»Karlstadt will nur mit dir verhandeln«, sagte van der Beck, als Travis sich am Telefon meldete. »Er will die Ware sehen.«
»Hast du ihm das Muster gezeigt?«
»Er sagt, ein Regentropfen macht noch keinen Ozean.«
»Ich hätte ihn gar nicht für so poetisch gehalten.«
»Er will, dass du herkommst.«
»Sag ihm, ich respektiere seine Wünsche, aber in einem Ozean kann man leicht ertrinken, und das Risiko bin ich nicht bereit einzugehen, solange ich kein akzeptables Angebot habe.«
»Und was würdest du als akzeptabel bezeichnen?«
»Fünfundzwanzig Millionen klingen doch nicht schlecht.«
Van der Beck schnaubte. »Du träumst wohl, Michael.«
»Nein, sie werden zahlen. Das ist ein guter Preis. Lass dich nicht runterhandeln.« Er wechselte das Thema. »Hast du mit irgendjemandem Kontakt aufgenommen, der etwas über den Anschlag auf Vasaro weiß?«
»Ich werde Henri Claron in Lyon einen Besuch abstatten. Angeblich weiß er etwas. Aber er gibt sich sehr schweigsam, und das ist eigentlich nicht seine Art.«
»Im Gegenteil.«
»Und ich habe noch etwas Interessantes herausgefunden. Henris Frau Danielle ist in demselben Dorf aufgewachsen wie Jeanne Beaujolis, die Kinderfrau von Cassie Andreas.«
»Das ist in der Tat interessant.«
»Aber, wie gesagt, Henri ist zur Zeit nicht besonders gesprächig.«
»Hat er Angst?«
»Ich habe ihm eine Menge Geld angeboten. Es müsste schon hart auf hart kommen, damit er sich eine solche Summe entgehen ließe. Ich halte dich auf dem Laufenden.« Er legte auf.
Verdammt. Travis steckte das Handy in die Tasche und trat ans Fenster. Nicht unbedingt Neuigkeiten, wie er sie erhofft hatte. Seit einer Woche war er nun schon hier und noch keinen Schritt weitergekommen.
Aber immerhin noch besser, als in einer Holzkiste zwei Meter tief vergraben zu sein. Er war es einfach nicht gewöhnt, irgendwo festzusitzen. Mehr als ein paar Stunden am Tag konnte er sich nicht damit beschäftigen, am Computer zu sitzen oder Bücher zu lesen. Das einzige Buch, das ihn wirklich fesselte, war das von Jessica Riley. Es gefiel ihm, sich in die Vergangenheit und in die Situation von Jessica Riley und ihrer Schwester Melissa zu versetzen. Das machte die Gelegenheiten, bei denen er einen Blick auf die beiden erhaschen konnte, noch interessanter. Sie kamen ihm so vertraut vor, wie kaum jemand sonst. Die meisten Menschen gewährten nicht einmal ihren engsten Freunden einen so tiefen Einblick in ihre Gedanken und Gefühle, und die Klarheit, mit der Jessica sich in ihrem Buch ausdrückte, hatte etwas Ergreifendes. Die Geschichte ihres Kampfs um ihre traumatisierte Schwester, die als Kind hatte mit ansehen müssen, wie ihre Eltern verbrannten, enthielt keine Spur von Eitelkeit, im Gegenteil, aus jedem Wort sprach die reine Zuneigung.
Durch den Regen sah er, dass hinter den Fenstern des Zimmers im ersten Stock des großen Hauses Licht brannte. Schon das dritte Mal in dieser Woche. Anscheinend ging es Cassie gar nicht gut. Das arme Kind.
Und die arme Jessica Riley. Wie er ihrem Buch zwischen den Zeilen entnommen hatte, litt sie vermutlich immer sehr mit ihren Patienten mit. Nun auch mit Cassie.
Doch das ging ihn nichts an. Wie oft hatte er sich das eigentlich schon gesagt, seit er hier eingetroffen war? Aus purer Langeweile gab er sich Spekulationen hin, und Spekulationen reichten ihm selten aus. Er zog es vor, alles unter Kontrolle zu haben. Wenn er nicht aufpasste, lief er Gefahr, seine sichere Position als Beobachter aufzugeben und sich einzumischen und nach einer Lösung des Problems zu suchen. Er musste sich auf sein eigenes Leben konzentrieren und Cassie Andreas und die Menschen um sie herum vergessen.
