun, wenn es hart auf hart kam?

Es musste nicht so weit kommen. Er brauchte nur dafür zu sorgen, dass das Kind in die Normalität zurückkehrte, und das Problem wäre gelöst. Womöglich wäre Andreas dann so dankbar, dass er sich gar nicht mehr dafür interessierte, wer hinter dem Anschlag auf Vasaro steckte. Das wäre überhaupt die beste Lösung, wenn - Das Telefon klingelte.

»Kommen Sie sofort«, sagte Jessica. »Es hat wieder angefangen.«

Er schaute zum Haus hinüber. Er war so in Gedanken vertieft gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie das Licht angegangen war. »Bin unterwegs.«

»Geh nicht weg«, flehte Cassie. »Die Monster bleiben nicht mehr lange, Melissa.«

»Sie würden überhaupt nicht kommen, wenn du dir von Jessica helfen lassen würdest.«

»Hab Angst. Schöner hier.«

»Nein, das ist es nicht. Es ist wunderbar draußen. Erinnerst du dich? Ich werde dir viele schöne Dinge zeigen.«

»Angst. Schön hier. Ich zeige dir - aber ich kann ihn nicht finden.«

»Wen kannst du nicht finden?«

Cassie wurde immer unruhiger. »Kann ihn nicht finden. Er ist hier, aber ich kann ihn nicht finden.«

»Wen denn?«

»Er muss hier irgendwo sein.«

Melissa fürchtete, Cassie noch weiter in ihren Alptraum zu stürzen, wenn sie sie weiter bedrängte. Konnte sie noch einmal in das Kind hineinfließen und herausfinden, was das Mädchen dachte? Es war riskant. Die letzten Male war es ihr leichter gefallen, sich wieder von Cassie zu lösen, aber sie wusste nicht, was passieren würde, wenn sie ihr gab, was sie wollte.

Sie musste es riskieren.

Sie näherte sich dem Kind. Noch ein bisschen. Sie spürte Cassies Aufregung wie riesige Wellen.

Näher.

Muss ihn finden.

Wen finden?

Eine Gedankenzunge schoss hervor und berührte Melissa.

O Gott.

»Nein!« In Panik riss sie sich los und trudelte in die Dunkelheit. Weg von hier. Weg von hier. Weg von hier.

»Komm zurück! Bin so einsam ...«

Melissas Herz drohte zu bersten. Aufwachen. Die Kontrolle wiedergewinnen. Jessica und Travis würden gleich kommen und wissen wollen, ob sie ihnen irgendetwas über den Traum berichten konnte.

Lügen. Sie musste lügen. Über diesen Horror konnte sie nicht sprechen. Tief atmen und ruhig werden. Ihnen erzählen, wie gut alles gelaufen war. Cassie und sie kamen einander näher, selbst wenn sie getrennt waren. Es gab Momente, in denen ihre Hoffnung wuchs, dass sie Cassie würde zur Rückkehr überreden können. Sie würden sich freuen, das zu hören, sie würden so glücklich sein, dass sie ihren Kummer für ihre übliche Erschöpfung halten würden.

Wenn nicht, würde sie lügen müssen.

Um vier Uhr am nächsten Nachmittag erschien Travis an der Haustür. »Wir müssen reden«, sagte er zu Jessica.

»Wo ist Melissa?«

»In ihrem Zimmer. Sie brütet über ihren Büchern. Was ist los?« »Wir verschwenden unsere Zeit. Wir müssen eine Möglichkeit finden, Cassie wieder ins normale Leben zurückzuholen.«

»Was glauben Sie, was wir die ganze Zeit tun?«

»Es geht nicht schnell genug.« Er ging zur Treppe und rief: »Melissa!«

»Wissen Sie eigentlich, wie wenig sie zum Lernen kommt, seit sie hier ist?«

»Sie ist intelligent genug, um das alles nachzuholen. Verdammt, sie ist intelligenter als wir alle zusammen.«

