»Melissa, holen Sie mir einen Erste Hilfe-Kasten.« Galen riss die Tür auf und half Travis ins Haus. »Der Blödmann hat sich anschießen lassen.«

»Angeschossen?« Melissa spürte, wie ihr das Herz fast stehen blieb. »Ist es schlimm?«

»Eine Schusswunde ist immer schlimm.« Galen drückte Travis auf einen Stuhl. »Die Kugel hat seine Rippen nur gestreift, aber er hat Blut verloren.«

»Wer hat das getan?«

Travis schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich muss nachdenken. Machen Sie mir einen Verband und geben Sie mir was zu trinken, damit ich einen klaren Kopf bekomme.«

»CIA?«

»Das hatte nichts mit Cassie zu tun.«

»Woher wollen Sie wissen, ob -«

»Verbinden Sie erst mal seine Wunde, bevor Sie ihn ins Kreuzverhör nehmen«, sagte Galen. »Frauen sind doch angeblich das zarte Geschlecht.«

»Halten Sie die Klappe. Holen Sie mir Jessicas Arztkoffer, aber wecken Sie sie nicht auf. Sie braucht dringend Schlaf.«

»Sie ist Ärztin. Vielleicht sollten wir -«

»Ich kann mich genauso gut darum kümmern. Ich will nicht, dass Sie sie belästigen.«

»Gott bewahre«, murmelte Travis. »Das würden wir doch nie tun.«

»Ist auch besser so. Sie haben ihr schon genug zugemutet.« Melissa ging zur Spüle und füllte eine Schüssel mit Wasser. »Ziehen Sie Ihr Hemd aus.« Als sie sah, wie er sich abmühte, stöhnte sie: »Hören Sie schon auf. Sie sehen ja aus, als würden Sie gleich ohnmächtig. Ich helfe Ihnen.« Sie stellte die Schüssel auf den Tisch und half ihm vorsichtig aus seinem Hemd. »Ihre >Geschäfte< sind also nicht so gut gelaufen, wie Sie gehofft hatten.«

»So könnte man es ausdrücken. Beeilen Sie sich, ja?«

»Das tu ich ja schon. Glauben Sie, es macht mir Spaß, an Ihnen rumzufummeln?«

»Hier ist der Koffer.« Galen stellte den Arztkoffer auf den Tisch und öffnete ihn. »Kann ich Ihnen helfen? Ich kenne mich gut mit erster Hilfe aus.«

»Das kann ich mir denken.« Melissa säuberte die lange, unregelmäßige Wunde. »All diese Kampfwunden .«

»Was?«

»Nichts. Geben Sie mir das Desinfektionsmittel.« Sie warf einen kurzen Blick auf Travis’ Gesicht. »Das wird jetzt brennen.« Bevor er reagieren konnte, betupfte sie die offene Wunde mit dem Desinfektionsmittel. Er zuckte mit keiner Wimper, sah sie an, als würde er überhaupt nichts spüren. Nur seine Mundwinkel zuckten. »Großer Held.«

»Ja, das bin ich.« Travis sah Galen an. »Schnapp dir ein Telefon und besorg uns eine andere Unterkunft. Mir ist zwar niemand gefolgt, aber wir müssen dafür sorgen, dass der Mann, der Jan erschossen hat, uns nicht -«

»Jan ist tot?«, fiel Galen ihm ins Wort. »O Gott, das tut mir Leid, Travis.«

»Mir auch.« Travis wandte sich an Melissa. »Sind Sie jetzt fertig mit mir?«

»Ich wünschte, ich wäre es.« Sie befestigte den Verband mit einem Stück Heftpflaster. »Das dürfte Sie zusammenhalten.« Sie gab ihm drei Schmerztabletten. »Für etwas Stärkeres sind die Schmerzen nicht stark genug.«

»Mir reicht es.«

Sie begriff, dass er nicht den körperlichen Schmerz meinte, doch sie unterdrückte den Anflug von Mitgefühl.

