Andreas schwieg, als Jessica geendet hatte.

Als er endlich Worte fand, klang seine Stimme belegt.

»Sie glauben also, sie hätte sterben können?«

»Wenn das nicht meine Befürchtung gewesen wäre, hätte ich Travis nicht ins Haus geholt.«

»Mein Gott.« Erneutes Schweigen. »Was zum Teufel passiert mit ihr?«

»Das genau versuche ich zu ergründen.«

»Ich möchte bei ihr sein. Es macht mich verrückt, tausende Meilen von ihr entfernt zu sein.«

»Sie könnten ihr nicht helfen, Sir.«

»Aber Travis hat ihr geholfen.«

»Es besteht kein Zweifel, dass er ihr das Leben gerettet hat.« Sie holte tief Luft. »Möglicherweise werde ich ihn wieder brauchen.«

»Ich wollte ihn von ihr fern halten. Ich dachte, seine Anwesenheit würde ihre Alpträume noch verschlimmern.«

»Schlimmer könnten sie nicht sein.«

Wieder schwieg der Präsident. »Dann benutzen Sie ihn. Benutzen Sie jeden oder alles, was nötig ist. Ich werde veranlassen, dass man ihm den Befehl erteilt, sich zu Ihrer Verfügung zu halten.«

Das würde Travis gefallen. »Ich danke Ihnen, Sir. Ich bin sicher, dass es die richtige Entscheidung ist.«

»Es geht ihr immer schlechter«, stieß er hervor. »Warum können wir nichts tun? Warum sitzen wir da und vergeuden unsere Energie, während sie -«

Sie konnte den Schmerz in seiner Stimme nicht ertragen. »Ich weiß, was Sie empfinden. Vielleicht ... könnten Sie sich entschließen, mich mit ihr nach Vasaro fahren zu lassen.«

»Nein! Auf keinen Fall. Ich mag vielleicht verzweifelt sein, aber ich bin nicht verrückt.«

»Ich denke, es könnte -«

»Nein.«

Sie seufzte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er den Vorschlag annehmen würde, aber sie musste es trotzdem versuchen. Es wäre ein radikaler Schritt, gefährlich sogar, aber sie war ebenso verzweifelt wie Andreas. »Ich wünschte, Sie würden es wenigstens in Erwägung ziehen.«

»Eher würde ich in Erwägung ziehen, sie von einem anderen Arzt behandeln zu lassen.« Er sagte etwas zu jemandem im Hintergrund, dann sprach er wieder ins Telefon. »Ich muss Schluss machen. Ich werde bei einem Empfang im königlichen Palast erwartet. Wenn Sie bei Ihrem nächsten Anruf keine besseren Nachrichten für mich haben, komme ich zurück und suche mir jemanden, der Cassie helfen kann.« Er legte auf.

Seine Drohung schreckte Jessica nicht. Sie wusste, dass sie seinem Kummer über eine scheinbar ausweglose Situation entsprang. Wenn sie glaubte, jemand anders könnte Cassie besser helfen, würde sie nicht zögern, diese Person selbst hinzuzuziehen.

Aber er hatte Recht - in letzter Zeit hatten sie alle ihre Energie damit vergeudet, den Status quo aufrechtzuerhalten.

Ich liebe es, den Status quo zu durchbrechen.

Vielleicht wäre es das Beste, Travis noch stärker ins Spiel zu bringen.

Vielleicht aber auch nicht. Irgendetwas musste sich jedenfalls ändern. So konnte es nicht weitergehen mit Cassie. Jessica musste jede Möglichkeit in Betracht ziehen, die Cassie helfen konnte.

Müde stieg sie die Treppe hinauf. Zeit, nach der Kleinen zu sehen und ein bisschen Schlaf zu bekommen.

Vor der Tür zum blauen Zimmer blieb sie stehen.

Jede Möglichkeit.

Melissa.

Melissa war ebenso erschöpft wie Cassie, War die Verbindung zwischen den beiden so stark geworden?

Die Vorstellung war absurd, verrückt, beängstigend, lief jeder Logik zuwider.

Jede Möglichkeit.

Nicht jetzt. Sie musste sich Zeit geben, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen.

Morgen ...

