Amsterdam

»Ich erwarte die Lieferung morgen früh, van der Beck.«

Karlstadt blickte auf die Gracht hinunter. »Und keine Tricks.«

»Dafür stehe ich mit meinem guten Ruf ein. Sie wissen, dass mir noch nie vorgeworfen wurde, ich hätte einen Kunden betrogen.«

»Es gefällt mir nicht, dass die Übergabe in dem Park stattfinden soll. Herrgott noch mal, da gibt es sogar einen Kinderspielplatz. Es werden zu viele Leute dort sein. Ich werde morgen früh um neun in Ihre Wohnung kommen.«

»Travis gefällt die Vorstellung, dass viele Menschen in der Nähe sind. Da kann man sich leichter unter die Menge mischen. Es läuft entweder im Park oder nirgendwo. Ich habe Ihnen erklärt, wie alles vonstatten gehen soll, und dabei bleibt es.«

Karlstadt presste die Lippen zusammen. »Dann rate ich Ihnen, nicht zu verschwinden, bevor ich die Ware überprüft habe.«

»Ich gehe davon aus, dass Sie uns beschatten lassen wollen, bis die Überprüfung abgeschlossen ist.« Er sah ihn an. »Ach, habe ich Ihnen eigentlich gesagt, dass Sie morgen erst die Hälfte erhalten werden? Die andere Hälfte wird Ihnen nach Johannesburg geschickt.«

»Was?«

»Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Sie werden natürlich die Hälfte der Kaufsumme heute Abend auf das Schweizer Nummernkonto überweisen, das ich Ihnen angegeben habe. Die andere Hälfte übergeben Sie uns morgen im Park.«

»Und wenn Sie auf die Idee kommen, mit der einen Hälfte abzuhauen und mich im Regen stehen zu lassen?«

»Das Risiko müssen Sie in Kauf nehmen. Aber wir wissen beide, dass Travis noch nie sein Wort gebrochen hat, und er müsste ein Narr sein, Sie zu betrügen. Er weiß, dass Sie nie aufgeben würden, nach ihm zu suchen, und er liebt das kultivierte Leben zu sehr, um irgendwo in der Dritten Welt unterzutauchen. Die einzige Frage, die Sie sich stellen müssen, lautet: Hat Travis die Ware?« Er lächelte. »Und ich bin mir ganz sicher, dass Sie sich dessen bereits vergewissert haben.«

»Er hat sie«, sagte Karlstadt heiser. »Wenn er sie nicht hätte, wären die Russen nicht hinter ihm her.«

»Was für ein Glück, dass Sie mit ihm Geschäfte machen und nicht mit diesen unvernünftigen Russen, nicht wahr?« Er wandte sich ab. »Wir sehen uns morgen früh, Karlstadt, und ich werde heute Abend das Schweizer Konto unter die Lupe nehmen.«

»Van der Beck.«

»Ja?«

»Seit einigen Stunden kommen mir unangenehme Gerüchte über Travis zu Ohren. Gerüchte, nach denen sowohl die CIA als auch der US-Geheimdienst ihm auf den Fersen ist.«

Auch van der Beck hatte davon gehört, doch er hatte gehofft, Karlstadt sei weniger gut informiert. »Ich bin sicher, dass sie jeglicher Grundlage entbehren.«

»Es interessiert mich nicht, womit Travis die Amerikaner gereizt hat. Sie sollten nur wissen, dass seine Probleme uns auf keinem Fall bei unserem Geschäft in die Quere kommen dürfen. Das fände ich sehr ärgerlich.«

»Travis würde das niemals zulassen.« Van der Beck sah ihn an. »Gute Nacht, Mr. Karlstadt.« Mit eiligen Schritten verließ er die Brücke und ging die Straße hinunter. In seinem Rücken spürte er Karlstadts Blick, doch er drehte sich nicht um. Karlstadt liebte es, andere Leute einzuschüchtern, und er hätte es sicher genossen, van der Beck nervös zu erleben.

Und dass er nervös war, daran konnte wirklich kein Zweifel bestehen. Zu viele Komplikationen waren bei der ganzen Geschichte, die er für Travis abwickelte, aufgetaucht. Mit Karlstadt wurde er fertig, aber diese Sache mit Henri Claron gefiel ihm gar nicht. Er wurde allmählich zu alt, um mit so vielen Bällen gleichzeitig zu jonglieren.