Cassie schrie.
Jessica wiegte sie in den Armen. »Kleines, wach auf. Bitte. So geht das nicht weiter.«
Doch Cassie riss nur den Mund weit auf und schrie. Immer und immer wieder.
Schneller Puls. Feuchte Haut.
»Spritze«, fragte Teresa.
»Ich habe ihr beim letzten Mal eine Spritze gegeben, aber sie hat keine Wirkung gezeigt. Und wenn ich ihr zu viel gebe, bringt es sie um.«
Was aber tun? Jessica überlegte fieberhaft. Schon seit zwanzig Minuten schrie das Kind ohne Unterlass. Es war der schlimmste Anfall, den Cassie bisher gehabt hatte, und sie konnte doch nicht riskieren, dass - »Kümmern Sie sich um sie«, sagte sie zu Teresa. Sie sprang auf und rannte aus dem Zimmer, an dem Wachmann vorbei und den Flur
entlang. Sie riss Melissas Tür auf. »Cassie hat einen schlimmen Alptraum. Ich weiß nicht, was du tun kannst, aber wenn es irgendetwas gibt -«
Melissa antwortete nicht.
Jessica schaltete das Licht ein.
Melissa lag mit offenen Augen auf dem Bett.
»Mellie?«
Schneller Puls. Feuchte Haut.
»Mist.«
Tränen liefen über Jessicas Wangen, als sie aus dem Zimmer stürzte. Was zum Teufel sollte sie tun? Das war alles verrückt. Nichts ergab einen Sinn. Dieses Kind durfte nicht sterben.
Und Melissa ...
Herr im Himmel, was sollte sie tun?
Du musst eine Möglichkeit finden, den Ablauf zu unterbrechen, und etwas ins Spiel bringen.
Sie rannte die Treppe hinunter und in den Regen hinaus.
Den Ablauf unterbrechen.
Etwas Neues ins Spiel bringen.
Sie wusste, wo sie ein neues Element finden konnte. Sie wusste es seit der Nacht, als Andreas ihr jeglichen Kontakt mit Michael Travis untersagt hatte.
Verdammt. Sie konnte nicht tatenlos zusehen, wie dieser Alptraum weiterging.
Mit den Fäusten trommelte sie gegen die Tür des Torhauses. »Machen Sie auf, Herrgott noch mal.«
Travis öffnete die Tür. »Was zum Teufel -«
»Los, kommen Sie.« Sie packte ihn am Arm. »Ich brauche Sie. Sofort.« »Was ist passiert?«
»Stellen Sie keine Fragen. Kommen Sie einfach.« Sie zerrte ihn mit sich. »Ich bin Jessica Riley, und ich -«
»Ich weiß, wer Sie sind. Was ich nicht weiß, ist, was Sie hier tun.«
»Das erkläre ich Ihnen später. Kommen Sie einfach mit.«
Er rannte neben ihr her auf das Haus zu. »Geht es um die Kleine?«
»Ja. Ich habe Angst, dass sie stirbt.« Jessica bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu beherrschen. »Sie hat einen Alptraum, und es gelingt mir nicht, sie zu wecken.«
Sie hatten die Haustür erreicht, sie zog ihn in die Diele.
»Sie müssen mir helfen.«
»Ich bin kein Arzt.«
»Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage.« Als sie die Treppe hinaufhasteten, hörte sie Cassies Schreie. Erleichtert atmete sie auf. Cassie schrie, also war sie noch am Leben.
Auf dem Treppenabsatz trat ihr Larry Fike entgegen, den Blick auf Travis gerichtet. »Er darf hier nicht rein, Dr. Riley. Ich habe meine Befehle.«
»Er kommt mit rein«, erwiderte sie scharf. »Sie können ihn durchsuchen. Sie können auch mit reinkommen und die ganze Zeit neben ihm stehen bleiben. Aber er kommt mit rein. Ich brauche ihn.«
»Ich habe meine Befehle.«
»Werden Sie später dem Präsidenten erklären, warum Sie mich daran gehindert haben, das Leben seiner Tochter zu retten?«
»Ich habe meine -« Er unterbrach sich und schaute auf die Tür zu Cassies Zimmer. »Beine auseinander und Hände an die Wand, Travis.«
Ungeduldig sah Jessica zu, wie Fike Travis abtastete.
