33

Die Vergangenheit bestimmt unsere Zukunft. Wer versucht, ihr zu entfliehen, wird unweigerlich an ihr zerbrechen. Ich kannte meine Dämonen, wir waren auf Du und Du.

Lily saß mir gegenüber, die Zeitung verdeckte ihr Gesicht.

„Jonathan, sag mal, was wäre eigentlich, wenn wir zufällig mal jemanden treffen, der Dich kennt und Du mich vorstellen musst?“

Sie ließ die Zeitung sinken und sah mich an. Ich rührte in meiner Tasse und dachte nach.

„Wie wäre es mit: Das ist die Frau, mit der ich alt werde!“

Lily lächelte: „Und wenn wir gefragt werden, womit ich mein Geld verdiene?“

„Ganz einfach: Sie hat lange Zeit für viel Geld reiche Männer gefickt.“

Sie riss empört die Augen auf.

„Deine Worte!“

„Niemals!“

Ihr Gesicht verschwand wieder hinter der Zeitung.

„Sag mal, bist Du manchmal eifersüchtig?“

Statt einer Antwort wanderte meine linke Augenbraue langsam nach oben, das musste reichen, für Schwüre war es noch zu früh.

Lily legte die Zeitung weg, kam um den Tisch und setzte sich auf meinen Schoß: „Dazu besteht auch kein Anlass. Lass mir noch etwas Zeit.“

Lilys Leben war weitgehend tabu. Darin ähnelten wir uns. Wir hatten beide keine Jobs, über die man gern am Frühstückstisch plauderte. Das verband und zwang uns zu einem eigenen Leben, das gefüllt werden wollte und nicht im ewig lamentierenden Wiederholen alltäglicher Bürogeschichten dahin floss. Unser Alltag blieb da, wo er hingehörte: draußen vor der Tür. Eine Illusion von bescheidener Dauer? Ich wusste es nicht und dachte kaum darüber nach.

Wenn sie da war, übernahm sie die Wohnung, als wäre es ihr zu Hause. Lily putzte, kochte oder saß auf dem Balkon. Und sie war randvoll mit Leben. Zu ihrem Reisegepäck gehörte eine kleine Leihbibliothek. Sie zwang mich zu lesen, schleppte mich durch Galerien und referierte über Vernissagen und Ausstellungen in halb Europa. Sie zeigte mir eine Welt jenseits der genormten Aktendeckel und des alltäglichen Elends. Auf meinem Fernseher bildete sich eine Staubschicht ich hatte nur selten einen Kater. Den Karton mit den Freitagspornos hatte ich unterm Bett verstaut, Lily rührte ihn nicht an und putzte gut sichtbar um ihn herum.

Poes Gruselkabinett, Kafkas tiefe Verzweifelung, der kotzende Benn mit seiner unerfüllbaren Sehnsucht, die ihn unstet durch die Zeiten treiben ließ. Für Lily waren sie ungestellte Frage und lang gesuchte Antwort zugleich. Sie waren sich nah, all die verpfuschten Existenzen jenseits tariflich geregelter Arbeitszeiten, denen eine geheime Sehnsucht innewohnte, eine Sehnsucht nach Beständigkeit, der sie zugleich zu entfliehen suchten. Für sie war Scheitern der wirkliche Beweis, gelebt zu haben, alle anderen warteten nur auf den Tod.

Zugegeben, es gab Tage, da wünschte ich mich in die beschauliche, überschaubare Existenz meiner Zelle zurück, klar strukturiert mit Reißleine und doppeltem Boden.

Mit Lily begann jeder Morgen mit einer intensiven Zeitungslektüre, deren ungekrönter Höhepunkt in der Kritik der Kunstkritik bestand. Kritiker brachten ihr Blut in Wallung und sie drosch fröhlich auf die Phrasen produzierenden Häppchenritter ein.

„Alles Mögliche wird verfolgt: Wer nackt auf der Straße läuft, kommt wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses vor den Kadi. Wer Blödsinn schreibt, kommt ungehindert davon. Das müsste doch viel eher unter Erregung öffentlichen Ärgernisses fallen! Und außerdem krieg ich Kopfschmerzen von diesem Mist!“

Ich zuckte hilflos mit den Schultern: „Der Staat muss sparen, und wer will schon das halbe Land hinter Gitter bringen.“

Die Nachrichten zeigten Rauchsäulen über Beirut, zerfetzte Körper in Israel. Vielleicht wäre es hilfreich, die Vergangenheit endlich zu begraben, vergessen zu können, um dem Wahnsinn ein Ende zu machen. Etwas Wüste, karges Land und auf beiden Seiten Menschen, die ihren kleinen Traum von Frieden, Wohlstand und Sicherheit leben wollen, bis die Fanatiker, die nichts vergessen und ewig in der Vergangenheit leben, wieder und wieder – ich schaltete den Fernseher aus.

Auf meinem Schreibtisch lagen einige Zettel, darunter die Nummer der Limited. Ein Anruf kann nichts schaden.

Ich tippte die Zahlen, ein fernes Freizeichen erklang, zehn, fünfzehn, zwanzig Sekunden. Ich legte auf. Fehlanzeige.

Und wenn irgendwann eine Mailbox rangeht? Zweiter Versuch, Wahlwiederholung. 15, 20, 25 Sekunden.

Dann, ein kurzes Knacken: „Hallo, sorry I am not available at the moment, please leave a message after the beep.”

Ich legte auf und spürte einen stechenden Schmerz hinter den Schläfen.

Nein, ein Irrtum, eine Verwechselung. Das konnte nicht sein. Völlig ausgeschlossen.

Ich drückte die Wahlwiederholung, wartete auf das Knacken: „Hallo, sorry I am not available at the moment, please leave a message after the beep.”

Gallert, du hast sie nicht mehr alle! Die Hitze, du schaffst das nicht. Lass Mader weitermachen und ruh dich aus. Als Nächstes wirst Du allen dunkelhaarigen Frauen mit kurzem Haar hinterher rennen, sie an der Schulter packen, um kurz darauf „Verzeihung“ zu murmeln.

Sie ist tot, kommt nie mehr zurück und hat dir auch nichts hinterlassen. Nicht mal die Anschrift der Finca, die sie kaufen wollte, wenn alles vorbei sein würde.

Ich ging unter die Dusche, um wieder zu mir zu kommen, doch mein Puls raste weiter.

Wahlwiederholung die Dritte. Es war Lilys Stimme, kein Zweifel: „… please leave a message after the beep.”

Irgendwo lag ihr Handy herum und versah seinen Dienst.

Andernfalls wäre die Mailbox sofort angesprungen. Vielleicht war auch nur eine Rufumleitung, die mich narrte, weil ich hoffte, etwas zu finden.

Coltan
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