Er lief die Treppe hinauf. »Sie hat mich nicht gehört. Ich hatte vergessen, wie dick diese Eichentüren hier sind. Kommen Sie. Wir gehen sie holen.«

»Und dann?« Sie folgte ihm. »Wir machen doch Fortschritte. Sie haben selbst gehört, was Melissa letzte Nacht gesagt hat.«

»Ja, sie hat sich gar nicht mehr eingekriegt vor lauter Begeisterung.« Er klopfte an die Tür des blauen Zimmers. »Sehen Sie, wie höflich ich sein kann?«

Melissa öffnete die Tür. »Ich arbeite.«

»Später.« Er ging ins Zimmer und setzte sich in einen Sessel. »Würden Sie bitte die Sachen holen, von denen Sie mir erzählt haben? Das Zeug, das Andreas mit Cassie mitgeschickt hat?«

»Es wundert mich, dass Sie mir diesmal nicht gleich einen Befehl erteilen. Aber Sie haben vergessen, bitte zu sagen.« Jessica verließ das Zimmer.

»Jessica mag es nicht, wenn man ihr Befehle erteilt.«

Melissa setzte sich im Schneidersitz aufs Bett. »Sie haben Glück, dass sie Ihnen keine Szene macht. Was wollen Sie von mir, Travis?«

»Cassie. Wir müssen uns ein paar Gedanken machen. Es geht alles zu langsam.«

Melissas Augen verengten sich. »Was ist los?«

»Wollen Sie nicht auch, dass es Cassie so bald wie möglich besser geht?«

»Was ist los

Er lächelte. »Sagen wir einfach, ich kann mir nicht leisten, jahrelang darauf zu warten, dass Cassie zu uns zurückkommt, und Sie haben mir gesagt, ich muss bleiben, bis sie wieder gesund ist.«

»Irgendwas hat sich bei Ihnen verändert.«

»Und bei Ihnen hat sich auch etwas verändert. Letzte Nacht war nicht zu übersehen, dass Sie etwas vor uns verbargen.«

Sie zuckte zusammen. »Jessica hat es nicht bemerkt.«

»Weil sie Ihnen glauben will. Wollen Sie mit mir darüber reden?«

Melissa antwortete nicht.

»Dann quetschen Sie mich auch nicht aus, Melissa.«

»Hier sind die Sachen.« Jessica brachte vier Fotoalben und mehrere Notizbücher. »Ich habe mir das alles bereits gründlich angesehen.«

»Ich habe nicht vor, Ihre Arbeit noch einmal zu wiederholen.« Er blätterte in einem der Alben. »Sagen Sie mir genau, was Sie damit gemacht haben.«

»Nicht viel. Ich habe einige Fotos ausgesucht und sie Cassie gezeigt, um ihre Reaktion zu testen.«

»Und das Ergebnis?«

»Keine Reaktion bei den Familienmitgliedern. Bei einem Foto ...« Sie schlug die Seiten um, bis sie das richtige fand. »Es zeigt Cassie mit der PegasusSkulptur. Ich hatte den Eindruck . dass sie, wenn auch kaum merklich, darauf reagierte.«

»Ich habe Cassie in Vasaro zu Füßen der PegasusSkulptur gefunden. Ist dies das einzige Foto, das sie erkannt hat?«

»Ich weiß es nicht. Es ist das Einzige, bei dem ich das Gefühl hatte ...« Jessica zuckte hilflos die Achseln. »Es ist schwer zu sagen.«

»Dann könntest du dich also auch geirrt haben«, sagte Melissa. »Woher soll irgendjemand wissen, was in Cassie vorgeht? Hat sie mit den Muskeln gezuckt, oder hat sich ihr Gesichtsausdruck verändert?«

