»Hoffen Sie nur«, sagte Travis. »Aber wenn Sie Ihrer Schwester erzählen, dass Deschamps auch wieder mit von der Partie ist, überlegt sie es sich vielleicht noch einmal mit dem Pegasus. Womöglich ist ihr unter diesen Umständen das Risiko doch zu groß.«

»Ich sag’s ihr.« Melissa sprang auf. »Aber sie wird es sich nicht anders überlegen. Nicht, solange keine direkte Gefahr für Cassie besteht.«

»Sie haben sich also damit abgefunden?«

»Den Teufel habe ich«, fauchte sie. »Ich habe nur den ersten Schritt akzeptiert. Das heißt noch lange nicht, dass ich mich nicht jedem weiteren Schritt widersetzen werde.«

»Davon bin ich überzeugt. Dann haben Sie also vor, uns zu begleiten?«

»Sie haben gehofft, dass ich das nicht tun würde. Tut mir Leid. Das lasse ich mir nicht entgehen.«

Mit gerunzelter Stirn studierte Galen das Polizeifoto.

»Ich glaube, dem bin ich schon mal begegnet. Irgendwo in Portugal. Kann das sein?«

»Er scheint nicht mit einer portugiesischen Gruppe zusammengearbeitet zu haben, was aber nicht heißt, dass er in Portugal nie am Werk war.« Travis las das Profil.

»Er ist amerikanischer Staatsbürger, treibt aber sein Unwesen vorwiegend in Europa. Er scheint ein Gourmet zu sein. Kleidet sich äußerst elegant . lässt sich seine Anzüge in Rom maßschneidern.« Er überschlug ein paar Zeilen. »Seine Mutter hat sich von seinem Vater scheiden lassen und ist mit Edward nach Paris gekommen, als er sechs war. Sie hat einen Jean Detoile geheiratet, den Besitzer einer Kunstgalerie. Detoile war offenbar gut betucht und hat den Jungen auf eine Privatschule geschickt, ein Internat. Anfangs hat er dort exzellente

Noten bekommen, sein IQ ist überdurchschnittlich hoch. Dann, als Halbwüchsiger, beschuldigte sein Stiefvater ihn des Diebstahls und übergab ihn der Polizei. Der Junge kam für zwei Jahre ins Gefängnis.«

Den Rest der Seite überflog er. »Als er wieder rauskam, hielt er sich mit Kleinkriminalität über Wasser - Drogen, Schwindel, Diebstahl. Aber damit hat er offenbar nicht genug verdient, denn im Alter von zwanzig wurde er zum Profi-Killer. Er wurde zum Experten im Umgang mit Abhörgeräten.« Travis blickte auf. »Das würde zu dem passen, was Jan mir über die Wanzen in seiner Wohnung erzählt hat.« Dann las er weiter. »Schließlich stieg er zum Terroristen auf. Anfangs hat er mit verschiedenen Gruppen zusammengearbeitet, dann eine eigene gegründet. Aber das ging nicht lange gut. Im Prinzip ist er ein Einzelgänger, und die Gruppe hat sich nach einer Weile aufgelöst.«

»Was ist mit seinen Eltern?«

»Seine Mutter starb, als er im Gefängnis war. Sein Stiefvater wurde vier Jahre nach seiner Entlassung ermordet.«

»Von Deschamps selbst?«

»Wahrscheinlich. Es wurde nie aufgeklärt. Man hat nicht die Spur eines Beweises gefunden. Aber es war ein extrem brutaler Mord.« Travis überlegte. »Interessant, dass er seinen Stiefvater nicht sofort nach seiner Entlassung ermordet hat. Er hat abgewartet und gelernt, und dann hat er zugeschlagen. Ein kaltblütiger Hund.«

»Und offenbar sehr intelligent.«

»So intelligent nun auch wieder nicht. Er hat Jan nur getötet, um mich zu treffen.« Leise fügte er hinzu. »Dieser Fehler wird ihn teuer zu stehen kommen.«

»Und das werden Sie genießen«, sagte Melissa.

»Darauf können Sie Gift nehmen. Wollen Sie noch mehr über Deschamps hören? Im Vergleich zu ihm müssten Sie mich doch direkt sympathisch finden.«

Melissa machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.