»Was duftet denn hier so lecker«, fragte Melissa, als sie in die Küche kam. »Gott, hab ich einen Hunger.«

»Huevos rancheros.« Jessica blickte über ihre Schulter.

»Aber du hast es vermasselt. Ich wollte dir dein Frühstück ans Bett bringen.«

»Du weißt doch, dass ich es nicht ausstehen kann, ewig im Bett rumzuliegen.« Melissa trat an den Kühlschrank und nahm den Orangensaft heraus. »Wie geht’s Cassie?«

Jessica legte zwei Würstchen auf den Teller mit den Eiern. »Sag du’s mir.«

Melissas Lächeln verschwand. »Ich habe keine Ahnung. Und wenn ich eine Vermutung äußern würde, würdest du mir sowieso nicht glauben.« »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.« Jessica füllte ein Glas mit Orangensaft und setzte sich an den Tisch. »Komm, iss was.«

»Das lass ich mir nicht zweimal sagen.« Melissa nahm Platz und begann zu essen. »Wunderbar. Morgen mach ich Frühstück.«

»Du kannst doch gar nicht kochen.«

»Klar kann ich kochen. Ich habe eine Menge gelernt, seit ich mit dem Studium angefangen habe. Eine eigene Wohnung zu haben macht sehr selbstständig.« Sie trank einen Schluck Saft. »Ich hätte schon viel früher kochen gelernt, aber es schien dir Spaß zu machen, alles in der Hand zu haben und dich um mich zu kümmern.«

»Ich bin es einfach gewöhnt -«

»Ich weiß.« Melissa grinste. »Und ich werde immer die kleine Schwester bleiben, die sich im Wald verirrt hat. Mir soll’s recht sein. Hauptsache, es macht dich glücklich.«

Jessica war bestürzt. Melissas Ton klang beinahe herablassend. »Es war nie meine Absicht, dich zu behandeln wie -«

»Du behandelst mich genau richtig.« Sie biss ein Stück Wurst ab. »Und du machst ein fantastisches Frühstück. Wie geht’s denn nun Cassie?«

»Gut. Nicht so gut wie dir, aber so normal, wie es im Moment möglich ist.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schaute Melissa an. »Letzte Nacht hatte ich Angst, ihr könntet beide sterben.«

»Ich weiß.« Sie langte nach ihrem Saftglas. »Ich wusste, dass du Angst hattest, als du zum ersten Mal in mein Zimmer kamst, aber ich konnte dir nicht helfen. Ich war ziemlich fertig.«

»Mir helfen? Du warst doch diejenige, die Hilfe -« Sie holte tief Luft. »Was ist letzte Nacht mit dir passiert?«

Melissa schaute in ihr Glas. »Was möchtest du von mir hören? Wenn es Lügen sind, erzähl ich dir Lügen. Ich bin mir nicht sicher, ob du so weit bist, die Wahrheit zu verkraften.«

»Ich bin bereit, mir alles anzuhören, was du mir zu sagen hast. Vielleicht hast du es schon vergessen, aber ich bin zu dir gekommen, um dich um Hilfe zu bitten.«

»Ich erinnere mich nur daran, dass du Angst hattest. Ich war zu dem Zeitpunkt reichlich beschäftigt.« Sie sah Jessica an. »Aber da du dich in deiner Not an mich gewandt hast, nehme ich an, dass du mir zumindest bis zu einem gewissen Punkt glaubst.«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Aber Andreas hat mir mal gesagt, er würde sogar einen wild gewordenen Derwisch um Hilfe bitten, wenn das seiner Tochter helfen würde. Ich würde dasselbe tun, um sie am Leben zu erhalten.«

»Ich bin kein wild gewordener Derwisch, und ich weiß nicht mal, was ich tun kann. Ich hatte gehofft, mehr Einfluss nehmen zu können, aber es war, als würde ich von einem Tornado hinweggefegt. Sie hat mich einfach mitgerissen.« Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Wenn Travis nicht gekommen wäre .«

»Du hast gemerkt, dass er da war?«

»Wie hätte ich das nicht merken können? Er war ebenso stark wie Cassie. Er hat sich zwischen sie und die Monster gestellt.«