»Vielleicht. Ein bisschen. Es war nur ... so ein Gefühl.«

»Aber du könntest es dir auch eingebildet haben.« Sie streckte die Hand aus und blätterte die Seite um. »Welche Bilder hast du ihr noch gezeigt?«

Travis schlug die Seite zurück. »Bleiben wir lieber noch einen Moment bei dem Pegasus, einverstanden?«

Melissa presste die Lippen zusammen. »Warum? Es ist doch nur eine Skulptur.«

»Aber diese Skulptur ist ein bemerkenswertes Kunstwerk. Sie gilt als einer der wertvollsten Kunstschätze der Welt. Die Familie Andreas behauptet, historische Quellen würden belegen, dass Alexander der Große sie während seines ersten Feldzugs gegen Persien mit sich führte, dass sie sich später im Besitz Karls des Großen befand und über die Jahrhunderte verschiedenen berühmten Persönlichkeiten gehört haben soll. Der Legende nach ist die Skulptur verantwortlich für den Aufstieg und Fall berühmter Männer und Nationen.«

»Idiotisch.«

»Wie die meisten Legenden.« Er lächelte. »Was aber nichts daran ändert, dass sie dennoch faszinierend sind, und ich bin sicher, dass diese Geschichten zum Wert der Skulptur beigetragen haben. In unserer Kultur haben Märchen eine unwiderstehliche Wirkung auf die Menschen.«

»Auf mich nicht. Worauf wollen Sie überhaupt hinaus?«

»Ich weiß es noch nicht genau. Ich weiß nur, dass Cassie in jener Nacht von ihrem Zimmer aus direkt zu der PegasusSkulptur gerannt ist.«

»Das ist doch lächerlich.« Melissa sprang vom Bett auf. »Jeder weiß, dass sie zu ihrer Kinderfrau gelaufen ist.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah Travis wütend an. »Es ist lächerlich zu glauben, sie würde in einem solchen Augenblick des Schreckens bei einer leblosen Skulptur Schutz suchen.«

»Da bin ich mir nicht sicher.« Jessica runzelte die Stirn. »Ihr Vater sagte, sie hätte die Skulptur sehr geliebt. Sie hat immer Geschichten um den Pegasus herum erfunden und am liebsten in dem Zimmer gespielt, wo er stand.«

»Das ist doch einfach albern«, schäumte Melissa. »Die Skulptur hat mit all dem hier nichts zu tun.«

»Woher wollen Sie das wissen?« Travis sah sie nachdenklich an. »Hat sie Ihnen während einem Ihrer gemeinsamen Alpträume etwas anvertraut?«

»Ich versuche einfach, logisch zu denken. Keiner außer mir scheint die Bedeutung des -« Sie stürmte aus dem Zimmer. »Mir reicht’s.«

Jessica zuckte zusammen, als Melissa die Tür zuwarf.

»Tja, man kann jedenfalls nicht behaupten, meine Schwester hätte Probleme, ihre Meinung kundzutun.«

»Haben Sie je mit ihr über den Pegasus gesprochen?«

»Nur beiläufig. Natürlich habe ich ihr die Einzelheiten von Cassies traumatischem Erlebnis beschrieben.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin mir sicher, dass sie das nicht böse gemeint hat. Sie steht einfach in letzter Zeit unter einem enormen Druck, und es macht sie nervös, wenn wir sie vom Lernen abhalten.«

»Sie hat mich nicht verletzt.« Travis lehnte sich zurück. »Haben Sie je in Erwägung gezogen, mit Cassie nach Vasaro zu fahren und die ganze Geschichte noch einmal mit ihr durchzuspielen?«

»Nur, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. Es wäre zu traumatisch. Die Heilmethode wäre schlimmer als die Krankheit.«

»Aber Sie haben darüber nachgedacht?«

»Ich habe jeden denkbaren Schritt in Erwägung gezogen. Aber selbst wenn ich die Absicht hätte, mit Cassie nach Vasaro zu fahren, ihr Vater würde mir niemals die Erlaubnis erteilen.«