»Wenn Ihnen der Kopf schwirrt, dann liegt das jedenfalls nicht an dieser Fleischwunde.«

Nachdem er die Tabletten geschluckt hatte, sagte Travis zu Galen: »Er wusste, dass wir in den Park kommen würden, und er wusste von dem Deal. Entweder war er einer von Karlstadts Männern, oder jemand, der von der Sache wusste. Er sagte, Jan hätte ihm geholfen. Letzte Woche hat Jan zwei Wanzen in seiner Wohnung gefunden. Ich hatte angenommen, die CIA ... aber ...« Er schüttelte den Kopf. »Könnte ein V-Mann gewesen sein, aber das scheint mir unwahrscheinlich. Ich muss nachdenken. Bring uns erst mal hier weg.«

»Paris?«

Travis zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«

»In Ordnung.« Galen stand auf und nahm sein Handy aus der Tasche. Er zögerte. »Es tut mir wirklich Leid. Ich weiß, er war wie ein Vater für dich.« Dann ging er nach draußen.

Melissa hatte die letzten Worte kaum wahrgenommen.

»Paris? Wieso Paris?«

»Sie wissen, warum«, erwiderte Travis erschöpft. »Ich habe ein Versprechen gegeben, und ich will diese Geschichte hinter mich bringen.«

Sie schloss die Augen. »Scheiße.«

»Ganz Ihrer Meinung.« Er zog sein Hemd an. »Ich weiß,

Sie hatten gehofft, ich würde das alles jetzt fallen lassen, weil -« Er schluckte. »Weil Jan tot ist.«

Es schmerzte ihn, die Worte auszusprechen, das spürte Melissa. Sie wollte es aber nicht spüren, verdammt. Sie öffnete die Augen und sah ihn wütend an. »Ich kann nichts daran ändern, dass Ihr Freund erschossen wurde. Er muss verrückt gewesen sein, sonst hätte er sich nie mit Ihnen eingelassen. Es hätte Ihnen eine Lehre sein sollen, aber Sie haben es nicht kapiert. Sie machen einfach blind weiter, egal, wem Sie dabei wehtun.«

»Ich werde niemandem wehtun.«

»Erzählen Sie das mal Ihrem Freund Jan.«

Er zuckte zusammen. »Sie hätten wahrscheinlich zu Zeiten, als es noch keine Narkosemittel gab, einen Heidenspaß am Arztberuf gehabt.« Er knöpfte sein Hemd wieder zu. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehe ich jetzt nach draußen zu Galen. Ich brauche ein bisschen frische Luft.«

Sie ballte die Fäuste, als sie ihm nachsah. Sie hatte ihm Schmerz zugefügt, aber sie wollte verdammt sein, wenn sie sich anmerken ließ, dass ihr das Leid tat. Er war so abgebrüht, dass er mit fast allem fertig wurde, und sie musste ihn sich einfach zum Vorbild nehmen.

Melissa brachte Jessicas Arztkoffer zurück und stellte ihn auf den Stuhl neben dem Nachttisch. Jessica lag zusammengerollt neben Cassie auf dem Bett. Melissa schaute auf das gequälte Kind hinunter und auf ihre Schwester, die bereit war, alles aufzugeben, um ihre kleine Patientin zu beschützen. Beide schliefen tief und fest, und Melissa überkam plötzlich ein warmes Gefühl der Fürsorge. Seltsam. Jessica war doch immer ihre Beschützerin gewesen, ihr Rettungsanker in einer unsicheren Welt.

Aber jetzt nicht mehr. Ihre Schwester war restlos überfordert. Vielleicht war sie selbst es auch, aber das durfte jetzt keine Rolle spielen.

Sie musste die Initiative ergreifen, versuchen, sie alle über Wasser zu halten, und hoffen, dass sie nicht ertranken.

Sie trat an den Nachttisch, öffnete Jessicas Arztkoffer und begann ihn zu durchsuchen.

»Alles klar?«, fragte Galen, als er auf Travis zukam.

»Solltest du dich nicht lieber ein bisschen ausruhen?«

»Wegen dieser Schramme? Ich hab gehört, du bist mal in Tansania fünf Kilometer weit gelaufen mit einer Machete im Bein.«

»Ja, aber nicht jeder ist so ein Held wie ich.« Galen warf einen Blick auf seine Uhr. »Du hast noch eine Dreiviertelstunde, dann werden wir abgeholt. Geh rein und ruh dich aus.«

»Hier draußen ist es ruhiger.«

Galen nickte. »Verstehe. Sie will unter allen Umständen verhindern, dass du an den Pegasus rankommst.«

»Sie wird sich an die Vorstellung gewöhnen müssen.«

Travis lehnte sich an den Türrahmen. »Hast du alles arrangiert?«

»Einer von meinen Leuten hat Paul Guilliame kontaktiert, den stellvertretenden Kurator des Museums. Der Mann ist bekannt für seine Bestechlichkeit.«

»Der Pegasus ist etwas anderes.«

»Aber Guilliames Charakterschwäche dürfte uns zum Ziel führen, wenn die Kohle stimmt und wir die Sache richtig einfädeln.« Er lächelte. »Und ich weiß, wie man etwas einfädelt.«

»Du musst noch etwas anderes für mich erledigen.«

Galen sah ihn fragend an.