»Bitte, beeilen Sie sich, sie -«
Fike gab Travis frei, folgte ihm aber auf dem Fuß.
Jessica stürzte auf das Bett zu. »Wie geht es ihr, Teresa?«
»Ich fürchte, ein bisschen schlechter.« Sie sah zu Travis auf. »Was hat der hier zu suchen?«
»Das frage ich mich auch«, sagte Travis. »Was habe ich hier zu suchen?«
»Ich weiß es nicht. Ich musste irgendetwas unternehmen
-«
Ein erneuter Schrei.
Travis zuckte zusammen, dann trat er einen Schritt vor. »Tun Sie doch etwas dagegen! Bestimmt leidet sie fürchterlich unter -«
»Wenn ich etwas dagegen tun könnte, würde ich Sie nicht brauchen.« Jessica holte tief Luft und versuchte nachzudenken. »Sie hat einen Alptraum, und es gelingt mir nicht, sie da herauszureißen. Ich glaube, es hat mit Vasaro zu tun. Sie versucht, vor etwas zu fliehen. Aber sie kann ihm nicht entkommen, und deswegen geht der Alptraum immer weiter. Wir müssen etwas tun, um das Muster zu durchbrechen.«
»Ich?«
»Sie haben ihr in Vasaro das Leben gerettet. Vielleicht müssen Sie es heute Nacht noch einmal tun.«
»Steht es so schlimm um sie?«
»Ich weiß es nicht. Aber dieser Alptraum muss aufhören.« »Da haben Sie verdammt Recht.« Travis setzte sich auf das Bett. Er nahm Cassies Hände. Einen Augenblick lang sah er sie schweigend an, dann sagte er: »Du bist in Sicherheit, Cassie. Ich bin bei dir. Es ist alles vorbei. Erinnerst du dich? Wir gehen jetzt in die Küche und warten auf deine Eltern.«
Cassie schrie.
»Du bist in Sicherheit. Ich bin bei dir. Der böse Mann ist weg. Sie sind alle weg.«
Sie schrie.
»Hör mir zu, Cassie«, sagte er mit leiser, eindringlicher Stimme. Er sah sie durchdringend an. Jessica konnte beinahe spüren, wie er sich zwang, mit dem Entsetzen des Kindes fertig zu werden. »Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit. Der böse Mann ist fort.«
Cassie verstummte.
»Niemand kann dir etwas tun. Er kann niemandem etwas tun. Du bist in Sicherheit.«
Cassie starrte ihn an.
»Er ist fort. Sie sind alle fort. Du bist in Sicherheit.«
Cassie holte tief Luft.
Minuten vergingen. Schließlich schloss sie die Augen.
Lieber Gott, ich danke dir. Jessica trat näher ans Bett und fühlte Cassies Puls. Er stabilisierte sich.
»Alles in Ordnung«, fragte Travis.
»Vorerst ja. Sie schläft jetzt tief.«
»Wird der Alptraum wiederkehren?«
»Wahrscheinlich nicht. Es ist noch nie zweimal in einer Nacht vorgekommen.« Sie wandte sich an Teresa.
»Bitte bleiben Sie bei ihr.«
»Mach ich.« Teresa starrte Travis an. »Er sollte am besten auch in der Nähe bleiben.«
Jessica nickte erschöpft. »Ich bin gleich wieder da.«
Mellie. Sie musste nach Mellie sehen. Sie eilte den Flur entlang zum blauen Zimmer.
»Mellie?«
Keine Antwort.
Sie trat ans Bett. Melissa schien ebenfalls tief zu schlafen. Sie fühlte ihren Puls. Beinahe normal.
Langsam öffneten sich Melissas Lider. »Schlimm . Beinahe ... hättest du uns verloren.«
»Wie geht es dir?«
»Als wären wir . von einem Lastwagen überrollt worden.« Sie schaute über Jessicas Schulter hinweg.
»Danke.«
Als Jessica sich umdrehte, sah sie Travis hinter sich stehen.
»Wofür«, fragte er.
»Später ... so müde ...« Ihre Lider flatterten und schlossen sich wieder. »Danke.«
»Gute Idee. Schlaf jetzt.« Jessica deckte ihre Schwester zu. »In ein paar Stunden schaue ich noch mal nach dir.«
»Nicht ... nötig. Es ... geht uns gut.«
»Ich mach’s trotzdem.« Jessica bedeutete Travis, ihr zu folgen. »Gute Nacht, Mellie.«
Melissa antwortete nicht. Sie schlief.