»Ja, das könnte ein Problem sein.« Er überlegte. »Was ist mit dem Pegasus? Der ist ein Teil des Szenarios.«

»Andreas hat die Skulptur dem Museum d’Andreas in Paris als Leihgabe zur Verfügung gestellt.«

»Ich lasse gerade überprüfen, ob die Skulptur in nächster Zeit irgendwo ausgestellt werden soll.«

»Ach?« Sie sah ihn verblüfft an. »Dann glauben Sie also wirklich, dass da ein Zusammenhang besteht.«

»Ich weiß nicht. Ich klammere mich an jeden Strohhalm, aber wenn wir mit ihr nach Paris fahren und es einrichten könnten, dass sie -«

»Der Präsident wird sie nirgendwohin reisen lassen, solange die Leute nicht gefunden sind, die den Anschlag auf Vasaro verübt haben.« Sie sah ihn durchdringend an.

»Ist das nicht Ihre Aufgabe?«

»Ich arbeite dran.« Ihm fiel ein, dass Melissa genau die gleichen Worte gebraucht hatte, und er musste lächeln.

»Vielleicht könnten wir Melissa bitten, Cassie bei ihrer nächsten Begegnung auf den Pegasus anzusprechen.«

»Nach dieser Reaktion?«

»Überreden Sie sie.« Er stand auf. »Die Zeit läuft uns davon. Wenn wir nicht bald einen Durchbruch erzielen, werden wir womöglich gezwungen sein, zu radikaleren Methoden zu greifen.«

»Radikal? Im Augenblick läuft doch alles ganz gut. Ich habe nicht vor, die Situation hochzuschaukeln.«

Er sah sie ernst an. »Ihnen bleibt nichts anderes übrig, Jessica.«

Ihr war übel, gleich würde sie sich übergeben müssen.

Nein, ich muss den Brechreiz überwinden, sagte Melissa sich. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie so etwas durchmachte. Einfach nicht mehr daran denken und sich ganz normal verhalten.

Sie beugte sich über das Waschbecken und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

Aber so war es noch nie gewesen. Träume waren Träume. Und dies hier war Realität.

Verdammt. Sie hätte wissen müssen, dass Travis keine Ruhe geben würde, bis er einen Anhaltspunkt fand. Es würde ihm nichts nützen. Sie würde ihn aufhalten und all dem ein Ende setzen.

Smaragdgrüne Augen ...

Sie beugte sich über die Kloschüssel und übergab sich.

»Du bist ja ganz blass.« Jessica legte besorgt die Stirn in Falten, als sie Melissa die Treppe herunterkommen sah.

»Alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung.« Melissa lächelte. »Wahrscheinlich hab ich zu viel über meinen Büchern gebrütet. Ich habe den ganzen Tag in meinem Zimmer gehockt. Wenn du mir was Gutes tun willst, kannst du mir ein Glas Limo geben und mir auf der Veranda Gesellschaft leisten. Ich muss ein bisschen frische Luft schnappen, bevor ich mich wieder nach oben verziehe.«

»Ich könnte auch etwas Kühles zu trinken gebrauchen.«

Jessica ging in Richtung Küche. »Geh schon mal nach draußen. Ich bin gleich da.«

Melissa machte es sich auf der Schaukel bequem und ließ sich sanft wiegen. Es war ein warmer, schwüler Abend, und sie konnte die Frösche im Teich hinter dem Haus quaken hören. Sommergeräusche. Lebensgeräusche. Wunderbar .

»Träumst du?« Jessica reichte ihr ein Glas und setzte sich neben sie. »Du siehst schon viel besser aus.«

Melissa lachte. »Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Kompliment ist. Es ist ziemlich dunkel hier.«

»Aber der Mond scheint.«

Melissa schaute in den Himmel auf. »Ja, da ist er.«

Schweigen.

