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Jonathan, mein Liebster,
jetzt, da ich diese Zeile schreibe, will ich noch nicht glauben, dass Du sie je lesen musst. Jetzt, da Du sie liest, bin ich schon weit weg. Vielleicht schaue ich Dir ja auch über die Schulter. Setz Dich ans Fenster, an den Rauchtisch. Da sitze ich grad, unter mir der Ku´damm, lebenshungrig brodelnd, während einige Hundert Kilometer weiter alte Männer um ihr Leben husten. Der Professor kratzt mit seinem altmodischen Federhalter auf dem Papier.
Er hat mich gewarnt, wollte, dass ich Tabula rasa mache, zur Polizei gehe. Aber ich wollte es auf meine Art regeln.
Du hättest mich nicht schützen können, dafür ist die Welt zu klein. Solche Dinge klärt man anders – so oder so.
Wir haben zu lange aufeinander gewartet. Vielleicht hätte ich bei Dir bleiben sollen, bei Deinen müden Augen, Deinem erschöpften Lächeln, wenn Du mich in den Arm nimmst. Es wäre so einfach gewesen.
Ich weiß, jetzt rumort es in Deinem Schädel: Aber ich dachte, Du wolltest Deine Freiheit. War das nicht unsere Verabredung? Zumindest glaubte ich es und, ganz ehrlich, es war auch einfacher für mich. Und doch wünschte ich mir den Prinzen, der meine Koffer einschließt, den Schlüssel wegwirft und sagt: jetzt oder nie. Wir hätten uns wehtun sollen. Liebe ist immer auch Schmerz.
Natürlich hätte ich Dich auch zwingen können. Aber ich wollte Dich und nicht den, den ich dann aus Dir gemacht hätte. Und so blieb uns nur der lange Weg. Du mit Deiner Angst vor meiner Angst.
All die Nächte sind vergangen. Ein Teil von mir hat sich in den Ritzen Deiner Wohnung verschanzt, ein Hauch nur, hier und da ein Haar. Und jetzt musst Du die Fenster aufreißen und mich in die Welt entlassen. Es war nicht umsonst, nein. Du warst mein Leben. Jetzt lass mich ziehen.
Lily
Der Brechreiz überkam mich ohne Vorwarnung wie das Bild von Cindys Kopf zwischen meinen Oberschenkeln. Gelb, grün, bittere Galle.