Im Flur wandte Jessica sich zu Travis um. »Warum sind Sie mir gefolgt?«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Offenbar wurde ich in Cassies Zimmer nicht mehr gebraucht, und dieser Secret-Service-Mann hat mir ein Loch in den Bauch gestarrt.« »Sie hatten kein Recht, im Zimmer meiner Schwester aufzutauchen.«
Er zuckte die Achseln. »Sie hatten die Tür offen stehen lassen. Und als ich sah, dass Sie ihren Puls fühlten, dachte ich, Sie würden mich vielleicht brauchen.«
»Ich brauchte Sie nicht mehr. Mellie ... war nur ... erschöpft.«
»Ach ja?«
»Ich danke Ihnen, es ist jetzt alles in Ordnung. Sie können wieder gehen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nass bis auf die Haut, und ich werde bei diesem Sturm nicht vor die Tür gehen, ehe meine Sachen wieder trocken sind und ich eine Tasse Kaffee getrunken habe.« Er ging die Treppe hinunter.
»Würden Sie mir sagen, wo die Küche ist? Sie brauchen nicht mitzukommen, ich bin es gewöhnt, für mich selbst zu sorgen.«
Daran zweifelte sie nicht. Er benahm sich so selbstverständlich, als wäre er hier zu Hause. Aber dass er vollkommen durchnässt war, war nicht von der Hand zu weisen. Vor lauter Aufregung hatte sie das noch gar nicht bemerkt. »Tut mir Leid.« Sie lief die Treppe hinunter.
»Ist Ihnen kalt? Ich hätte Ihnen Zeit lassen sollen, einen Schirm zu holen, aber ich war mit den Gedanken ganz woanders.«
»Ich glaube, Sie haben noch nicht mal bemerkt, dass es regnete.« Er folgte ihr in die Küche. »Sie sind genauso nass wie ich. Oder ist Ihnen das auch entgangen?«
Er hatte Recht. »Wenn ich den Kaffee aufgesetzt habe, hole ich uns ein paar Handtücher.«
»Ich kümmere mich darum. Sagen Sie mir, wo ich sie finde.«
»In dem großen Schrank im Badezimmer. Am Ende des Flurs auf der linken Seite.«
Jessica war gerade dabei, Kaffeetassen auf den Tisch zu stellen, als er zurückkam.
»Schönes Haus.« Er warf ihr ein großes, weißes Handtuch zu und begann, sich mit dem anderen die Haare trockenzurubbeln. »Es gibt nicht viele Badezimmer, in denen antike Schränke stehen. Sie müssen sich fühlen, als lebten Sie in einer anderen Zeit.«
»Manchmal.« Sie wischte sich Gesicht und Hals ab, dann trocknete sie ihr Haar. »Vor allem, wenn der Strom ausfällt.« Sie legte das Handtuch weg. »Milch und Zucker?«
Travis schüttelte den Kopf. »Fällt der Strom oft aus?«
»Nein, meine Eltern haben neue Leitungen verlegen lassen, als ich klein war, aber hin und wieder passiert es einfach.« Sie schenkte Kaffee ein. »Der Präsident sagt, Sie haben lange in Europa gelebt, alte Häuser müssten Ihnen also vertraut sein.«
»Ich habe immer in Armenvierteln gelebt.« Er setzte sich an den Tisch und nahm seine Tasse in beide Hände.
»Die Häuser, in denen ich aufgewachsen bin, sind zusammengefallen, bevor sie historischen Wert entwickeln konnten. Seit ich erwachsen bin, ziehe ich moderne Häuser vor, Wohnungen mit allem Komfort.« Seine Augen funkelten.