»Mellie, warum bist du heute Nachmittag so aus der Haut gefahren?«, fragte Jessica zögernd.

»Auf die Frage hab ich schon gewartet. Du machst dir schon wieder Sorgen, stimmt’s? Du findest, dass ich ziemlich irrational reagiert habe, und wenn man bedenkt, dass du nicht so richtig einschätzen kannst, wie stabil ich eigentlich bin -«

»Das stimmt nicht. Ich weiß, dass dir nichts fehlt. Ich wollte einfach nur wissen, warum du dich so aufgeregt hast.«

»Wahrscheinlich hast du Travis alle möglichen Erklärungen für meinen Ausbruch geliefert.«

»Natürlich hab ich das. Ein paar davon sind vielleicht sogar zutreffend.« Sie nippte an ihrer Limonade. »Wir haben noch nie Geheimnisse voreinander gehabt. Sprich mit mir, Mellie.«

Das stimmte nicht. Seit ihrer Rückkehr aus dem dunklen Wald hatte sie jede Menge Geheimnisse vor Jessica, aber sie war heilfroh, dass ihre Schwester von diesem Mangel an Vertrauen nichts ahnte. »Du würdest mir sowieso nicht glauben, wenn ich dir sagte, dass ich -« Sie schüttelte den Kopf. »Also gut, ich will einfach nicht, dass Travis sich zu sehr für den Pegasus interessiert.«

»Und warum nicht?«

»Er ist wie eine Dampfwalze. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht mehr zu bremsen.«

»Das ist nicht unbedingt ein schlechter Charakterzug.«

»Manchmal schon. Es kommt vor, dass Leute in Bereiche vordringen, in denen sie nichts zu suchen haben. Dann braucht es nur noch einen kleinen Schubs, und alles fällt um . wie Dominosteine.«

»Und was hat das mit dem Pegasus zu tun?«

»Der Pegasus ist das, wonach Cassie in dem Tunnel so verzweifelt sucht.«

Jessica verstummte. »Bist du dir sicher?«

»O ja.«

»Aber es ist doch gut, das zu wissen. Darauf können wir aufbauen. Travis’ Vorschlag, den Pegasus zu benutzen, ist vielleicht gar nicht so schlecht, wenn wir eine Möglichkeit finden -« »Nein.« Melissa bemühte sich, ihre Stimme zu beherrschen. »Das verstehst du nicht. Es ist nicht ... es ist ein ... schlimmes Gefühl. In diese Richtung weiter zu bohren, könnte schlimme Folgen für Cassie haben.«

»Fürchtet sie sich vor dem Pegasus?«

Melissa vermied eine direkte Antwort. »In diesen Sumpf solltest du dich gar nicht erst begeben.«

»Ich weiß, dass du dir um Cassie Sorgen machst, aber du bist nicht mit allen psychologischen Aspekten ihres Zustandes vertraut. Du solltest es lieber mir überlassen, diese Probleme zu lösen.«

»Vergiss das mit der Skulptur.«

»Ich kann nichts außer Acht lassen, was Cassie helfen könnte. Und du kannst das auch nicht, Mellie. Wir müssen zusammenarbeiten.«

»Die meiste Zeit glaubst du mir ja noch nicht mal, was ich dir über Cassies Alpträume erzähle.«

»Gut, damit habe ich manchmal Probleme. Aber ich glaube dir, dass Cassie versucht, den Pegasus zu finden, denn als ich ihr das Foto gezeigt habe, hat sie -«

»Du hast gesagt, dass du eigentlich gar keine Reaktion gesehen hast.« Sie lächelte spöttisch. »Was bist du eigentlich? Genauso eine Irre wie ich?«

»Das ist nicht fair. Ich habe dich nie eine Irre genannt.«

Jessica überlegte. »Der Pegasus ist der einzige Anhaltspunkt, den wir haben. Dem müssen wir nachgehen, Mellie. Du musst mir versprechen, dass du Cassie nicht zurückweist, falls sie das Thema anspricht.«

Melissa schwieg.