»Monster?«

»Ich sehe sie als Monster. Sie haben Augen, aber kein Gesicht.«

»Die Angreifer in Vasaro trugen Skimasken.«

Melissa nickte. »Das würde es erklären.«

»Erzähl mir, wie es ist.«

»Schrecken. Angst. Wir sind in einem langen, dunklen Tunnel, und da geht es uns eigentlich gut, aber die Monster haben es geschafft hereinzukommen. Sie jagen uns, und wir wissen, dass sie uns erwischen werden, wenn wir nicht .«

»Wenn ihr nicht was?«

»Ich weiß nicht. Die Angst schnürt ihr das Denkvermögen ein. Was sie auch immer suchen mag, sie kann es nicht finden. Und es gibt nur eine andere Möglichkeit, ihnen zu entkommen.«

»Blödsinn. Sie kann zu uns zurückkommen.«

»Diese Möglichkeit kommt für uns nicht in Betracht.«

»Mal sagst du sie, und mal sagst du wir. Im Moment bist du nicht mit ihr verbunden, stimmt’s?«

Melissa schüttelte den Kopf. »Aber die Verbindung war sehr intensiv, und auch die Erinnerung ist intensiv. Ich werde nicht versuchen zu - du siehst mich an, als wäre ich verrückt.«

»Warum sollte ich annehmen, du seist verrückt? Ich bin die Ärztin, und ich bin diejenige, die das alles hinnimmt, als wäre es vollkommen normal.«

»Nein, das tust du nicht. Du nimmst das alles nur zur Hälfte ernst und versuchst, eine vernünftige Erklärung dafür zu finden. Anders damit umzugehen würde deinem Naturell zuwiderlaufen.« Sie lächelte. »Hab ich Recht?«

»Ich liebe dich.« Jessica legte ihre Hand auf Melissas.

»Es macht mir Angst, dass du -«

»Das einzige, das dich ängstigen sollte, ist, was passiert, wenn es uns nicht gelingt, Cassie aufzuhalten. Ich bin nicht verrückt. Ich bin einfach in einen Tornado geraten und hoffe, dass er sich wieder legt.« Sie drückte Jessicas Hand. »Am Ende, als Travis kam, fühlte ich mich stärker, und ich fing an zu denken, anstatt nur zu fühlen. Wenn ich es schaffe, ein Stück weit die Kontrolle zu übernehmen, kann ich den Tornado vielleicht aufhalten.«

»Gott, das hoffe ich.«

»Aber ich brauche Michael Travis, Jessica. Ich bin nicht stark genug, um allein um Cassie zu kämpfen. Er muss zwischen uns stehen.«

»Du redest ja von ihm, als sei er eine Art Medium.«

»Ich weiß nicht, warum er in der Lage ist, Cassie zu helfen. Du hast ihn geholt, weil ich dir gesagt habe, dass du etwas finden musst, um den Ablauf zu unterbrechen. Es hat funktioniert. Er hat funktioniert. Später werden wir vielleicht ohne ihn zurechtkommen, aber jetzt ist es noch zu früh. Bring ihn dazu, dass er uns hilft, Jessica.«

»Oh, dazu brauche ich mich gar nicht besonders anzustrengen. Er findet die ganze Sache äußerst interessant, und ansonsten langweilt er sich hier im Moment nur.« Sie verzog das Gesicht. »Aber er ist ein harter Brocken.«

»Das hab ich gemerkt.« Melissa stand auf. »Und jetzt gehe ich ein bisschen joggen, bevor ich mich in meine Bücher vertiefe.« Sie hauchte ihrer Schwester einen Kuss auf die Stirn. »Arme Jessica. Ich weiß, wie schwer dir das alles fällt. Aber es wird alles gut werden.«

Melissa behandelte sie wie ein Kind. Und Jessica fühlte sich auch tatsächlich so verwirrt wie ein Kind. Was Melissa gesagt hatte, überstieg ihre Vorstellungskraft, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen.

