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Unter meinem Balkon hielt ein Reisebus und spuckte eine Ladung fröhlicher Japaner aus. Abendlicher Rundgang durchs alte Berlin samt Besichtigung des Straßenstrichs mit anschließendem Gruppenfoto.

Vor Jahren war die Ankunft der Touristengruppen noch mit einem unüberhörbaren Klicken der Fotoapparate verbunden, dank der modernen Digitalkameras kehrte jetzt schnell wieder Ruhe ein.

Ich griff nach einem Notizblock und versuchte mich an einer Bestandsaufnahme. Was wusste ich über Lily? Was wusste ich wirklich über sie nach all der Zeit? Ich starrte auf das leere Blatt, durchsuchte mein Gedächtnis nach Anhaltspunkten, nebensächlichen Bemerkungen, Erinnerungen. Gorrman, Borrmann. Nein, es gab kein altes Protokoll, das mir helfen könnte. Nichts, obwohl sie mir in den letzten Jahren so nah wie keine andere zuvor war.

Donnerstag vor zwei Wochen: Ärger mit einem Kunden.

Vielleicht noch: blonde Perücke, keine Wohnungsbesuche, keine billigen Absteigen, feste Termine. Nichts, was auf eine vierzehn Jahre alte Bekanntschaft oder gar auf das, was ich in den letzten vier Jahren für eine feste Beziehung hielt, schließen ließ. Wenn sie kam, schliefen und lebten wir miteinander, wie zwei, die wie zufällig im Strom der Zeit aneinander vorbei trieben und für einen kurzen Moment aneinandergeklammert Halt suchten, um ihrer Einsamkeit ein Ende zu setzen. Bis es sie weiter trieb. Einzig, dass sie immer wieder kam, gab ein Gefühl von Beständigkeit, auch wenn ich mehr von der Hoffnung als dem sicheren Wissen darum lebte.

Lily sprach nur in Andeutungen über ihre Arbeit und auch das nur selten. Ich fragte nicht, da ich wusste, ich würde nur erfahren, was sie preiszugeben bereit war.

Vor zwei Wochen also war sie mitten in der Nacht bei mir aufgetaucht. Aufgeregt aber wortkarg lief sie ziellos durch die Wohnung und verschwand dann in der Dusche. Als sie ins Bett kam, griff sie nach meiner Hand und drückte sie wortlos an ihre Wange. Am nächsten Morgen wachte ich allein auf.

Ich wusste nie, wie ich sie erreichen konnte. Doch sie schien zu fühlen, wann sie mich auflesen, vor dem Absturz retten musste, kam unerwartet und doch immer im richtigen Moment. Lily war weit mehr für mich, als ich noch zu hoffen gewagt hatte. Sie stellte keine Forderungen, die ich schon lange nicht mehr erfüllen konnte. Keine Rechenschaft, keine Verpflichtungen.

Ich schob eine ihrer CDs in den Player und ließ mich durch den Abend treiben. Pianojazz, wie sie ihn liebte, geliebt hatte. Nach der ersten Flasche Rotwein wechselte ich zu den Stones, die über die Straße dröhnten, bis einer meiner Mitbewohner energisch „Ruhe“ brüllte.

Wir hatten in die wenigen gemeinsamen Tage hinein gelebt. Sie hatte mich aus meiner selbst gewählten Isolation befreit, wenn auch nur für kurze Zeit.

Daniela hatte keine Kraft mehr, damals vor neun Jahren. Die schlaflosen Nächte, die leeren Flaschen am Morgen hatte sie ertragen. Aber als ich mitten in der Nacht mit der Waffe in der Hand auf dem Boden kniete, stand sie wortlos auf, packte zwei Koffer und ging. Irgendwann kamen die Scheidungspapiere per Einschreiben. Sie sprach nie über diese Nacht, es hätte mich meinen Job gekostet. Sicher wollte sie mir damit helfen, vielleicht hat sie mich den Schatten aber auch nur endgültig ausgeliefert. Ich rührte monatelang keinen Alkohol mehr an.