Er schaute zum Himmel auf. In wenigen Stunden würde Travis da sein, und dann konnte er die ganze Angelegenheit wieder in dessen Hände geben. Travis war jung und gerissen, so wie van der Beck gewesen war, als er noch mit Travis’ Vater zusammengearbeitet hatte.

Nur noch ein paar Stunden ...

»Du bist da.«

Melissa spürte, wie Cassies Freude und Aufregung sie in die wirbelnde Dunkelheit zog. »Ja, es scheint so. Aber ich habe lange gebraucht, um herzukommen. Es ist gar nicht so einfach, den Trick rauszubekommen.«

»Bleibst du?«

»Nein, ich bin nur zu Besuch.«

»Oh.« Enttäuschung. »Bin einsam.«

»Darüber haben wir schon oft gesprochen. Du musst nicht einsam sein.«

»Nicht, wenn du bleibst.« Pause. »Wir sind nicht ... zusammen. Wir müssen zusammen sein.«

»Nein, das müssen wir nicht. Wir sind Freunde, wir können getrennt bleiben und trotzdem Freunde sein.«

»Besser zusammen.«

Melissa spürte, wie sehr Cassie sich anstrengte, sie näher an sich heranzuziehen, sie förmlich in sich aufzusaugen. Sie war so stark. »Hör auf damit, sonst geh ich wieder.« »Du willst weggehen.« Bedauern. »Du hast es mir selbst gesagt.«

»Wenn du es mir nicht so schwer machst, komme ich wieder.«

»Zusammen sein ist nicht schwer.« Aber Cassies Bemühung, mit Melissa zu verschmelzen, ließ nach, hörte schließlich ganz auf.

»Für mich schon. Ich will deine Freundin sein, ich will dir nah sein wie deine Mama und dein Daddy.«

»Fort.«

»Sie müssen nicht fort sein.«

»Sie können nicht in den Tunnel kommen.«

»Aber du kannst rauskommen.«

»Fort.« Melissa spürte Cassies Panik. Sie kam ihr vor wie das verzweifelte Flügelschlagen eines gefangenen Vogels. »Sie können nicht kommen.«

Und Cassie wollte nicht herauskommen. Doch sie würde sich an den Gedanken gewöhnen können. Von Jessica wusste sie, dass es half, wenn man einen Patienten immer wieder an etwas erinnerte.

»Zusammen.« Erneut begann Cassie, mit aller Kraft an Melissa zu zerren.

Melissa brauchte mehrere Minuten, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Als sie es endlich geschafft hatte, war sie völlig erschöpft. »Das reicht. Ich habe dich gewarnt. Ich gehe, Cassie.«

»Nein.« Trauer. Panik. »Bleib. Ich mach es auch nicht wieder.«

»Vielleicht bleibe ich noch ein bisschen. Aber es ist langweilig in diesem Tunnel. Keine Bäume, keine Seen. Nichts Schönes ...« »Aber Sicherheit.«

»Langweilig.«

»Nicht, wenn wir den Windtänzer finden. Er wird alles wieder gut machen - Was ist los? Du hast ja Angst.«

Panik. »Kommen die Monster wieder?«

»Nein.« Melissa versuchte, die Angst fortzuschieben.

»Keine Monster. Und den Windtänzer brauchen wir nicht. Soll ich dir von mir zu Hause erzählen, Cassie? Du hast nur das eine Zimmer gesehen, aber es gibt noch viel mehr. Es gibt einen Teich und Weidenbäume und eine Laube, an der blaue Blumen ranken . «

»Mellie.« Noch schlaftrunken spürte Melissa, wie Jessica sie schüttelte. »Wach auf. Wir landen in ein paar Minuten.«

Die letzten Worte rissen sie aus dem Schlaf. Sie setzte sich auf und öffnete die Augen. »In Amsterdam?«

»Nein, bei Antwerpen. Auf irgendeinem kleinen Flughafen im Wald, der von Drogenschmugglern benutzt wird, wie Galen sagt.«