»Nur noch eine Frage. Was wäre mit dir passiert, wenn ich Travis heute Nacht nicht geholt hätte?«

Melissa antwortete nicht gleich. »Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher, wie es funktioniert. Aber ich glaube, ich hätte mich am Ende nicht befreien können.«

»Am Ende?«

Sie ging zur Tür. »Wenn Cassie gestorben wäre, hätte sie mich mitgenommen.«

Melissa klopfte an die Tür des Torhauses. »Die Sonne scheint, und die Vögel zwitschern. Komm raus, und spiel mit mir, Michael Travis.«

Travis riss die Tür auf. »Wie bitte?«

»Falls Sie das Häufchen Elend nicht wieder erkennen, das Sie letzte Nacht in meinem Bett gesehen haben - ich bin Melissa Riley.«

»Oh, ich erkenne Sie durchaus.«

»Dann ziehen Sie sich um und kommen Sie raus, um mit mir zu joggen. Sie laufen doch gewöhnlich um diese Zeit, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich warte hier.« Sie ging ins Haus und ließ sich auf das Sofa fallen. »Das ist ein gemütliches Haus. Jessica und ich haben als Kinder immer hier gespielt. Beeilen Sie sich, ja? Ich hab heute noch viel zu tun.«

Er lächelte. »Ich werde mich bemühen, Sie nicht zu lange warten zu lassen.« Dann verschwand er im Schlafzimmer.

Mellie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Auf dem Esstisch ein offener Laptop, stapelweise Bücher auf dem Couchtisch. Abgesehen davon schien er sehr ordentlich zu sein. Sie hatte nichts anderes erwartet. Ein gut organisierter Mann.

Sie beugte sich vor und überflog die Buchtitel. Sie lächelte. Intelligent. Sehr intelligent.

Sie trat ans Fenster und schaute zum Herrenhaus hinüber. Wie oft mochte er wohl schon hier gestanden und zu Cassies Fenster hinübergeschaut haben?

»Fertig.« In Shorts und einem Oxford-University-T-Shirt kam er aus dem Schlafzimmer. »Es sei denn, Sie haben es sich anders überlegt, Ms. Riley?«

Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Aber was soll’s. So war sie ihm einen Schritt voraus. »Nennen Sie mich Melissa oder meinetwegen auch Mellie, so nennt mich Jessica.« Sie sprang auf, und sie gingen nach draußen. Melissa reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und schloss die Augen. »Ist das nicht ein wundervoller Tag? Merken Sie, wie das Gras riecht? Ich liebe solche sonnigen Morgen nach einem heftigen Regen. Ich könnte regelrecht . überfließen.«

»Wenn Ihnen jemand einschenken würde?«

»So ist es.« Sie öffnete die Augen und sprang die Stufen hinunter. »Wer zuerst am Teich hinter dem Haus ist.«

Mit vier Metern Vorsprung gewann sie. Atemlos lehnte sie sich an eine Weide. »Haben Sie mich absichtlich gewinnen lassen?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Sie sind gut in Form, und ich habe Sie laufen sehen.«

»Sie sind auch ziemlich gut in Form.«

Sie lachte. »Von einem anderen hätte ich es als Anmache aufgefasst.«

»Warum nicht bei mir?«

»Weil Sie zur Zeit nicht an Sex interessiert sind. Sie fragen sich, was zum Teufel ich im Schilde führe.«

»Und werde ich es erfahren?«

Sie nickte. »Ich muss erst mal Luft holen.« Sie ließ sich auf den Boden gleiten. »Was glauben Sie denn, was ich im Schilde führe?«

»Ich soll also das Reden übernehmen, bis Sie verschnauft haben?«

»Gut geraten.«

»Mal sehen.« Er setzte sich ins Gras. »Da ich Ihnen noch nie zuvor begegnet bin, ist es schwierig, Ihre Motivation einzuschätzen. Nach dem zu urteilen, was ich von fern beobachtet habe, stehen Sie und Ihre Schwester sich sehr nahe. Hat sie Sie geschickt, um mir eine Nachricht zu übermitteln?«

»Jessica übermittelt ihre Nachrichten persönlich. Und ich meine.«

»Und was ist Ihre?«

Sie sah ihm direkt in die Augen. »Wagen Sie nicht, irgendetwas zu tun, das meiner Schwester schadet.«

Er hob die Brauen. »Ich habe nicht die geringste Absicht, ihr Schaden zuzufügen.«

»Ich glaube Ihnen. Aber die Tat folgt nicht immer der Absicht. Wenn persönlicher Vorteil ins Spiel kommt, kann sich das ganz schnell ändern. Ihnen liegt nichts an Jessica. Ich bezweifle sogar, dass Ihnen etwas an Cassie liegt. Aber das ist schwer zu sagen.«

»Wirklich? Aber Sie müssen doch wissen, dass ich ihr letzte Nacht geholfen habe.«

»Niemand weiß das besser als ich.« Sie machte eine Pause. »Was Ihnen wahrscheinlich klar ist.«

Er sah sie fragend an.