»Ich glaube, ich weiß, wer Jan erschossen hat. Er kannte mich jedenfalls, und eigentlich hatte er es auf mich abgesehen.«

»Du hast sein Gesicht erkannt?«

Travis schüttelte den Kopf. »Die Augen kamen mir irgendwie bekannt vor. Grün, ein bisschen schräg . aber er trug einen falschen Bart.«

»Was soll ich also für dich tun?«

»Finde jemanden, der für mich das Computersystem von Interpol knackt. Ich muss mir ein paar Verbrecherfotos ansehen.«

»Um diese umfangreichen Archive zu durchforsten, brauchst du fünfzig Jahre - es sei denn, du weißt genau, wo du anfangen musst zu suchen.«

Das war Travis klar, aber irgendwo musste er schließlich beginnen. »Dann brauche ich eben fünfzig Jahre. Besorg mir einfach einen Hacker.«

Galen nickte. »Ich kann dir nicht versprechen, dass ich einen gefunden habe, bis wir in Paris ankommen, aber ich werde einen auftreiben.«

»Gut.« Es war überhaupt nicht gut. Im Augenblick nirgendwo etwas Positives zu entdecken. Jan .

»Möchtest du über ihn reden?«, fragte Galen leise.

»Manchmal hilft das.«

Travis schüttelte den Kopf. »Er ist tot.« Seine Mundwinkel zuckten. »Es gibt nichts zu sagen.«

»Es war nicht deine Schuld. Jan war lange genug im

Geschäft. Er wusste, was er tat.«

»Das weiß ich.«

»Aber du lebst, und dein Freund ist tot.« Galen zuckte mit den Schultern. »Hart. Aber finde dich damit ab.«

»Das tue ich. Besorg mir einfach einen Hacker.«

»Versprochen. Mir ist gerade jemand eingefallen, der dazu in der Lage sein könnte. Stuart Thomas. Er ist ein bisschen seltsam, aber er ist ein absolutes Computergenie.« Galens Telefon klingelte, und er meldete sich.

Einen Augenblick lang hörte er zu, dann unterbrach er die Leitung. »Ich glaube, wir haben Guilliame. Er wird die Skulptur, unter dem Vorwand, dass sie gesäubert werden muss, aus dem Schaukasten in ein Hinterzimmer bringen lassen. Er sagt, er muss Wachen vor die Tür stellen, sonst würde das Ganze Verdacht erregen. Aber er kennt welche, die gegen entsprechende Bezahlung wegsehen.«

»Und wie hoch ist die Bezahlung?«

»Alles in allem? Der Preis ist gestiegen. Zwei Millionen. Ziemlich viel für ein paar Stunden mit einer verdammten Skulptur. Ich könnte versuchen zu handeln.«

»Keine Zeit.«

»Hast du das Geld?«

»Ich habe etwas, was ich stattdessen anbieten kann.«

»Und das ist zwei Millionen wert?«

»Ich schätze, Guilliame wird sich darauf einlassen. Karlstadt war jedenfalls interessiert.«

»Du willst die Ware benutzen, die du Karlstadt versprochen hast?« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Das könnte aber gefährlich werden.«

»Darüber zerbreche ich mir später den Kopf.« »Das wirst du womöglich schon früher tun müssen.«

»Karlstadt kann mich mal. Wer weiß, vielleicht war er es, der Jan erschossen hat.«

»Aber du bist dir nicht sicher.«

»Nein, im Augenblick gibt es überhaupt nichts, dessen ich mir sicher bin.« Er sah Galen an und wiederholte:

»Karlstadt kann mich mal.«

»Nichts liegt mir ferner, als einen Mann aufhalten zu wollen, der Rache geschworen hat. In solchen Fällen ist der Verstand gewöhnlich ausgeschaltet.« Galen wandte sich zum Gehen. »Wir müssten gegen Mitternacht in Paris sein.«

