»Möchtest du eine Tasse Kaffee?«
»Nein, ich möchte haarklein erklärt haben, was hier gespielt wird.«
Jessica seufzte. »Also gut. Ich dachte nur, du könntest das Koffein gebrauchen, bevor ich dir das alles erzähle.«
Während der nächsten Minuten setzte Jessica sie ausführlich ins Bild über das Dilemma, mit dem Travis sie konfrontiert hatte.
Melissa fluchte. »Ich kann es nicht fassen. Vorgestern Abend hab ich dich noch gefragt, was los ist, und du hast mich angelogen.«
»Eigentlich nicht. Ich habe dir bloß nicht alles gesagt. Okay, ich hab dich angelogen.«
»Warum?«
»Ich musste die Entscheidung treffen, ob ich mich auf Travis’ Bedingungen einlassen würde oder nicht, und du hättest alles nur noch komplizierter gemacht.«
»Du musstest das entscheiden? Ich hänge da ganz schön tief mit drin. Ich hätte da ein Wörtchen mitreden wollen.«
»Cassie ist meine Patientin.«
»Und mich betrachtest du auch immer noch als Patientin. Und damit hast du das Sagen, stimmt’s? Also, ich bin keine Patientin, und ich lasse mich nicht wie eine behandeln. Ich bin weder krank noch verrückt, und ich kann durchaus auf eigenen Füßen stehen.«
»Heute Nacht sah es aber nicht gerade so aus, als könntest du dich auf den Beinen halten.«
»Das war ein Schlag unter die Gürtellinie.«
»Du hast es verdient. Du magst vielleicht nicht meine Patientin sein, aber solange du diese Verbindung mit Cassie hast, bist du ebenso gefährdet wie sie. Glaubst du etwa, aus lauter Angst, deine Gefühle zu verletzen, würde ich riskieren, dass dir etwas zustößt?«
Einen Moment lang starrte Melissa sie nur an, dann sagte sie widerstrebend: »Verdammt, wenigstens dieses eine Mal hättest du mir Recht geben können, heilige Jessica. Ich bin absolut empört, und du ziehst mir den Boden unter den Füßen weg.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hättest es mir sagen müssen. Gemeinsam hätten wir eine Möglichkeit finden können, Travis auszuschalten. Sein ganzer Plan ist vollkommen wahnsinnig.«
»Glaubst du, das wüsste ich nicht? Ich habe einfach keinen anderen Ausweg gesehen. Wir brauchen ihn.«
Das konnte sie nicht abstreiten, dachte Melissa frustriert. »Warum Amsterdam?«
»Travis hat dort etwas zu erledigen.« Zögernd fügte Jessica hinzu: »Ich hab’s dir bisher noch nicht gesagt, aber ich habe ihn dazu gebracht, dass er mir . den Pegasus versprochen hat.«
Melissa erstarrte. »Was?«
»Ich habe ihn so lange unter Druck gesetzt, bis er sich darauf eingelassen hat, Cassie mit der Skulptur zusammenzubringen.«
»Nein.«
»Doch.« Sie sah, wie Melissas Hände sich zu Fäusten ballten. »Ich wusste, dass dich das wütend machen würde, aber du siehst das falsch. Es ist eine Chance, Cassie zu helfen, glaub mir. Ich weiß nicht, ob Travis sein Wort halten wird, aber ich werde versuchen, ihn dazu zu bringen. Diesen Wahnsinn mache ich nicht mit, ohne etwas dafür zu bekommen.«
Melissa spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte.
»Herrgott noch mal, wie soll ich dich bloß davon überzeugen, dass du einen Riesenfehler machst!«, flüsterte sie.