»Da müsste er schon ein Massenmörder sein.«

»Reichen die Informationen, um Deschamps zu finden?«, fragte Travis Galen, nachdem Melissa die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Wenn es so wäre, hätten die CIA oder Interpol ihn längst geschnappt.« Galen nahm den Bericht von Travis entgegen und überflog ihn. »In Paris ist er schon drei Mal festgenommen worden. Anscheinend gefällt es ihm hier. Das wäre ein erster Anhaltspunkt. Ich werde mal meine Fühler ausstrecken. Aber versprich dir nicht zu viel.«

0.35 Uhr

»Bald ist es so weit, Kleines«, flüsterte Jessica. Sie wickelte Cassie in eine leichte Decke. »Es wird ganz aufregend sein. Du wirst einen alten Freund wieder sehen.«

Sie wandte sich an Melissa. »Travis sagt, sobald wir aus dem Museum kommen, verlassen wir Paris. Wir sollen alle unsere Sachen in den Bus packen. Würdest du bitte nachsehen, ob ich auch nichts vergessen habe, während ich den Kaffee aufsetze?« Sie verzog das Gesicht. »Andererseits frage ich mich, ob Kaffee mir gut tut, denn ich bin jetzt schon ganz nervös.«

Melissa schüttelte den Kopf. »Du bist nie nervös.« »Doch, heute schon.« Jessica ging ins Wohnzimmer, wo Travis und Galen warteten. »Ist es so weit?«

Travis nickte. »Wie geht es der Kleinen?«

»Sie ist wach.«

»Sorgen Sie dafür, dass sie wach bleibt. Sonst wird es zu teuer. Wo ist Melissa?«

»Sie packt unsere Sachen.« Jessica ging in die Küche und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Wo gehen wir hin, wenn es vorbei ist?«

»Wenn die Sache mit Cassie funktioniert, bringe ich Sie und Melissa an einen sicheren Ort und überlasse es Ihnen, mit Andreas zu verhandeln.«

»Und wo befindet sich dieser sichere Ort?«

»Wie würde Ihnen die Riviera gefallen?«, fragte Galen.

»Ich weiß nicht. Ich war noch nie dort. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich dort besonders gut verstecken kann.«

»Gerade solche Orte eignen sich meist besonders gut dazu.«

»Wir werden sowieso nicht viel Zeit haben. Ich verstehe gar nicht, warum Andreas uns bisher noch nicht aufgespürt hat.«

»Wir sind ständig auf Achse. Und wir haben Galen.«

»Und was springt für Sie dabei heraus?«

Travis schüttelte den Kopf. »Ich nehme nicht an, dass Andreas geneigt sein wird, mit mir zu verhandeln.«

»Fertig.« Melissa kam mit zwei Reisetaschen aus dem Schlafzimmer. »Gehen wir und bringen es hinter uns.«

Die arme Mellie. Sie war so blass und angespannt, dass es Jessica einen Stich versetzte.

»Ich hole den Wagen und vergewissere mich, dass uns niemand beobachtet.« Galen ging zur Tür. »Wenn ich dich nicht anrufe, kannst du Cassie in fünf Minuten runterbringen.«

Jessica reichte Melissa eine Tasse Kaffee. »Trink das. Du siehst furchtbar aus.«

»Ich brauch keinen Kaffee.«

»Trink ihn, Mellie.«

Melissa lächelte gequält. »Jawohl, Ma’am.« Sie trank ein paar Schlucke und gab Jessica die Tasse zurück. »Zufrieden, heilige Jessica?«

»Ja.« Sie wandte sich an Travis. »Wie bekommen wir Cassie ins Museum, ohne dass uns jemand sieht? Es muss doch auffallen, wenn wir sie herumtragen.«

»Wir parken den Wagen in einer Seitenstraße und gehen durch den Hintereingang hinein. Galen sagt, das Magazin liegt gleich am Ende des Korridors.«

»Was ist mit den Wachposten?«

»Es sind zwei, und die haben wir bestochen. Einer steht am Hintereingang und einer vor der Tür des Magazins. In dem Raum gibt es eine Tür, die zu den Lagerräumen im Keller führt. Für alle Fälle postiert Galen einen seiner Männer an der Tür.«

»Gott, ich hoffe bloß, dass alles gut geht.«

»Jessica ...«

Jessica drehte sich um. Ihre Schwester wankte mit glasigen Augen auf sie zu. »Jessica ...«

»Halten Sie sie fest, Travis«, sagte Jessica.

