Justizministerium

Michael Travis saß auf dem Ledersofa und las, als Andreas das Büro betrat. »Diese Gesetzestexte sind ziemlich trockenes Zeug«, sagte Travis. »Kein Wunder, dass die meisten Juristen zu wünschen übrig lassen. Ihre Gehirne müssen während des Studiums verkümmert sein.«

Andreas durchquerte den Raum, trat hinter den Schreibtisch und setzte sich in seinen Amtssessel. »Hatten Sie einen guten Flug, Travis?«

»Hervorragend, danke.« Er lächelte. »Besser als mit der Concorde. Wie viel hat das die Steuerzahler gekostet?«

»Keinen Penny. Ich habe die Kosten aus eigener Tasche beglichen.«

»Wie edelmütig. Aber von Ihnen hatte ich auch nichts anderes erwartet. Sie sind eines jener äußerst seltenen, altmodischen Phänomene, ein Ehrenmann. Aber Sie hätten den Flug wirklich der Regierung in Rechnung stellen können. Ihr Leben ist nicht nur für Sie selbst und Ihre Familie wichtig, ohne Sie funktioniert dieses Land nicht.«

»Dessen bin ich mir bewusst. Aber ich hätte Sie nicht mit der Air Force One einfliegen lassen müssen. Ich hätte Sie genauso gut von Danley auf normalem Weg hierher bringen lassen können.«

»Sie wollten mich nicht gegen sich aufbringen, obwohl meine Forderung übertrieben war. Sie wollten nicht unter ungünstigen Vorbedingungen in die Verhandlungen eintreten.«

»Verhandlungen?« Andreas schüttelte den Kopf. »Ich muss nicht mit Ihnen verhandeln. Ich kann Sie wegen Beihilfe zu einem Attentat auf den Präsidenten vor Gericht bringen und dafür sorgen, dass Sie im Gefängnis landen.«

»Aber das werden Sie nicht tun. Wie gesagt, Sie sind ein Ehrenmann. Sie würden nicht den Mann bestrafen, der Ihrer Tochter das Leben gerettet hat.«

»Ich würde es tun, wenn ich davon überzeugt wäre, dass Sie in Zukunft eine Gefahr für sie sein könnten. Woher wussten Sie von dem Anschlag?«

»Ich sagte Ihnen bereits, ich habe meine Quellen.«

»Wer sind diese Quellen?«

»Glauben Sie etwa, ich würde riskieren, dass Danley und seine Leute über sie herfallen wie ein Schwarm Heuschrecken? Quellen müssen geschützt werden. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt.« »Neben anderen verwerflichen Unternehmungen, soweit ich informiert bin.«

»Richtig. Auf dem Gebiet der verwerflichen

Unternehmungen bin ich Fachmann. Aber wir sind doch nicht hier, um meine Fähigkeit, Informationen zu beschaffen, zu diskutieren, oder?« Er beugte sich vor. »Sie wollen wissen, wer hinter dem Anschlag auf Vasaro steckt.«

»Und ich werde es herausfinden.«

»Nicht von mir. Noch nicht. Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich wusste nichts über den Anschlag, außer, dass er stattfinden würde.«

Andreas musterte ihn. Travis sah ihm unerschrocken in die Augen, wahrscheinlich sagte er die Wahrheit. Aber ein Mann, der seinen Lebensunterhalt mit seiner Gerissenheit verdiente, musste sich gewisse Fähigkeiten angeeignet haben und ein Meister der Täuschung und Verstellung sein. Dennoch sagte ihm sein Instinkt, dass Travis nicht log. Er war enttäuscht.

»Es wäre Ihnen lieber, ich hätte Sie angelogen«, sagte Travis. »Tut mir Leid.«

»Es könnte immer noch sein, dass Sie lügen.«

»Ja, darin bin ich sehr gut.« Travis lächelte. »Aber Sie sind auch nicht zu dem geworden, was Sie sind, ohne sich auf Ihr eigenes Urteil zu verlassen.«

Andreas nickte. »Vielleicht wussten Sie damals nicht, wer hinter dem Anschlag auf Vasaro steckte, aber möglicherweise haben Sie seitdem etwas in Erfahrung gebracht.«

»Ich war sehr beschäftigt, und diese Frage stand nicht besonders weit oben auf meiner Prioritätenliste.«

»Auf meiner steht sie an erster Stelle.« »Ich weiß. Deswegen bin ich hier.«

»Sie sind hier, weil ich Danley den Auftrag erteilt habe, Sie herzuschaffen.«

Travis lächelte.

Er war ziemlich zahm.

Als Danley ihn so beschrieben hatte, war das Andreas ziemlich merkwürdig erschienen, und als er Travis jetzt vor sich sah, kam es ihm noch unpassender vor. Der Mann war vollkommen entspannt, aber gleichzeitig war er unglaublich wachsam, auf der Hut.