»Das kannst du nicht. Meine Patientin. Meine Entscheidung.« Jessica drückte Melissas Hand. »Ich fürchte, diesmal musst du dich einfach mit den Gegebenheiten abfinden.« Sie stand auf. »Ich koche jetzt Kaffee und mache ein paar Sandwiches. Falls du nicht die ganze Zeit im Nachthemd herumlaufen willst, im Badezimmer liegen ein paar Kleider und eine Zahnbürste für dich bereit. Du findest die Sachen in einer Reisetasche mit einem Namensschild von dir.« Sie ging in Richtung Heck. »Galen scheint an alles gedacht zu haben.«
Galen. Melissa erinnerte sich dunkel an den Mann, der sie ins Flugzeug getragen hatte. Dunkles Haar, dunkle Augen, fit, kräftig ...
Und gefährlich, sehr gefährlich.
Dieselbe Empfindung hatte Travis bei ihr ausgelöst. Wahrscheinlich war er noch gefährlicher als Galen. Auf jeden Fall gefährlicher für sie, denn er war derjenige, der Jessica den Pegasus versprochen hatte. Sie musste mit Travis reden, ihm klar machen, dass er die verdammte Skulptur aus dem Spiel lassen musste.
Smaragdgrüne Augen ...
Nicht jetzt. Die Erinnerung verdrängen. Sie war aufgeregt, und sie zitterte. Wenn sie mit Travis verhandelte, brauchte sie einen klaren Kopf.
Dieser Pegasus. Als wäre die Situation nicht so schon schlimm genug .
Melissa stand auf und ging ins Bad.
»Ich will mit Ihnen reden.«
Travis blickte von seinem Notizblock auf. »Wie geht es Ihnen, Melissa?« »Zum Kotzen.« Sie warf einen Blick auf Cassie. Ihre Augen waren geschlossen, wahrscheinlich schlief sie. Lieber nichts riskieren. »Ich muss mit Ihnen reden. Unter vier Augen.«
»Damit habe ich gerechnet.« Er stand auf und ging ein Stück weit den Gang hinunter. »Von hier aus können wir sie im Auge behalten.«
»Ihre Sorge um sie ist ja direkt rührend, wenn man bedenkt, was Sie der Kleinen zumuten.«
»Ich sah keine andere Möglichkeit. Mir ist natürlich bewusst, dass es hart für Cassie ist ... und für Sie.«
»Sie wissen überhaupt nichts.« Ihre Stimme zitterte.
»Wir haben Ihnen vertraut, aber Sie haben uns im Stich gelassen. Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, haben Sie Jessica in diesen Wahnsinn hineingezogen. Wenn sie nicht ins Gefängnis kommt, verliert sie zumindest ihre Lizenz. Ich könnte Sie umbringen.«
»Ich werde dafür sorgen, dass Jessica keine Probleme bekommt.«
»Und Cassie? Jessica hat mir erzählt, dass Sie ihr den Pegasus versprochen haben. Das können Sie nicht tun. Der Pegasus bedeutet nichts Gutes.«
»Wenn Cassie sich vor der Skulptur fürchtet, ist es vielleicht an der Zeit, dass sie sich ihren Ängsten stellt.«
»Der Pegasus verheißt nur Schlimmes.«
Er musterte ihr Gesicht. »Wenn Cassie nach der Skulptur sucht, wird sie wohl kaum negative Gefühle damit verbinden, oder?«
Melissa antwortete nicht darauf. »Wenn die Skulptur sich im Museum d’Andreas befindet, wie wollen Sie dann daran kommen? Sie wird garantiert rundum gesichert sein.« Sie zuckte die Achseln. »Wieso zerbreche ich mir überhaupt den Kopf darüber? Sie werden sowieso nicht in der Lage sein, das Versprechen zu halten, das Sie Jessica gegeben haben. Wahrscheinlich werden wir schon in Amsterdam geschnappt.«
»Das wäre Ihnen wohl am liebsten, was?«
»Allerdings. Was wollen wir überhaupt in Amsterdam? Wird man dort nicht als Erstes nach Ihnen suchen?«
»Ja. Aber ich habe dort etwas Wichtiges zu erledigen. Ich muss meinen Freund aufsuchen.«