Nach ihr gab es nur noch die Mädchen von der Straße und dann und wann mal eine Zufallsbekanntschaft. Ich hatte kaum Freunde, vermied Abende mit den Kollegen. Und für Frauen, die es zur Polizei zog, hatte ich noch nie viel übrig. Irgendwann war ich dann zu alt für Überraschungen, zu lange allein, um mich noch nach Gesellschaft zu sehnen.

Wenn ich die Tür meines Büros schloss, wechselte ich die Existenz, schreckte vor jeder zufälligen Berührung zurück. Ich hatte mich abgefunden mit mir und zählte die Tage bis zu meiner Pensionierung. Es waren mehr als 7000.

Eine Flasche noch, Sade´s „Love de luxe“ im Ohr und endlich war ich hinüber, schlief traumfrei.

Gegen fünf Uhr weckten mich die Vögel auf den Friedhofsbäumen. Ich schleppte mich ins Schlafzimmer und schlief weiter bis in den frühen Nachmittag.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit blauen Mülltüten und den kärglichen Resten, die Lily in meinem Leben hinterlassen hatte. Wattebäuschchen, ein Make-up-Set für zwischendurch, Nachthemd, Haarbürste. Mit jedem Gegenstand spürte ich die Wärme ihrer Haut an meinem Rücken. Ich fühlte mich, als würde ich sie zum zweiten Mal umbringen. Weg, alles bis auf das Foto über meinem Schreibtisch.

Am Abend fiel mir auf, dass ich seit mehr als einem Tag nichts gegessen hatte. Mein Kühlschrank barg nur noch Ketchup und ein seit 14 Tagen abgelaufenes Joghurt. Der Ausweg hieß Marita.

Maritas Interieur erinnerte an Kneipen, die es hier schon lange nicht mehr gab, mit Soleiern und Gewürzgurken auf klebrigen Theken und all denen, die immer da waren. Heute kamen vor allem die, die es bis hier geschafft hatten auf dem langen Weg durch eine der letzten Städte, der das letzte Jahrhundert noch hier und da anzusehen war, und sei es als Ergebnis penibler historischer Rekonstruktion, die noch das letzte Einschussloch konservierte. Nur an die Soleier hatte keiner gedacht.

Marita sah mich auf den Tisch in der Ecke zusteuern. Ein kurzes Nicken, dann drehte ich das „Reserviert“-Schild zur Wand. Sie beobachtete mich abwartend, drehte den Kopf Richtung Zapfhahn. Die grauen Haare mit einem Tuch streng nach hinten gebunden war sie Hoffnung und Erlösung zugleich.

Ich schüttelte den Kopf. Es gibt kein Handzeichen für Cola, also kam sie hinter ihrem Schutzwall hervor.

„Dachte schon, ich seh Dich nicht mehr, bevor ich Konkurs anmelde.“

„So schlimm?“

„Ach, die Mieten. Denken alle, hier würden die Scheine nur so regnen. Aber, wir verkaufen zuviel Kaffee mit Milch und zu wenig Essen und Bier. Wasser mit einer Scheibe Zitrone läuft auch nicht schlecht.“

„Cola, groß, mit viel Eis. Was gibt´s zu essen?“

„Nix Neues. Also Schnitzel?“

Ich brummte zustimmend.

„Immer noch Bulle?“

„Mmh.“

„`n Tipp von ´ner alten Frau: Dir fehlt ´ne ordentliche Gesichtsmaske oder was anderes, das strafft.“

Wenn sie lächelte, wollte ich immer nach ihrer Hand greifen, sie an meine Wange pressen. Doch jedes Mal, wenn ich kurz davor war, machte sie auf dem Absatz kehrt und präsentierte ihre gut 20 Jahre jünger erscheinende Hälfte. Sie wäre eine gute Beichtmutter, aber ich hatte mir das Beichten abgewöhnt. Lange schon.

Coltan
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