»Bitte.« Jessica seufzte. »Wir müssen Cassie helfen, und ich weiß im Moment einfach nicht, wie.«

Was hatte es für einen Zweck?, dachte Melissa erschöpft. Die Dominosteine fielen bereits, und sie konnte nichts daran ändern, indem sie einfach so tat, als würden sie nicht existieren. »Ich werde sie nicht danach fragen, aber ich werde sie auch nicht zurückweisen, falls sie von selbst auf das Thema kommt. Reicht das?«

»Das reicht.« Jessica beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Danke.« Sie stand auf. »Ich sehe noch einmal nach Cassie, dann gehe ich ins Bett. Kommst du auch rein?«

»Gleich.«

»Arbeite nicht mehr allzu lange.«

»Mach ich nicht.« Melissa lehnte sich auf der Schaukel zurück. »Schlaf gut.«

»Das wünsche ich uns allen.« Jessica ging ins Haus.

Das Gespräch war vollkommen schief gelaufen, dachte Melissa verzweifelt. Sie hatte gehofft, Jessica von dem Pegasus abbringen zu können, wenn sie andeutete, dass dieser eine Gefahr für Cassie darstellte. Aber Jessica war einfach von der Idee besessen, Cassie zurück in die Normalität zu holen. Wenn Melissa das Thema gar nicht mehr angesprochen hätte, wäre Jessicas Interesse womöglich nicht so groß geworden.

Vielleicht hätte aber auch das nichts genützt. War es Schicksal?

Zum Teufel mit dem Schicksal. So zu denken war defätistisch. Travis würde sich bei der Gestaltung seines Schicksals nicht auf eine Laune verlassen. Er versuchte bereits, eine Möglichkeit zu finden, auf mehreren Hochzeiten zu tanzen. Und mit ihrer Tölpelhaftigkeit hatte Melissa womöglich dafür gesorgt, dass Jessica sich jetzt auf seine Seite schlug. Tief in ihrem Herzen würde Jessica nie aufhören, Melissa als das kleine, hilfsbedürftige Kind zu betrachten, das sie einmal gewesen war.

Im Torhaus brannte noch Licht. Meistens blieb es fast die ganze Nacht an. Während der vergangenen Tage hatte Melissa mitbekommen, dass Travis selten mehr als vier Stunden schlief, und dass er ein ausdauernder Leser war. Vertiefte er sich gerade in den Stapel Bücher, der am Nachmittag des vergangenen Tages bei ihm abgeliefert worden war? Unersättliche Neugier und ein ausgeprägter Wissensdurst konnten bei einem Feind gefährliche Eigenschaften sein.

Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass Travis zu ihrem Gegner werden konnte. Sie war von Anfang an vor ihm auf der Hut gewesen, doch bisher hatte sie stets geglaubt, sie sei ihm in allem gewachsen. Auf seltsame Weise hatte sie sogar das Gefühl gehabt, sie seien Verbündete. Verrückt. Wahrscheinlich lag das bloß daran, dass Cassie ihm vertraute und ihn als ihren Retter betrachtete. Aber sie hatte das spielerische Kräftemessen genossen und seine Intelligenz und seinen intuitiven Scharfsinn bewundert.

Diese Bewunderung empfand sie jetzt nicht mehr. Seine Intuition hatte ihn zu dicht an ihren wunden Punkt geführt. Er hatte den Pegasus aus der Dunkelheit ins Licht gezerrt.

Aber damit würde sie fertig werden. Sie musste ihre Panik unterdrücken. Wenn sie noch nicht stark genug war, würde sie sich zusammennehmen, lernen und sich entwickeln.

Sie konnte nur hoffen, dass ihr genug Zeit blieb.