»Sie haben einen Freund? Der kann Sie aber noch nicht lange kennen.«
»Doch, mein ganzes Leben lang. Er und mein Vater waren Partner. Er hat mich mit großgezogen.« Travis lächelte. »Er sagt, er mag mich, aber wahrscheinlich will er bloß nicht zugeben, dass er bei meiner Erziehung versagt hat.«
»Das ist mehr als wahrscheinlich.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Ich lasse Sie nicht damit durchkommen, Travis. Einem Scheißkerl wie Ihnen werde ich mich nicht ausliefern, und auch Cassie werde ich vor Ihnen beschützen. Sobald ich eine Möglichkeit finde, Ihnen zu entkommen, werde ich Andreas anrufen und dafür sorgen, dass er Sie zu fassen kriegt, bevor Sie wissen, wie Ihnen geschieht.«
»Ich mag vielleicht ein Scheißkerl sein, aber zumindest lasse ich Sie nicht im Stich. Ich hätte Sie alle in Virginia zurücklassen und allein mit dem Hubschrauber verduften können. Das wäre wesentlich einfacher gewesen.«
»Es wundert mich, dass Sie das nicht getan haben.«
»Ich habe Jessica ein Versprechen gegeben.« Er verzog das Gesicht. »Auch wenn Sie mir das nicht abkaufen, ich würde mir selber nicht mehr ins Gesicht sehen können, wenn der Kleinen bei der Geschichte etwas zustoßen würde.«
»Sie haben Recht, das kaufe ich Ihnen nicht ab.« Melissa ließ ihn stehen. Von wegen kühler Kopf und Überzeugungskraft. Sie hätte nicht aus der Haut fahren dürfen. Dann hätte sie vielleicht die Chance gehabt, ihn umzustimmen. Also tu, was du ihm angedroht hast. Finde eine Möglichkeit zu entkommen. Cassie war das Band, das sie alle zusammenhielt. Sie brauchte nur das Band durchzuschneiden, dann konnten sie alle ihrer Wege gehen.
Aber wie sollte sie das anstellen?
Während der letzten vier Alpträume war es ihr zwar
gelungen, sich ein bisschen weiter von Cassie zu lösen,
aber es ging nur sehr langsam. Bisher hatte sie das nicht beunruhigt, weil sie geglaubt hatte, ihr bliebe noch reichlich Zeit.
Aber die Zeit lief ihr davon. Wie schnell nach ihrer Ankunft in Amsterdam würde Travis sich um den Pegasus kümmern? Eigentlich dürfte es ihm nicht möglich sein, an die Skulptur heranzukommen, aber, verdammt, eigentlich war es auch unmöglich gewesen, sie aus Juniper
rauszubringen. Die Hindernisse waren schier
unüberwindbar gewesen.
»Nun, haben Sie meinem armen Freund ordentlich die Leviten gelesen?«
Melissa drehte sich um und zuckte zusammen. Er war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber diese Augen waren unverwechselbar. »Sie sind Sean Galen.«
»Habe die Ehre.« Sie stellte fest, dass er mit einem leichten britischen Akzent sprach. »Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie sich an meine Wenigkeit erinnern. Aber eigentlich hätte ich wissen müssen, dass ich auch durch den Schleier eines Drogenrauschs einen unvergesslichen Eindruck mache.«
»Wer hat behauptet, ich sei im Drogenrausch gewesen? Jessica?«
»Nein, aber die Anzeichen waren ziemlich eindeutig.«
»Ich stand nicht unter Drogen.« Sie setzte sich auf das Sofa. »Was mir sagt, dass Sie kein besonderes Talent im Deuten von Anzeichen sind, nicht wahr? Woher wissen Sie, dass ich mich mit Travis angelegt habe? Ich habe Sie nicht gesehen.«
»Ich war im Cockpit und habe zufällig die Tür geöffnet, als Sie ihn gerade in der Mangel hatten. Da ich ein äußerst diskreter Mensch bin, habe ich mich still verhalten, bis Sie davongestürmt sind. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?«