»Danley ist ein intelligenter Mann«, sagte Travis. »In einer oder zwei Wochen hätte er mich vielleicht aufgespürt. Aber ich war zu dem Schluss gekommen, dass es in unser beider Interesse wäre, die Dinge etwas zu beschleunigen.«

»Warum?«

»Ich musste für eine Weile untertauchen, Sie brauchen Informationen.«

»Die Sie nicht haben, wie Sie soeben erklärten.«

»Noch nicht. Das heißt nicht, dass ich sie nicht bekommen kann, wenn ich mich darum bemühe. Es wird nur ein bisschen dauern.«

Andreas richtete sich auf. »Wie lange?«

Travis hob die Schultern. »So lange, wie es dauert. Sie haben nichts zu verlieren. Danley hat bisher nichts in Erfahrung gebracht, stimmt’s?«

»Und was erwarten Sie als Gegenleistung?«

»Schutz. Ich befinde mich zurzeit in einer heiklen Situation. Ich muss mich mindestens einen Monat lang an einem absolut sicheren Ort aufhalten.«

»Wovor soll ich Sie denn schützen?« »Vor den Nachwirkungen einer meiner >verwerflichen Unternehmungen^«

»Und welche war das?«

»Wollen Sie, dass ich herausfinde, wer hinter dem Anschlag auf Vasaro steckt?«

»Ich könnte Danley ermitteln lassen, was Sie in den vergangenen acht Monaten getrieben haben.«

»Viel Glück.«

Andreas schwieg nachdenklich. »Sie sind sich darüber im Klaren, dass die Männer, die ich zu Ihrem Schutz abstellen würde, gleichzeitig als Bewacher fungieren würden. Ich würde sie darüber informieren, dass Sie unter Verdacht stehen. Und ich würde keine Sekunde lang zögern, Sie wie eine Kakerlake zu zermalmen, wenn sich herausstellen sollte, dass Sie etwas mit dem Anschlag zu tun hatten.«

»Selbstverständlich.«

»Gut.«

»Sie sind also einverstanden?«

»Aber ja.« Andreas lächelte. »Ich weiß auch schon den passenden Ort - das Torhaus einer alten Villa in Virginia, ein absolut sicherer Ort. Und wenn irgendwelche Gangster versuchen sollten, einen Anschlag auf das Haus zu verüben, wären Sie der Erste, der ins Gras beißt.«

»Wirklich? Warum sollte irgendjemand auf die Idee kommen ...« Seine Augen verengten sich. »Cassie. Da haben Sie sie also versteckt. Ich müsste mich eigentlich geehrt fühlen, dass Sie mir offenbar genug vertrauen, um mich dorthin zu schicken.«

»Ich vertraue Ihnen nicht. Ich weiß nicht, was Sie vorhaben. Aber Sie haben ihr das Leben gerettet, und ich glaube nicht, dass Sie ihr etwas zuleide tun würden. Als

Sie mir Cassie in Vasaro übergeben haben, hat mir mein Gefühl etwas über Sie gesagt. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, hatte sie keine Angst vor Ihnen. Sie mögen vielleicht ein verdammter Hurensohn sein, aber Sie haben Ihren Hals riskiert, um sie zu retten. Und ich glaube, Sie würden es wieder tun.« Er holte tief Luft. »Und falls Sie mir hier eine krumme Geschichte auftischen, dann sind Sie der Erste, der -«

»Der ins Gras beißt«, beendete Travis den Satz für ihn.

»Ich werde es beherzigen. Wann geht’s los?«

»Morgen Nacht. Etwa um diese Zeit. Danley wird Ihnen solange ein Hotelzimmer besorgen.« Andreas schob seinen Sessel zurück und stand auf. »Ich nehme Sie mit, wenn ich Cassie besuche.«

»Wie geht es ihr?«

»Schlecht.« Seine Kiefermuskeln spannten sich. »So schlecht, dass mein so genanntes Ehrgefühl mich nicht daran hindern würde, die Verbrecher bei lebendigem Leib zu verbrennen, wenn ich sie in die Finger bekäme. Ich werde Danley sagen, dass Sie abfahrtbereit sind.«

»Noch nicht ganz.« Travis nahm sein Handy aus der Tasche. »Ich muss noch ein paar Telefonate erledigen.«

»Das können Sie vom Hotel aus tun.«

Travis schüttelte den Kopf. »Ich bin davon überzeugt, dass dieser Raum absolut wanzenfrei ist, und genau diese Privatsphäre brauche ich jetzt.« Er lächelte. »Sie haben mir schließlich nicht genau gesagt, wohin Sie mich bringen werden. Es muss doch Tausende alte Villen in Virginia geben.«