»Auf Ihrem Tisch liegen drei Bücher über Parapsychologie. Eins habe ich hier nach einem Besuch zurückgelassen. Ich habe es im Torhaus gelesen, weil ich nicht wollte, dass Jessica es sah. Die anderen habe ich nie gelesen. Wie haben Sie die Bücher mitten in der Nacht herbekommen?«

»Ich habe einen der Sicherheitsleute zu einem Buchladen in D. C. geschickt, der rund um die Uhr geöffnet hat. Die Jungs sind sehr hilfsbereit, solange ich das Grundstück nicht verlasse. Ich habe mehrere Stunden lang in den Büchern geblättert.« Er lächelte. »Und da ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, wollte ich diesmal meinen morgendlichen Lauf ausfallen lassen.«

»Soll ich jetzt Mitleid mit Ihnen haben?«

»Um Gottes willen. Sie haben genug eigene Probleme.«

Sie sah ihn durchdringend an. »Dann haben Sie also in den Büchern gefunden, was Sie suchten?«

»Ich habe zufällig gehört, was Sie letzte Nacht zu Ihrer Schwester gesagt haben. Das reichte, um meine Neugier zu wecken. Also habe ich ein bisschen im Internet gesurft und mich in die Bücher vertieft.«

»Und sind zu dem Schluss gekommen, dass ich eine Irre bin.«

»Aber nicht die Einzige. Und auch nicht die Erste.«

»Wie bitte?«

»Glauben Sie etwa, Sie sind die Einzige, die zurückgekommen ist und ein gewisses Päckchen zu tragen hat?

Professor Hans Dedrick hat vier vergleichbare Fälle beschrieben. Einen in Griechenland, einen in der Schweiz und zwei in China.«

»Dedrick?«

»Trauma, Erinnerung und der Weg zurück. Es wurde 1999 geschrieben. Haben Sie es nicht gelesen?«

- Verblüfft schüttelte sie den Kopf. »Dabei habe ich alle

Bibliotheken durchkämmt auf der Suche nach ...«

»Es wurde in Großbritannien von einem Universitätsverlag herausgebracht. Wie Sie bereits bemerkt haben, bin ich Experte im Auftreiben von Informationen. Ich leihe es Ihnen aus, wenn Sie wollen.«

»Ich werde es mir selbst besorgen, sobald ich wieder an der Uni bin. Hat Jessica mit Ihnen über mich gesprochen?«

»Kein Wort. Es ist nur verständlich, dass sie Sie schützen will. Immerhin hat sie Ihrer Genesung viele Jahre gewidmet. Sie verfügen über ein ziemlich ungewöhnliches Talent, und Ihre Schwester würde nicht wollen, dass Sie falsch verstanden werden.«

Der Mann war wirklich nicht dumm. Er hatte Augen und Ohren offen gehalten und seine Schlüsse gezogen.

»Und Sie verstehen es richtig?«

»Sie meinen, ob ich es glaube? Vielleicht. Ich habe als junger Mann viele Jahre in Ostasien verbracht, und dort habe ich noch wesentlich seltsamere Dinge erlebt. Auf jeden Fall beunruhigt es mich nicht.«

Melissa musterte ihn. »Nein, es interessiert Sie lediglich. Jessica hat mir gesagt, dass Sie mit Informationen handeln, und ich kann mir vorstellen, dass Sie darin verdammt gut sind. Sie sammeln und graben und analysieren ... Sie finden das sehr aufregend, nicht wahr?«

»Ja. Da ich nunmal mit einer unstillbaren Neugier geschlagen bin, ist es zu einer Sucht geworden.«