»Nein, ich möchte mich ausruhen.«
»Sie sehen aber ziemlich ausgeruht aus.«
»Haben wir nicht gerade festgestellt, dass Sie im Deuten von Anzeichen eine Niete sind?«
»Autsch.« Er verzog das Gesicht. »Da ich nicht zugeben kann, Unrecht zu haben, muss ich wohl annehmen, dass Sie versuchen, mich loszuwerden.«
»Das müssen Sie allerdings.«
Er legte den Kopf schief und sah sie fragend an. »Warum? Die meisten Leute reißen sich um meine Gesellschaft.«
»Damit Sie sie nicht erschießen?«
Sein Lächeln verschwand. »Oh, das hat gesessen. Und dabei dachte ich, wir würden uns gut verstehen. Warum haben Sie das gesagt?«
Sie wandte sich ab. »Sie sind ein Freund von Travis. Jessica hat gesagt, Sie waren in Vasaro dabei und haben ihm auch bei der Flucht aus Juniper geholfen. Ich kann zwei und zwei zusammenzählen.« Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Wenn Sie nichts dagegen haben, ich würde mich gern ein bisschen ausruhen.«
»Ich werde Sie gleich in Frieden lassen.« Er hockte sich neben das Sofa. »Nur noch eine Frage.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie noch für Fragen haben sollten. Sie haben doch sicherlich meine ganze Auseinandersetzung mit Travis gehört, während Sie sich so diskret im Hintergrund gehalten haben.«
»Ja, und sie war äußerst interessant. Ich habe vor, Travis später nach den Einzelheiten auszuquetschen. Aber meine Frage hat nichts mit Travis zu tun.« Er sah sie ernst an. »Als ich Sie ins Flugzeug getragen habe, haben Sie mich angesehen und gesagt: >Nein, nicht. Lass ihn nicht, Jessica.< Was haben Sie damit gemeint?«
»Woher soll ich das wissen? Ich war nicht ganz bei mir.« Sie senkte ihren Blick. »Von jemandem, der sich im Drogenrausch befindet, können Sie schließlich keine vernünftigen Gedanken erwarten.«
»Touche.« Er stand auf. »Geschieht mir recht. Man soll einem Fremden niemals intime Fragen stellen.«
»Das war keine intime Frage.«
»Nicht?« Er lächelte. »Sie kam mir aber so vor. Macht nichts, ich komme später noch mal drauf zurück.«
Sie sah ihm nach, als er wegging. Ihr erster Eindruck war richtig gewesen. Galen war ein sehr gefährlicher Mann, und je weniger sie mit ihm zu tun hatte, umso besser. Am besten, sie beachtete ihn gar nicht.
Sie sollte lieber an Cassie denken.
Das Band durchtrennen.
Aber wie?
Es musste eine Möglichkeit geben, Cassie die Kontrolle über diese Alpträume abzuringen. Die Kleine war stark, aber ihre Einsamkeit war jedes Mal so deutlich zu spüren
Warum sollte sie sich ausgerechnet im allerschlimmsten Augenblick mit Cassie verbinden? Am besten, sie wartete nicht ab, bis sie wieder in einen Alptraum hineingezogen wurde; sie sollte versuchen, sich Cassie während eines sanfteren Traums zu nähern.
Sie war verrückt. So etwas hatte sie noch nie probiert, und die Vorstellung machte ihr Angst. Sie hatte noch nicht einmal die geringste Ahnung, ob es überhaupt funktionieren würde. Doch wenn Cassie es schaffte, Melissa aus dem Tiefschlaf in ihren Tunnel zu zerren, warum sollte es ihr dann nicht gelingen, aus eigener Kraft in den Tunnel zu gelangen?
Vielleicht, weil es auch für so etwas bestimmte Regeln gab?
Regeln waren dazu da, dass man sie umging.
Sie musste es versuchen. Cassie schlief, die Gelegenheit war denkbar günstig.
Melissa schloss die Augen. Wie zum Teufel stellte man so etwas an?
Konzentrieren .