Travis konnte Melissa gerade noch rechtzeitig auffangen.

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starrte sie ihre Schwester an. »Nein ... Jessica.«

»Schsch.« Jessica schüttelte das Sofakissen auf. »Keine Sorge, Mellie.« »Mein Gott. Du ahnst nicht, was -« Sie wurde ohnmächtig.

»Was zum Teufel ...?«, murmelte Travis.

»Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel in den Kaffee getan«, sagte Jessica. »Legen Sie sie aufs Sofa.«

»Sie haben ihr Tabletten gegeben? Warum?«

»Sie hätte das alles nicht verkraftet. Sie haben doch selbst gesehen, in was für einen Zustand sie sich gesteigert hat wegen des Pegasus. So wird sie erst aufwachen, wenn alles vorbei ist.« Sie deckte Melissa zu. »Außerdem bestand die Möglichkeit, dass sie querschießen würde. Aber Cassie hat diese Chance verdient.«

Travis stieß einen leisen Pfiff aus. »Sie sind ja ganz schön abgebrüht.«

»Sie wussten doch, dass sie Probleme machen würde. Wollen Sie etwa behaupten, Sie wären nicht versucht gewesen, etwas Ähnliches zu tun?«

»Ich hatte es mir tatsächlich überlegt.« Travis schaute Melissa an. »Aber ich habe es nicht fertig gebracht.«

»Warum nicht?«

»Es kam mir vor wie ein schmutziger Trick. Eine Kämpferin wie sie hat es nicht verdient, dass man auf unfaire Methoden zurückgreift.« Er schob ein paar Strähnen aus Melissas Stirn. »Ich mag die kleine Furie, wenn sie mich nicht gerade mit ihren Giftpfeilen beschießt. Deswegen hätte ich das Problem der Lösung vorgezogen.«

»Ich wollte kein Risiko eingehen und lieber Cassie und Mellie beschützen.« Jessica warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Zeit, Cassie nach unten zu bringen.«

»Wie lange wird Melissa schlafen? Sie hat nur ein paar Schlucke getrunken.« »Damit hatte ich gerechnet. Also habe ich ihr eine ordentliche Dosis gegeben. Vier bis fünf Stunden.« Sie drückte Melissa einen liebevollen Kuss auf die Wange und flüsterte: »Es ist das Beste für dich. Schlaf gut, Mellie.«

0.45 Uhr

Paul Guilliame war ein schmaler, eleganter, dunkelhaariger Mann von etwa Mitte fünfzig. Und er war extrem nervös.

»Los, kommen Sie rein.« Er nickte dem Wachmann vor der Tür des Magazins zu und bedeutete ihnen mit einer Hand einzutreten. »Ich muss verrückt sein, das zu tun. Vier Stunden. Mehr nicht.«

»Immer mit der Ruhe. Bringen Sie der Dame einen Stuhl«, sagte Galen. »Und dann besorgen Sie sich einen Drink, um Ihre Nerven zu beruhigen.«

»Ich werde das Gebäude nicht verlassen«, sagte Guilliame. »Und was hat das Kind hier zu suchen? Von einem Kind haben Sie nichts -«

»Die Zeit läuft. Wenn Sie uns in vier Stunden wieder los sein wollen, dann lassen Sie uns in Ruhe und mischen sich nicht ein«, sagte Travis. »Wo ist der verdammte Pegasus?«

»Auf dem Arbeitstisch gegenüber den Sarkophagen.«

Jessica hatte die Skulptur bereits entdeckt. »Mein Gott«, murmelte sie. »Ich habe Bilder davon gesehen, aber sie so zu sehen, ist etwas ganz anderes. Sie ist wunderbar.«

»Wo soll der hin?«, fragte Guilliame, der mit einem Stuhl zurückkam.

»Ein paar Meter von der Skulptur entfernt«, sagte Jessica.

Guilliame stellte den Stuhl an der gewünschten Stelle ab und eilte davon.