»Das ist richtig. Wen werden Sie anrufen?«

»Einen Freund. Ich verschwinde nicht gern von der Bildfläche, ohne jemanden darüber zu informieren, dass

Sie dafür verantwortlich sind. Ich möchte mich nur ein bisschen absichern.«

»Sie sagten doch, ich sei ein Ehrenmann.«

»Ich könnte mich irren. Sagen Sie Danley, es dauert nicht länger als fünf Minuten.«

»Rufen Sie an, wen Sie wollen.« Andreas ging auf die Tür zu. »Ich werde dafür sorgen, dass uns morgen niemand folgt, Travis.«

»Ich müsste schon ziemlich dämlich sein, wenn ich etwas Derartiges versuchen würde, meinen Sie nicht?« Er begann, die Nummer zu wählen. »Nur eine Sicherheitsmaßnahme. Gute Nacht, Mr. President.«

»Jessica!«

Melissa fuhr mit klopfendem Herzen aus dem Schlaf.

Ihr Hals schmerzte, sie wusste, dass sie geschrien hatte.

Das T-Shirt, in dem sie schlief, war schweißnass, doch ihr war eiskalt. Sie schwang die Beine aus dem Bett und vergrub das Gesicht in den Händen.

Sobald sie aufhörte zu zittern, würde sie Jessica anrufen, und dann würde alles gut werden. Sie konnte doch nicht ihr Leben lang zu Jessica rennen. Sie musste stark sein.

Smaragdgrüne Augen, die die Blutlache auf dem Boden anstarrten.

Sie sprang auf, ging ins Bad und trank gierig ein Glas Wasser. Dann wickelte sie sich in ihren Bademantel, schaltete sämtliche Lampen an und kuschelte sich in den Sessel vor dem Fenster.

Alles würde wieder gut werden. Sie fror noch immer, aber ihr Herz beruhigte sich allmählich. Sie konnte es schaffen. Nur noch drei Nächte, dann wäre sie zu Hause bei Jessica.

Blut auf dem Boden ... Nicht schreien. Nicht schreien. Smaragdgrüne Augen ... Bloß nicht schreien.

»Schönes Haus.« Als sie durch das Tor fuhren, betrachtete Travis das alte Backsteinhaus mit den Säulen vor dem Eingang. »Erinnert an Tara.«

»Was wissen Sie denn schon von Tara?«, fragte Andreas. »Nach dem Bericht, den Danley mir über Sie vorgelegt hat, sind Sie kaum je in den Staaten gewesen.«

»Mein Vater betrachtete sich immer als Amerikaner, auch wenn er es vorzog, nicht in diesem Land zu leben. Im Ausland ließen sich seine Geschäfte wesentlich problemloser abwickeln.«

»Schmuggel?«

Travis lächelte. »Aber nicht doch. Er war ein Romantiker. Bis zu dem Tag, an dem er starb, sah er sich als Piraten.«

»Sie dagegen sehen sich selbst als Kriminellen.«

»Er wählte seinen >Beruf< bereits als junger Mann, er liebte das Abenteuer. Ich bin mit den Schattenseiten des Lebens aufgewachsen.«

»Nicht mit dem Abenteuer?«

»Doch, natürlich. Schließlich bin ich der Sohn meines Vaters.« Sein Blick war immer noch auf die Villa gerichtet. »Dort haben Sie Cassie untergebracht? Wer kümmert sich denn um sie?«

»Zwei Schwestern und ihre Ärztin, Dr. Jessica Riley.«

»Und es ist immer noch keine Besserung in Sicht?«

»Noch nicht.« Andreas sah ihn an. »Interessiert Sie das?«

»Ist das so abwegig? Sagen wir einfach, ich habe ein berechtigtes Interesse. Ich mache äußerst ungern halbe Sachen.«

»Halten Sie sich von meiner Tochter fern. Ich möchte nicht, dass sie an irgendetwas erinnert wird, was mit jener Nacht zu tun hat.«

»Wenn es wichtig wäre, dass sie sich erinnert, brauchten Sie keine Ärztin.«

»Sie haben mich verstanden.« Die Limousine hielt vor dem Torhaus. »Halten Sie sich von Cassie fern. Ich werde Dr. Riley sagen, wer Sie sind und warum Sie hier sind. Und ich werde ihr die Anweisung geben, Sie nicht in die Nähe meiner Tochter zu lassen.«

Travis hob die Hände. »Wie Sie wünschen. Ich werde mich auf meine eigene kleine Welt beschränken.« Er stieg aus der Limousine. »Nur noch eine Kleinigkeit. Ich weiß, die Versuchung ist groß, meine Anrufe abzuhören, aber ich würde das als Vertragsbruch auffassen. Außerdem werde ich nur eine Person anrufen. Jan van der Beck in Amsterdam. Er ist mein Mittelsmann, und wenn ich von ihm hören sollte, dass Ihre Leute sich auch nur im Entferntesten verdächtig verhalten, platzt die Sache.«

»Warum erzählen Sie mir von van der Beck?«

»Sie glauben, ich verrate ihn?« Er schüttelte den Kopf.