»Ich habe gar nicht die Zeit, unzuverlässige Stromleitungen zu reparieren.«
»Die Frage ist, ob man sich die Zeit nehmen will.« Sie setzte sich ihm gegenüber. »Ich möchte Ihnen danken, dass Sie mir mit Cassie geholfen haben. Wahrscheinlich haben Sie mich für verrückt gehalten, als ich so panisch an
Ihre Tür geklopft habe.«
»Ihr Besuch kam auf jeden Fall unerwartet.«
»Aber Sie sind trotzdem mitgekommen. Das werde ich Ihnen nie vergessen. Ich hatte entsetzliche Angst.«
»Das war nicht zu übersehen.« Er nippte an seinem Kaffee. »Erzählen Sie mir von Cassie.«
»Jeder weiß, dass sie an einem posttraumatischem Stresssyndrom leidet.«
»Aber nicht jeder weiß von diesen Alpträumen. Spricht sie darüber?«
»Sie spricht überhaupt nicht.«
»Woher wissen Sie dann, dass sie von Vasaro träumt?«
Sie schaute in ihre Tasse. »Das ist doch logisch, oder?«
»Ja.«
»Und Sie konnten sie aus ihrem Alptraum befreien, weil Sie in Vasaro dabei gewesen sind.«
»Auch logisch. Wie kamen Sie darauf, dass sie auf mich reagieren würde?«
»Sie waren das neue Element. Das hat die Struktur des Traums aufgebrochen. Als der Präsident mir zum ersten Mal von Ihnen erzählte, hatte ich bereits das Gefühl, dass ich Sie würde gebrauchen können.«
Er grinste spöttisch. »Freut mich, Ihnen gedient zu haben. Allerdings schätze ich, dass Andreas mich nicht gerade für den passenden Kandidaten halten wird.«
»Sie sind der einzige Kandidat, den Cassie akzeptiert. Er wird sich mit allem einverstanden erklären, was dazu beiträgt, dass seine Tochter wieder gesund wird.«
»Wenn Sie vorhaben, meine Hilfe noch einmal in Anspruch zu nehmen, dann sollten Sie sich mit ihm in Verbindung setzen und ihn darüber informieren. Ich wette, die Jungs vom Secret Service sind bereits dabei, Bericht zu erstatten.«
»Was?«
»Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, dass Sie mich brauchen. Er kann kaum sturer sein als der Wachmann, mit dem Sie sich angelegt haben, um mir Zutritt zu Cassies Zimmer zu verschaffen.«
Sie war so müde und so benommen, dass sie darüber noch gar nicht nachgedacht hatte. Doch Michael Travis hatte offenbar schon einen Schritt weiter gedacht »Vielleicht brauche ich Sie ja gar nicht mehr.«
»Wollen Sie das Risiko eingehen?«
Nein, das wollte sie nicht. »Wer weiß, ob es ein zweites Mal funktioniert?«
»Und wenn doch?«
Sie sah ihn durchdringend an. »Warum sind Sie so versessen darauf, mir zu helfen?«
»Was glauben Sie? Weil ich so ein großes Herz habe?«
»Ich weiß nichts über Sie, außer, was Andreas mir erzählt hat.«
»Das dürfte reichen. Andererseits ist es vielleicht ein bisschen unfair, denn ich habe Sie eingehend studiert, seit ich im Torhaus wohne.«
»Wie bitte?«
Er lachte in sich hinein. »Keine Sorge. Ich bin kein Spanner. Ich habe Ihr Buch gelesen. Es war sehr aufschlussreich.«
»So?«
»Ich hatte nichts Besseres zu tun. Das war eine äußerst langweilige Woche. Die Sache mit Cassie ist das Aufregendste, was ich seit meiner Abreise aus Amsterdam erlebt habe.«
»Sie klingen ja regelrecht begeistert. Freut mich, dass Cassies Leiden Ihnen zu einem Vergnügen verholfen hat.«
»Vergnügen? Das war’s wohl weniger. Ich gebe aber zu, es hat mir ein gewisses Hochgefühl bereitet, dem Kind zu helfen. Tut mir Leid, wenn das für Sie anstößig klingen mag, aber das ist nun mal meine Natur. Ihnen wäre es sicherlich lieber, wenn ich so tiefgründig und selbstlos wäre, wie Sie es offenbar sind, aber damit kann ich nicht dienen. Ich lasse die Dinge nicht so nah an mich heran.«
»Warum bieten Sie mir dann Ihre Hilfe an?«
»Ich liebe es, den Status quo zu durchbrechen. Es gefällt mir, etwas zu erschüttern, von dem die meisten Menschen glauben, es sei in Stein gemeißelt.«
»Wie ungeheuer ... distanziert.«
»Sie meinen kalt.« Er lächelte. »Ich bin nicht kalt, Dr. Riley. Und den Status quo zu erschüttern ist nicht immer das Schlechteste. Sie hatten nichts dagegen, dass ich es bei Cassie tue.«
Und als er mit Cassie gesprochen hatte, war er alles andere als kalt gewesen. Seine Leidenschaft und seine Eindringlichkeit hatten Cassie aus ihrem tödlichen Alptraum befreit.