Jessica setzte sich und breitete die Arme aus. »Setzen Sie Cassie auf meinen Schoß, Travis.«

»Ich kann sie halten.«

»Nein.«

»Sie vertraut mir.«

»Aber ich bin diejenige, die sie zur Rückkehr zu überreden versucht. Sie sind nur zur Sicherheit da. Sie soll merken, dass jetzt alles anders ist.«

Er setzte Cassie so auf Jessicas Schoß, dass sie die Skulptur sehen konnte. »Und jetzt?«

»Jetzt warten wir ab.« Sie zog Cassie an sich. »Mach die Augen auf, Kleines. Er ist da. Er ist so schön, dass mir fast das Herz stehen bleibt. Ich kann verstehen, warum du ihn so sehr liebst. Bitte, mach die Augen auf .«

»Er ist da!« Cassies Freudenschrei zerriss den Nebel, in dem Melissa sich befand. »Ich hab ihn gefunden. Sie sagt, ich soll die Augen aufmachen, damit ich ihn sehen kann, aber ich weiß, dass er da ist. Komm her, dann können wir ihn zusammen anschauen. «

Dunkelheit. Nebel. Lethargie.

»Wir können hier bleiben. Er wird uns beschützen. Sie will, dass ich rauskomme, aber das brauchen wir nicht. Wir gehen noch tiefer in den Tunnel. Er hat mich schon einmal mitgenommen, er kann es wieder tun. Und er kommt mit uns. Das weiß ich ganz genau.«

Sie müsste irgendetwas sagen. Aber sie konnte nicht klar denken. Warum nicht? Der Nebel war so dicht und schwer wie Sirup. »Von wem redest du?«

»Vom Windtänzer, du Dummerchen.«

Melissa wurde von Angst gepackt, die den Nebel fortriss. »Was?«

»Ich hab ’s dir doch gesagt. Er ist hier. Ich hab ihn gefunden.«

Melissas Herz klopfte wie wild. »Wo?«

»Jessica hat mich zu ihm gebracht.«

Jessica.

Der Kaffee.

Nein!

»Los, komm, Melissa. Ich hab ihn gefunden, aber ich will dich nicht hier lassen. Komm mit.«

Sie musste die Augen aufmachen.

»Melissa.«

»Geh nicht mit ihm, Cassie.«

Die Augen aufmachen. Die Augen aufmachen. Die Augen aufmachen.

Endlich hoben sich ihre schweren Lider. Blaue Vorhänge. Die Wohnung. Nebel. Alles lag im Nebel.

Aufsetzen. Bewegen.

Zu anstrengend.

Bewegen.

Sie brauchte fünf Minuten, um sich aufzurichten, und weitere fünf, um auf die Beine zu kommen.

Eins nach dem anderen. Zur Tür gehen.

Was war, wenn sie es nicht schaffte? Sie musste Jessica aufhalten.

»Melissa, wo bist du?«

»Ich komme. Warte auf mich.«

In ihrer Hosentasche suchte sie nach der

Telefonnummer, die sie aus Jessicas Notizbuch abgeschrieben hatte. Jetzt zum Telefon.

Gott, sie konnte die Ziffern auf den Telefontasten nicht erkennen. Erst beim dritten Versuch gelang es ihr, die richtige Nummer zu wählen.

»Hallo«, sagte Andreas.

»Cassie ... Jessica. Museum d’Andreas.«

»Was? Wer spricht da?«

»Melissa. Sie müssen dahin. Jetzt gleich.« Sie legte auf. Womöglich würden sie nicht rechtzeitig dort eintreffen. Womöglich würden sie überhaupt nie ankommen.

Die Handtasche, darin war die Pistole, die Galen ihr besorgt hatte. Sie musste nach draußen. Das Museum lag nur wenige Straßen weit entfernt. Sie konnte es schaffen.

Ein Schritt nach dem anderen.

»Melissa, ich mache die Augen auf. Ich muss ihn noch einmal sehen. Er ist so schön.«

Melissa wurde von Panik erfasst. Wenn Cassie diese smaragdgrünen Augen sah, würde sie sie auch sehen. Sie wusste nicht, ob das alles noch schlimmer machen würde, aber sie konnte es nicht riskieren.

»Nein. Mach die Augen nicht auf. Warte auf mich.«

»Ich versuch’s. Beeil dich.«

Eine Straße.

Sie schaffte es nicht. Sie war zu erschöpft.

»Ich kann nicht länger warten, Melissa.«

»Doch, das kannst du. Du kannst alles, wenn du nur willst.«

Zwei Straßen.

Sie wankte und fiel gegen die Wand eines Gebäudes.

Aufstehen. Weitergehen.

»Ich mache die Augen auf.« »Nein!«

»Ich muss.«

Und dann sah Melissa sie.