»Heuern Sie mehr Leute an«, sagte Deschamps, als Provlif sich am Telefon meldete. »Und kommen Sie mir nicht mit Geldproblemen. Ich habe so viel Geld, wie Sie wollen. Und jetzt finden Sie Cassie Andreas.«

»Sie ist womöglich gar nicht mehr hier.«

»Was?«

»Mein Kontaktmann bei der CIA sagt, es geht das Gerücht, Ihr alter Freund Travis hätte sie entführt.« Er erläuterte die näheren Einzelheiten.

Nachdem Provlif geendet hatte, schwieg Deschamps eine Weile. »Klingt ziemlich unwahrscheinlich«, sagte er schließlich.

»Der Präsident ist aus Japan nach Washington zurückgeflogen, unter dem Vorwand, er sei krank. Andreas ist aber so gesund wie ein Pferd.«

Je mehr Deschamps darüber nachdachte, umso mehr neigte er dazu, dem Gerücht zu glauben. In seinen Gesprächen mit van der Beck hatte Travis das Kind nicht ein einziges Mal erwähnt, aber es war durchaus möglich, dass Andreas ihm genug vertraute, um ihn um Hilfe bei der Betreuung seiner Tochter zu bitten. Und Travis war schlau genug, um eine solche Entführung durchzuziehen. Ein wohliger Schauer der Erregung durchfuhr ihn. Der Kreis begann sich zu schließen. Travis, und jetzt vielleicht auch noch das Kind.

»Deschamps?«

»Es könnte stimmen.«

»Aber warum sollte er die Kleine entführen?«

Aus demselben Grund, wie Edward sie hatte entführen wollen? Möglich. Vielleicht hatte Travis ihm in Vasaro nur dazwischengefunkt, um einen eigenen Coup vorzubereiten.

»Ich brauche Travis’ Telefonnummer.«

»Die versuche ich schon die ganze Zeit rauszubekommen.«

»Dann strengen Sie sich ein bisschen mehr an. Sie wissen verdammt genau, dass die CIA die Nummer hat, falls Travis tatsächlich in dem Haus in Virginia war.«

»Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass es ihnen nicht gelungen ist, seine Anrufe zurückzuverfolgen.«

»Seine Anrufe interessieren mich nicht. Aber ich möchte vielleicht mit ihm reden.«

»Ich werde mich darum kümmern.«

»Tun Sie das. Und dann nehmen Sie das nächste Flugzeug und kommen wieder hierher. Ich werde Sie vielleicht brauchen.« Er legte auf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er brauchte die Telefonnummer. Er empfand das eigenartige Bedürfnis, mit Travis in Kontakt zu treten. Bei keiner seiner anderen Zielpersonen war ihm das je passiert, aber Travis war etwas anderes. Travis hatte ihn gedemütigt, und ihm lediglich das Geld abzujagen, reichte ihm nicht. Diese neuen Informationen bewiesen, dass Travis auf mehr als eine Weise gefährlich war. Er war nicht nur eine Gefahr, er war ein Konkurrent. Ja, er wollte das alles genüsslich auskosten, mit Travis spielen, bevor er ihn tötete, ihm zeigen, dass er ihm immer einen Schritt voraus war.

Wie würde Travis’ nächster Schritt aussehen? Wenn Provlifs Vermutung stimmte, würde Travis sich versteckt halten. Aber Edward hatte seinen Freund getötet, und Travis war sentimental genug, um auf Rache zu sinnen. Dazu musste er Edward jedoch erst identifizieren und aufspüren. Travis’ einziger Anhaltspunkt war der Tod von Henri Claron, und es war anzunehmen, dass er an diesem Punkt ansetzen würde.

Also Lyon?

Vielleicht.

Vielleicht auch nicht.

Travis war das Geld gestohlen worden, mit dem er gerechnet hatte, und Cassie Andreas versteckt zu halten, dürfte ein kostspieliges Unterfangen sein. Womöglich würde er sich gezwungen sehen, seinem wichtigsten Ziel Priorität einzuräumen.

Auf jeden Fall musste Edward noch einmal ganz genau alle Informationen studieren, die er über Travis besaß. Dann brauchte er nur noch seinem Instinkt zu folgen ...