»Es ist nicht alles nur schwarz oder weiß.« Er konnte ihre Gedanken lesen. »Ich verspreche Ihnen, ich werde Ihrer Cassie nichts antun.«
»Sie ist nicht meine Cassie.«
»Wirklich nicht?«
Er sah zu viel. »Ich möchte, dass sie wieder gesund wird.«
»Und, im Gegensatz zu mir, gehen Sie eine persönliche Beziehung ein.« »Das tun die meisten Menschen.« Jessica musterte ihn. Stärke. Intelligenz. Ein Anflug von Verwegenheit. Was lag sonst noch in diesem Gesicht? »Warum wollen Sie Cassie helfen? Es kann doch nicht nur die Langeweile sein.«
Er lachte. »Sie haben mich in die Sache hineingezogen wie eine Schachfigur. Ich vergaß Ihnen zu sagen, dass ich leidenschaftlich gern die Kontrolle in der Hand habe.«
Sie sah ihn fest an. »Ich habe die Kontrolle über Cassie. Niemand sonst.«
»Cassie hat die Kontrolle über Cassie.« Sein Lächeln verschwand. »Sie brauchen mich, aber Sie werden mich nicht als Schachfigur bekommen.«
»Sie würden doch nicht tatenlos zusehen, wie die Kleine stirbt.«
»Das können Sie nicht wissen. Ich bin Ihr Joker. Ich kann alles sein. Wollen Sie ein Risiko eingehen?«
Verdammt, er wusste doch ganz genau, dass sie das nicht konnte.
Travis schüttelte den Kopf. »Ich werde Sie nicht überrumpeln. Vorerst werde ich nach Ihrer Pfeife tanzen. Ich möchte nur, dass wir uns verstehen.«
Sie dachte darüber nach, nickte.
»Gut.« Er trank seinen Kaffee aus und stand auf. »Ich gehe jetzt zurück ins Torhaus, und Sie rufen Andreas an. Okay?«
»Ich überleg’s mir.«
»Wie Sie wollen. Es wird komplizierter, wenn er Sie anruft, nachdem er mit seinen Leuten gesprochen hat.«
Er hob die Hand zum Gruß und ging durch die Tür. »Wir sehen uns.«
Jessica blieb noch lange am Tisch sitzen. Sie war es nicht gewöhnt, Befehle entgegenzunehmen, und Travis’ Vorschlag war einem Befehl gefährlich nahe gekommen. Er hatte es offensichtlich ernst gemeint, als er erklärte, er übe leidenschaftlich gern Kontrolle aus.
Das würde ihm nicht gelingen. Sie hatte nicht die Absicht, auch nur ein Jota von der Verantwortung für Cassie abzutreten. In dem Augenblick, als er sich auf Cassies Bett gesetzt hatte, war eine Veränderung in ihm vorgegangen. Die Herausforderung schien ihn regelrecht elektrisiert zu haben, jede Zelle in seinem Körper war aufgeladen. Sie mochte seine Entschlossenheit brauchen, aber auf seine Dominanz konnte sie verzichten.
Dummerweise jedoch hatte Travis Recht, sie musste Andreas anrufen. Wenn sie seinen Vorschlag nur deshalb ignorierte, weil er von Travis kam, würde sie sich selbst schaden. Sie würde Andreas anrufen, es hinter sich bringen, und dann würde sie sich in Ruhe überlegen, wie sie Michael Travis benutzen konnte.
Der Regen hatte nicht nachgelassen, doch Travis spürte die Nässe kaum, als er zum Torhaus zurückeilte. Er war immer noch erfüllt von der explosiven Energie seines Kampfs mit Cassie ... und mit Jessica Riley.
Faszinierend.
Das Erlebnis mit Cassie und dann das aufschlussreiche Gespräch zwischen Jessica und ihrer Schwester Melissa, dessen Zeuge er geworden war. Teile eines Puzzles begannen sich zusammenzufügen, die ihm äußerst interessant erschienen.
Und gefährlich.
Vielleicht hatte er doch noch nicht lange genug auf einem Hochseil balanciert.