»Und Cassie zu helfen ist der Schuss, der Ihnen die Langeweile vertreibt?«

»Ganz so abgebrüht bin ich auch wieder nicht. Ich würde die Kleine nicht benutzen, bloß um der Monotonie zu entkommen. Ich helfe ihr, sie hilft mir.« Er lachte in sich hinein. »Bis Sie auf der Bildfläche erschienen, habe ich allerdings nicht geahnt, wie interessant die kommenden Wochen werden könnten. Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Sie dieses seltsame Talent besitzen? In ihrem Buch hat Ihre Schwester nichts davon erwähnt.«

»Sie wusste nichts davon. Als sie mich ins Leben zurückgeholt hatte, war sie so glücklich, dass ich es nicht übers Herz gebracht habe, ihr die Freude zu verderben. Wären wir nicht plötzlich in diese Probleme mit Cassie gestolpert, hätte ich ihr nie davon erzählt. Sie ist nicht wie Sie. Es beunruhigt sie zutiefst.«

»Das kann ich verstehen. Sie ist eine sehr ernsthafte, pragmatische Frau.«

»Ihr bleibt gar nichts anderes übrig, als pragmatisch zu sein. Nicht dass sie keinen Humor besäße. Sie hatte kaum Gelegenheit zu -«

»Okay, okay. Ich wollte nicht schlecht über sie reden. Sie scheint eine sehr fürsorgliche Frau zu sein.« Er wechselte das Thema. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Wann haben Sie festgestellt, dass Sie auf einer anderen Wellenlänge senden?«

»Etwa fünf Monate nach meiner Rückkehr ins Leben. Es hat mich zu Tode erschreckt.« Melissa stand auf. »So, und jetzt ist Schluss mit den neugierigen Fragen. Mehr kriegen Sie nicht aus mir raus.«

»Das kann man nie wissen. Ich habe noch gar nicht richtig angefangen.« Er erhob sich ebenfalls. »Lassen Sie uns eins klarstellen. Sie wollen, dass ich mich von Ihrer Schwester und Cassie fern halte?«

»Wie kommen Sie denn auf die Idee? Cassie braucht Sie.«

»Und Sie, brauchen Sie mich auch, Melissa«, fragte er leise.

»Ja, aber ich arbeite dran.« Sie bückte sich, um die Schnürsenkel an ihrem linken Schuh zuzubinden. »Also gewöhnen Sie sich nicht allzu sehr an die Vorstellung. Früher oder später wird sich ein Ersatz für Sie finden.«

Sie richtete sich auf. »Jessica ist der anständigste Mensch auf dieser Welt. Und ich werde nicht zulassen, dass ihr jemand wehtut.« Sie hob eine Hand, als er etwas sagen wollte. »Es interessiert mich nicht, dass Sie nicht vorhaben, ihr wehzutun. Im Augenblick gibt es nichts Wichtigeres in ihrem Leben, als Cassie gesund zu machen. Wenn Cassie stirbt, wird es Jessicas Leben zerstören. Also werden Sie dafür sorgen, dass Cassie nicht stirbt. Sie werden nicht das Weite suchen, sobald sich etwas Interessanteres am Horizont zeigt. Sie werden bleiben, bis Cassie auf dem Weg der Besserung ist, und wenn es Jahre dauert.«

»Sind Sie fertig?«

»Nein. Sie müssen versprechen, dass Sie Jessica beschützen. Der Präsident hat Sie hier untergebracht, weil Sie einen sicheren Unterschlupf brauchten. Ich will nicht, dass sie von einer Kugel aus den Kanonen getroffen wird, die auf Sie gerichtet sind.«

»Ist das alles?«

»Vorerst.«

»Gut. Wer zuerst am Torhaus ist.« Er blickte sich über die Schulter um. »Und diesmal werden Sie nicht gewinnen, Melissa.«

Er hatte ihr nichts versprochen, aber damit hatte sie eigentlich auch nicht gerechnet. Es reichte, dass er wusste, was sie von ihm erwartete. »Das macht nichts.« Sie rannte ihm nach. »Ich werde dran arbeiten.«

Ich werde dran arbeiten.