»Wunderbar. Solche Leute wollte ich immer schon mal kennen lernen.«

»Er hat dafür gesorgt, dass ein Kleinbus für uns bereit steht, mit dem wir nach Amsterdam fahren können.«

Jessica sah sie stirnrunzelnd an. »Du hast ziemlich tief geschlafen. Ich hab dich kaum wach bekommen.«

Das wunderte Melissa nicht. Sie war völlig erschöpft gewesen, als sie Cassie schließlich allein gelassen hatte. Noch immer ganz erschlagen fühlte sie sich. »Es war eine anstrengende Nacht.« Sie stand auf und ging ins Bad. Warum hatte sie Jessica nichts davon gesagt, dass sie Cassie erreicht hatte? Es hatte ihr stets widerstrebt, Jessica irgendetwas vorzuenthalten, aber in letzter Zeit schien sie immer mehr Geheimnisse vor ihrer Schwester zu haben. Später vielleicht. Sie hatte ja eigentlich nichts erreicht, und Jessica hatte schon genug Probleme damit, dass Melissa in Cassies Alpträume verwickelt war. Schon jetzt konnte sie sich ausmalen, wie entgeistert Jessica auf die Nachricht reagieren würde, dass sie Cassie in einem normalen Schlafzustand mal eben besucht hatte.

Mal eben? Bis dahin war es noch ein weiter Weg. Lediglich zu überprüfen, ob sich die Verbindung zu Cassie herstellen ließ, war schon ein gewaltiger Willensakt gewesen.

Travis und Sean Galen warteten bereits, als sie aus dem Bad kam.

»Setzen Sie sich«, sagte Travis. »Wir befinden uns im Landeanflug.«

»Wo ist Jessica?« Melissa schnallte sich an.

»Vorne bei Cassie. Sie wollte bei ihr sein, für den Fall, dass die Kleine aufwacht und sich ängstigt.«

Als könnte Jessica beurteilen, ob Cassie Angst hatte, dachte Melissa traurig. Sicher wusste sie selbst nur, dass Cassies Probleme mit der Skulptur zu tun hatten. Ihre Schwester dagegen stocherte weiter völlig im Dunkeln.

»Verraten Sie mir doch mal, wie es jetzt weitergehen soll, Travis. Ich nehme an, Sie haben alles so eingerichtet, dass wir nicht erschossen werden, sobald wir uns irgendwo blicken lassen.«

»Ach, das habe ich Galen überlassen. Falls man auf Sie schießt, beschweren Sie sich bei ihm.«

»Sie können mich mal.« Melissa lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Galen?«

»Ich habe dafür gesorgt, dass Sie drei in einem

Bauernhaus außerhalb von Amsterdam untergebracht werden. Ich habe Kontakt mit einigen meiner Leute in Holland aufgenommen. Sie erwarten uns am Flughafen und werden uns begleiten. Wir bleiben dann in dem Bauernhaus, um Sie zu beschützen, während Travis nach Amsterdam fährt, um seine Geschäfte abzuwickeln.«

»Wie lange wird das dauern, Travis?«

»Wenn es länger als acht Stunden dauert, kriegen wir alle Ärger. Die CIA-Leute werden nicht untätig sein. Es würde mich nicht wundern, wenn sie jeden Flughafen in Holland überwachen ließen.«

»Dann werden wir noch mehr Ärger kriegen«, folgerte Melissa. »Und wie geht es danach weiter?«

»Ich werde versuchen, die Skulptur aus dem Museum d’Andreas herauszubekommen.«

»Unmöglich.«

»Galen?«, fragte Travis.

»Schwierig«, murmelte Galen. »Das wird Geld kosten. Viel Geld. Du willst die Skulptur tatsächlich stehlen?«

»Ausleihen würde auch reichen. Ich würde mindestens vier Stunden brauchen, um Cassie Gelegenheit zu geben, auf die Skulptur zu reagieren.«

»Vergessen Sie es. Es wird nicht funktionieren«, sagte Melissa trocken.

»Mir ist klar, was in Ihnen vorgeht.« Travis musterte sie. »Ich kann mir nur nicht erklären, warum Sie sich so dagegen sträuben.«

»Ich habe Ihnen gesagt, warum.«

Er lächelte. »Wie gesagt, ich kann es mir nicht erklären, aber ich komme schon noch dahinter.«