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Natürlich hätte ich fragen können, fragen müssen. Sie war völlig aufgelöst, als sie plötzlich in meinem kleinen Flur stand, riss sich die Perücke vom Kopf und warf sie in die Ecke, ging dann wortlos zum Kühlschrank und goss sich ein großes Glas Martini ein.
„Kannst Du Dir vorstellen, dass ein paar Sekunden Dein ganzes Leben verändern?“
Jetzt endlich sah sie mich an. Fragend, wütend, erschöpft. Ich stand hilflos vor ihr, unsicher, ob ich sie einfach in die Arme nehmen sollte, wartete auf eine Erklärung, ein Zeichen, eine Antwort auf die Frage, was ich denn jetzt tun solle. Warten war eine meiner Stärken. Ich konnte stundenlang, tagelang warten. Also warte ich, doch Lily verschwand nach keiner halben Minute im Bad.
Zuviel Nähe, zuviel Angst. Ich hab sie in ihr Unglück rennen lassen, wollte nicht wissen. Wir haben nie darüber gesprochen, nichts verabredet, aber es gab diese stille Übereinkunft. Also schwieg ich und wartete, hoffte, sie würde irgendwann von selbst zu mir kommen. Jetzt hängt ihr Bild über meinem Schreibtisch und das Zimmer ist so leer wie all die Jahre zuvor. Sie blickt mir direkt in die Augen, im Hintergrund das Meer vor Ibiza. 14 Tage Urlaub, vor zwei Jahren. Wir hatten es gut miteinander.
Glockenspiel - bing – bang - bong. Ich stutzte einen Moment, bis ich mich erinnerte, dass es sich um meine Klingel handelte. Lily war die Einzige, die sie in der letzten Zeit betätigt hatte, bis ich ihr einen Schlüssel gab. Aber Lily war tot. Ich erwartete niemanden. Mein letzter regelmäßiger Besucher war schon vor Jahren verstorben, der Hausmeister.
Ein Irrtum, jemand hatte die falsche Klingeltaste gedrückt. Dann noch einmal. Gerade wollte ich über die Balkonbrüstung spähen, als auch noch das Handy zu summen begann.
„Machst Du mir die Tür auf oder soll ich hochklettern?“
Mader? Unschlüssig stand ich vor dem Türöffner kurz danach sie in der Diele, ebenso unschlüssig, ein wenig verlegen.
„Ein Glas Wein, ja, ich denke, das wäre jetzt gut, sehr gut sogar.“
Ich sah sie an, nickte und machte mich auf den Weg in die Küche, langsam, sehr langsam. Was sollte das?
Als ich zurückkam, saß Mader auf dem Balkon, die braunen Beine lang ausgestreckt auf der Brüstung. Ich reichte ihr ein Glas.
„Danke.“
Pause. Ich wartete, wie immer, was sollte ich auch sonst tun.
„Schön hier. Der Park, die alten Bäume.“
„Kein Park, ein Friedhof.“
„Trotzdem.“
Wir schwiegen vor uns hin.
Ihr Shirt spannte über den flachen Brüsten.
„Kann ich eine Zigarette haben, bitte.“
„Du rauchst doch gar nicht?“
„Nur wenn ich aufgeregt bin.“
Never fuck in the factory, dachte ich. Sie inhalierte rasch, fahrig, schnipste die Asche über die Brüstung. Ich wartete noch immer.
„Du hast sie gekannt.“
Keine Frage, eine Feststellung. Mader schaute auf die Linden und schien sich an der Zigarette festzusaugen. Kein Zweifel, sie meinte Lily. Aber wie konnte sie das wissen? Das Bild? Nein, Mader war noch nie hier gewesen. Oder hatte sie das Foto eben zufällig gesehen und war mit einem ganz anderen Ziel bei mir eingekehrt? Ich nippte an meinem Wein, Zeit gewinnen.
Dann sprudelte es aus ihr heraus. Der Morgen, als ich mich zu Lily kniete, die Haarsträhne, meine Schweigsamkeit, meine Erleichterung als Ferdinand das Betäubungsmittel nachgewiesen hatte. Und dann die Fotos, langsam hätte alles einen Sinn ergeben, auch warum ich mich so anders als sonst verhalten habe. Ich, der Advocatus Diaboli, der immer dagegen hielt oder schwieg, griff plötzlich nach jedem Strohhalm, um aus dem Fall einen Mordfall zu machen.
„Unten vor der Tür dachte ich trotzdem noch, das Ganze könnte ein Irrtum sein, eine andere Frau, die ihr ähnlich sah. Mehr nicht. Aber Du hast ein paar schöne Bilder in Deinem Wohnzimmer. Eigentlich nur eins.“
Lilys Foto! Aus die Maus.
„Und jetzt?“
Sie sah mich an: „Jetzt bist Du dran.“
„Ich müsste den Fall abgeben.“
Sie drehte sich zu mir, lächelte. Ihre Augen sagten: Soweit sind wir noch nicht.
„Oder wir ziehen das zusammen durch, ohne Geheimnisse. Woher soll ich wissen, wen Du noch alles kennst?“