Travis stand in der Tür und sah Melissa nach, wie sie die Einfahrt hinauf lief. Dieser eine Satz schien alles über Melissa Riley zu sagen. Mut im Unglück und die Entschlossenheit, mit allen Mitteln ihren Willen durchzusetzen. Andererseits umfasste dieser Satz vielleicht nicht ihre gesamte Persönlichkeit. Er hatte noch nie einen Menschen erlebt, der so vor Energie sprühte. In ihrem Buch hatte Jessica die ersten Monate nach Melissas Genesung beschrieben. Ihre Schwester hatte nicht nur eine außergewöhnliche Intelligenz an den Tag gelegt, sondern auch einen unersättlichen Lebensdurst, den Jessica auf das Bedürfnis zurückgeführt hatte, die verlorene Zeit nachzuholen. Sie hatte damit gerechnet, dass dieser Effekt nach einigen Jahren nachlassen würde.

Nun, diese Jahre waren vergangen, und Travis hatte das Gefühl, dass Jessica sich geirrt hatte. Melissa Riley war eine explosive Mischung, und ihre Persönlichkeit war komplexer, als er oder Jessica oder sonst jemand sich vorstellen konnte. Jessica hatte verhandelt und war ihm mit vernünftigen und ausgewogenen Argumenten begegnet. Melissa hatte gar nicht erst versucht zu verhandeln. Sie hatte seinen Charakter analysiert, und dann hatte sie ihn herausgefordert ... und eine Drohung ausgesprochen.

Wie unglaublich gut sie ihn in so kurzer Zeit durchschaut hatte.

Interessant .

»Was hast du mit Travis am Teich gemacht?« In Jessicas Stimme lag ein tadelnder Unterton. »Ich halte das für keine gute Idee, Mellie.«

»Das Kontaktverbot ist aufgehoben.« Melissa grinste über ihre Schulter, als sie die Treppe hinaufstieg. »Und er ist noch interessanter, als ich anfangs dachte. Er ist äußerst gescheit, und Intelligenz ist absolut sexy.«

»Der Präsident mag das Kontaktverbot vielleicht aufgehoben haben, aber ich nicht. Der Mann ist ein Krimineller, Herrgott noch mal.«

»Und deiner Meinung nach soll ich mir lieber einen Anwalt oder einen Arzt oder einen Computerfachmann suchen. Wie wär’s denn mit einem Banker?«

»Klingt nicht schlecht.«

Melissa lächelte. »Also gut. Sobald ich wieder an der Uni bin, suche ich mir einen.«

»Ich scherze nicht, Mellie.«

»Das weiß ich. Du glaubst, ich brauchte jemanden, der mich stabilisiert. Wahrscheinlich hast du Recht. Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen. Ich hab ihn nicht gefragt, ob er mit mir ins Bett gehen will. Wir sind nur ein bisschen zusammen gejoggt.«

Jessica befeuchtete ihre Lippen. »Ich hatte nicht angenommen - Ich würde nicht von dir verlangen, dass du mir sagst -«

»Ich sag’s dir trotzdem.« Ihr Lächeln verschwand.

»Ich würde nie etwas tun, was dich beunruhigt. Wenn du nicht möchtest, dass ich mit Travis laufe, war dies das letzte Mal.«

»Du hältst mich für eine Schnüfflerin.«

»Ich halte dich für eine liebevolle Schwester. Und nicht mit ihm laufen zu können, ist kein großer Verzicht. Es war wirklich nichts Besonderes.«

»So sah es aber nicht aus. Es sah eher so aus, als hättet ihr euch sehr intensiv unterhalten.«

Und es hatte sich intensiv angefühlt. Während der wenigen Minuten, die sie zusammen gelaufen waren, hatte

Melissa eine eigenartige Intimität empfunden. Und als sie am Teich miteinander geredet hatten, hatte sie die Funken, den Unterstrom, der unter jedem Wort lag, beinahe spüren können. Es war ... erregend gewesen. Er war erregend gewesen.

Nun, Gefahr war immer erregend, aber Travis konnte blitzschnell zum Feind werden.

Na und? Mit dem Feind zu spielen konnte auch stimulierend sein.

Dennoch, unter den gegebenen Umständen schien ihr das nicht die beste Möglichkeit zu sein. Sie ging weiter die Treppe hinauf. »Nein, nein, ich ziehe den Banker vor, Jessica.«