Smaragdgrüne Augen, die mit uralter Weisheit in die Welt hinaus starrten. Die Skulptur stand auf einem alten, viel benutzten Arbeitstisch mitten in einem riesigen, voll gestopften Raum. Eine Rampe. Verschiedene Gemälde. Auf der anderen Seite des Tisches, neben einem ägyptischen Sarkophag stand Travis.

»Ich hab’s dir ja gesagt.« Cassies Aufregung umwirbelte sie beide wie ein elektrisches Feld. »Er ist hier. Er ist hier.«

Noch eine Straße. Das Museum lag direkt vor ihr.

Die smaragdgrünen Augen, aber keine Blutlache. Es konnte anders sein. Es musste anders sein.

Melissa bog in die Seitenstraße ein.

»Jessica ist glücklich. Sie glaubt, ich würde zurückkommen, bloß weil ich die Augen aufgemacht hab. Sie spricht mit mir und sagt mir, der Windtänzer will, dass ich zurückkomme.«

»Sie hat Recht, Cassie.«

»Woher willst du das wissen? Der Windtänzer hat mich geholt. Bei ihm bin ich in Sicherheit.«

»Aber du kannst den Windtänzer nicht so sehen, wie du es jetzt tust.« Was redete sie da? Vor lauter Angst konnte sie nicht klar denken. Alles, was sie sah, waren diese smaragdgrünen Augen.

Aber keine Blutlache. Keine Blutlache. Mach, dass es anders ist. Bitte. Keine Blutlache.

Sie stieg die Stufen zum Hintereingang hinauf und zog sich am Treppengeländer hoch.

So schwer. So weit bis oben.

Sie lehnte sich gegen die Tür, um Kraft zu sammeln. Noch eine Minute, dann würde sie in der Eingangshalle sein. Alles war gut. Sie hatte es geschafft, und nichts war geschehen. Sie war noch nicht mal von den Wachen aufgehalten worden.

Die Wachen.

Wo waren die Wachen?

Sie drückte die Tür auf.

Blut. Starre Augen. Zwei Leichen.

Die Wachen.

»Warum sagst du nichts mehr, Melissa?«

»Mach die Augen zu, Cassie.« Sie wankte durch die Eingangshalle. O Gott, vor dem Magazin lag noch eine Leiche. Blauer Anzug, also kein Wachmann. Guilliame?

»Hör mir zu. Ich will, dass du die Augen zumachst.«

»Warum denn? Dann kann ich doch den Windtänzer nicht mehr - Was war das für ein Geräusch?«

»Welches Geräusch?«

»Ein Knall. Das hab ich schon mal gehört. Schon mal gehört.« Melissa hörte die Panik in Cassies Stimme. »Michael rennt die Treppe runter, zu der anderen Tür. Er lässt mich allein.«

»Mach die Augen zu.«

»Windtänzer. Ich kann nicht hier bleiben. Er muss mich mitnehmen.« Entsetzen. »Ich falle, Melissa.«

»Warum fällst du? Bist du verletzt?«

»Ich weiß nicht. Ich liege auf dem Boden. Ich mache die Augen zu. Ich gehe fort ...«

»Warum liegst du auf dem Boden?« Melissa riss die Tür auf. »Was ist

Und dann sah sie es.

Die smaragdgrünen Augen.

Die Blutlache auf dem Boden, so groß, dass sie Cassies Schuhe berührte.

Melissa stieß einen Schrei nach dem anderen aus.

Sie wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, den Raum zu durchqueren, dann fiel sie auf die Knie. Die Blutung stillen. Sie musste das Blut stillen, das aus Jessicas Brust quoll.

»Mellie?« Jessica schaute zu ihr auf. »Hilf ... Cassie.«

»Cassie ist unverletzt.« Mit beiden Händen drückte sie auf Jessicas Wunde. »Und dir wird es auch bald wieder gut gehen.«

»Sie war schon fast ... wieder da. Ich weiß es. Ich hab’s geschafft, nicht wahr?«

»Natürlich hast du’s geschafft.« O Gott. So viel Blut.

»Hör auf zu sprechen.«

»Er ist so schön ...« Jessica schaute den Pegasus an.

»Ich kann verstehen, warum Cassie .« Blut tropfte aus Jessicas Mundwinkel. »So schön ...«

Ihr Kopf fiel zur Seite.

»Nein!«