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Die Luft lag schwer und heiß in den Straßen, kroch durch die Ritzen der Häuser. Kein kühlender Nachtwind, selbst aus der Dusche ergoss sich nur noch ein Schwall lauwarmen Wassers.
Ich fühlte die Stoppeln an Kinn und Wangen, spürte mit den Fingerspitzen die tiefer gewordenen Falten.
Die Nacht hatte weder Schlaf noch Abkühlung gebracht. Schweißströme lösten Bilderfluten ab. Weder Schnaps noch der Versuch, die Bilder mit Bildern auszulöschen, brachten die erhoffte Leere, um endlich Schlaf zu finden. Auch der Porno hatte keine Erleichterung gebracht, und für eine schnelle Nummer fehlte mir das Geld.
Jetzt vorm Spiegel war sie plötzlich da, die erhoffte, erbetene Leere. Ich starrte durch mein Spiegelbild hindurch und alles, was ich wahrnahm, war ein schaler Geschmack im Mund. Die Phasen werden immer länger, anfangs nur ein, zwei Sekunden, konnte ich schon bald nicht mehr sagen, wie lange ich so verharrte. Irgendwann wird er da sein, der Morgen, an dem die Verwandlung vollzogen ist. Dann und wann überkam mich noch die Angst vor jenem Moment und trieb mir kalten Schweiß auf die Stirn. Was, wenn alles gedacht, erlebt zu sein scheint und auch die Angst vor der letzten Minute mich verlassen haben würde.
Ich hatte es zugelassen, kraftlos zugesehen, wie mein Leben langsam an mir vorbeizog, bis ich zur eigenen Rechtfertigung auch noch die banalste aller Begründungen für akzeptabel hielt: So ist das Leben. Aschgrau, verhärmt mit Tränensäcken und gefangen in einer bleiernen Müdigkeit.
Sie fehlte mir, jeden Tag und jede Nacht. Keine Nachricht, kein Anruf, nichts. Vielleicht hatte ich den Rubikon schon überschritten, die letzte Chance verpasst. Aus der Traum, den ich mit Millionen teilte, bis es zu spät war.
Nachtgespenster, die regelmäßig nach dem ersten Kaffee auf dem Balkon verflogen und durch nichts ersetzt wurden, wenn ich wieder Halt in meiner Zelle fand. Ein Leben auf vier mal fünf Metern, mit Regalen voller Leitzordner. Fälle aus fünfzehn Jahren. Meine Fälle, die Fälle von Jonathan Gallert, Kriminalhauptkomissar. Ein Leben gepresst zwischen schwarzgraue Aktendeckel. Natürlich, ich hätte es schlechter treffen können. Irgendwas mit Konjunkturflauten, aberwitzigen Märkten, Finanzkrisen, die einen von jetzt auf gleich den Job kosten können. Egal, wie die Börsen ticken, irgendwer tickt immer aus. Die einen liegen einfach nur friedlich da, andere wirken verkrampft, haben verzweifelt dagegen angekämpft. Alte und junge, die noch nicht einmal stehen konnten. Ich bin ihre zweite Existenz, ihr Leben nach dem Tode. Erst fressen sie sich durch meine Augen in meinen Kopf. Dann verfallen sie scheinbar in Apathie, verstecken sich, versuchen nicht aufzufallen. Das kann Tage, Wochen, Monate dauern. Aber nie ewig. Irgendwann kommt sie, diese erste Nacht, in der sie zum Leben, zu neuem Leben erwachen. Unangekündigt, ohne jede Vorwarnung fallen sie über mich her.
„Schlaf Kindchen, schlaf …“
Ich hatte an der Kordel gezogen und sofort setzten sich die Walzen irgendwo im Bauch des Teddys in Bewegung: „Schlaf Kindchen, schlaf …“.
Mitten im Zimmer lag das Baby. Auf einer roten Decke. Die Lippen aufgeplatzt, der rechte Oberschenkel, gerade mal handtellergroß, nur noch ein schwarz-blauer Fleck. Das linke Ärmchen doppelt abgewinkelt, spitz stieß die gebrochene Elle durch die Haut. Und er stand da, die Arme vor der Brust, reglos: „Er hat geschrien. Immerzu. Die ganze Zeit.“
Monatelang glaubte ich, die Welt wäre voller Spieluhren. In jeden Moment der Ruhe drängte sich die Melodie und mit ihr das Bild aus dem Kinderzimmer.