»Ich werde dafür sorgen, dass er in Sicherheit ist.«

Andreas schwieg einen Moment lang. »Ich werde Ihr Telefon nicht abhören lassen.«

»Vielen Dank. Ich melde mich bei Ihnen.«

»Nein, ich melde mich bei Ihnen.« Andreas bedeutete seinem Fahrer weiterzufahren. »Darauf können Sie Gift nehmen.«

Travis sah dem Wagen nach, als er die geschwungene Auffahrt hinauf fuhr. Im ersten Stock der Villa brannte

Licht. War das Cassies Zimmer? Das ging ihn nichts an. Er drehte sich um und öffnete die Tür des Torhauses. Solange er sich von Cassie fern hielt und Andreas häppchenweise Informationen vorwerfen konnte, war er in Sicherheit. Das war alles, was zählte.

Das Torhaus verfügte über ein Wohnzimmer, eine Küche und ein Schlafzimmer und war gemütlich eingerichtet. Die erste halbe Stunde verbrachte er damit, das Haus nach Wanzen abzusuchen. Er fand fünf. Es gab technisch ausgeklügeltere Überwachungsmethoden, aber dazu müsste man eine Lastwagenladung an Ausrüstung heranschaffen. Außerdem würden die Secret-Service- Leute erst gar nicht versuchen, sie einzusetzen, wenn sie erfuhren, dass die Wanzen vernichtet worden waren. Eine Überwachung war nur dann sinnvoll, wenn die Zielperson nichts davon wusste.

Zum Schluss überprüfte er die Bücherregale zu beiden Seiten des offenen Kamins und fand zwei weitere Wanzen. Er lächelte, als er entdeckte, dass eine davon hinter einem Buch mit dem Titel »Zurück ins Licht« von Dr. Jessica Riley versteckt war. Nicht besonders clever. Ein Buch, das aus der Feder der Hausherrin von Juniper stammte, würde automatisch die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Er setzte sich in einen Sessel, nahm sein Handy aus der Tasche und rief van der Beck an. »Ich bin eingetroffen. Alles klar?«

»Alles klar.«

»Dann kannst du mit den Verhandlungen anfangen.«

»Bist du in Sicherheit?«

»Spiel nicht die Glucke, Jan. Du bist derjenige, der mit den Schurken verhandelt. Ich bin umgeben von Amerikas fähigsten Leuten.«

»Und das soll mich beruhigen?«

»Ich bin in Sicherheit, Jan.«

»Dann sieh zu, dass du da bleibst.«

»Ich melde mich morgen wieder.« Er legte auf und lehnte sich im Sessel zurück. Alles war arrangiert. Er hatte sein Bestes getan. Würde das reichen?

Zumindest würde Jan die Verhandlungen in Amsterdam führen. Er konnte die Menschen, denen er vertraute, an einer Hand abzählen. Wie lange war es her, dass er jemandem auf Anhieb vertraut hatte? Wahrscheinlich war ihm das zum letzten Mal passiert, als er in Cassies Alter war. Damals war ihm Zynismus noch fremd gewesen, und er hatte noch nicht gewusst, dass Gier die Menschen blind macht. Damals, als Jan und sein Vater ihn mitgenommen hatten, wenn sie nach Algerien fuhren, war das Leben noch ein einziges Abenteuer gewesen.

Er trat ans Fenster und schaute zu der Villa hinüber. Er erinnerte sich schwach an Cassies Gesicht, wie sie ihn damals in Vasaro angesehen hatte. Sie hatte ihr kindliches Vertrauen für immer verloren. Ihre Kindheit hatte ein brutales Ende gefunden.

Doch das ging ihn nichts an. Sie wurde von Experten versorgt, von dieser Dr. Riley. Bloß weil das Gefühl an ihm nagte, etwas nicht zu Ende gebracht zu haben, gab es keinen Grund, seine Position aufs Spiel zu setzen.

Er wandte sich vom Fenster ab. Er würde duschen und sich anschließend in die Falle hauen.

An der Schlafzimmertür machte er kehrt, ging zurück ins Wohnzimmer und nahm Jessica Rileys Buch aus dem Regal. Ohne besonderen tieferen Grund. Er las sich häufig in den Schlaf. Außerdem handelte er in erster Linie mit Informationen, und es konnte nicht schaden, alles über seine derzeitige Lage zu wissen.

Mit Cassie Andreas hatte es nichts zu tun.