86
Montag.
Auf meinem Schreibtisch lagen bereits eine dienstliche Weisung und die Rechnung eines Autovermieters. Mader hatte kommentarlos ihre Kontonummer an den Rand geschrieben. Nun wusste ich wenigstens, was ein Ausflug im Cabrio kostet.
Auch Martens schien nicht an Konversation interessiert. Auf die Kopie eines Schreibens mit ministeriellem Briefkopf hatte er mit knappen Worten „Zur Kenntnis“ vermerkt. Ich warf die Kaffeemaschine an und machte es mir mit der Morgenzeitung bequem.
Mein Handy summte, im Display die Nummer des „Four Palms“. Spencer.
„Morgen.“
„Ihren Job möchte ich haben. Tagelang nicht aufzutreiben und ich krieg viereckige Augen.“
„Erfolgreich gewesen?“
„Müssen Sie schon selbst entscheiden. Natürlich nur, wenn Sie etwas Zeit erübrigen können.“
„Bis gleich.“, ich legte auf.
Ein leichtes Hüsteln, Martens stand in der Tür.
„Bis gleich? Ist mir eine morgendliche Leiche entgangen?“
„Kaffee?“
„Ja.“, dann ließ er sich in Maders Stuhl fallen.
„Tolle Geschichte, was?“
„Zucker?“
Er schob mir seine Tasse entgegen. Zwei Stück mussten genügen. Martens rührte ausgiebig um, bevor er lauthals zu schlürfen begann.
„Sie haben den Brief gelesen? Ist in Kopie auch an den Präsidenten gegangen.“
Keine Frage, eine Feststellung.
„Nationale Sicherheitsinteressen!“ Seine Augen machten sich auf ungewohnte Art selbständig und in seiner Stimme lag etwas, das ich nicht deuten konnte. Nicht der gewohnt geschäftsmäßige Ton, eher spöttisch, ironisch.
„Muss ja ein ziemliches Wespennest sein, wenn die wegen zwei Nutten… Verzeihung!“ Geschenkt, dachte ich und winkte ab. „Tja, wenn die deshalb gleich mit schwerer Artillerie anrücken.“
Ich verstand nicht, was ihn trieb und wartete ab. Martens schien auch keine Antwort zu erwarten, sondern redete einfach weiter: „Ist ja vielleicht besser so. Scheint aber um was Internationales zu gehen. Und immerhin, haben ja umfangreich ermittelt. Wussten sogar, wer hier bei uns zuständig ist und so. Tolle Truppe.“
Er schauspielerte, das war jetzt unübersehbar. Dieser künstlich erstaunte Gesichtsausdruck, erst bewegten sich die Mundwinkel, dann zog er die Augenbrauen hoch.
„Was los mit Ihnen, Gallert? Kommt einer mit ´ner Klappkarte und schon stecken Sie auf?“
Ein wenig Spaß sei ihm gegönnt, aber jetzt reichte es: „OK. Sie wissen was, und ich hab ´s verdient, hier den Trottel zu geben. Also los, raus damit?“
Genüsslich reckte und streckte er sich, kostete den Moment aus. Dann brach es doch aus ihm heraus, schließlich war er nicht irgendwer. Und als Chef einer Einheit unfähiger Dorfpolizisten wollte er schon gar nicht dastehen. Pack nie einen Mann an den Eiern, wenn Du Dir nicht sicher bist, dass er keine hat!
„Ich wurde gebeten, Sie und Mader für Ermittlungen abzustellen, die sich zufällig aus dem bisherigen Tatkomplex ergeben haben sollen. Und da die Kollegen vom Missbrauch derzeit unter Personalmangel leiden, sie beide hingegen gerade nichts zu tun haben, habe ich natürlich zugestimmt. Zumindest solange wir nichts Frisches in der Kühlhalle haben.“
„Ach was.“, war alles, was mir dazu einfiel. Hat die alte Büroklammer sich über Nacht in einen ausgewachsenen Zocker verwandelt, dachte ich.
„Das ändert allerdings nichts daran, dass mir noch einige Berichte fehlen, die ich bis 16 Uhr auf dem Tisch haben möchte. Ausführlich, versteht sich. Der Kaffee ist übrigens gewöhnungsbedürftig, zu wenig Wasser.“
Dann verschwand er geraden Rückens und mit weit ausgreifenden Schritten.
Ich hinterließ Mader eine kurze Notiz und machte mich auf den Weg. Langsam gewöhnte ich mich an die Hitze, der plötzliche Schweißausbruch beim Verlassen des Hauses blieb aus. Vielleicht lag es auch daran, dass ich seit 30 Stunden nichts getrunken hatte.
Im „Four Palms“ steuerte ich direkt auf die kleine Sitzecke zu, winkte einer jungen Kellnerin, bestellte einen Espresso und Grüße an Spencer. Wenige Minuten später bediente er mich persönlich.
Heute war der offenbar der Tag des Laienschauspiels. Spencer ordnete penibel das Porzellan auf dem Tisch, überprüfte umständlich den Abstand zwischen Untertasse und Tischkante, nahm bedächtig im Sessel platz und widmete sich zuerst seinen Manschetten, schlug danach die Beine übereinander und richtete die Bügelfalte. Als er damit zufrieden war, verschränkte er die Hände und sah mich aufmüpfig an.
„Ja, wir waren unterwegs. Dienstreise, Thüringen.“
„Ah.“ Kurz und abgehackt.
„Wie dem auch sei. Hier bin ich.“
Jetzt durfte ich seine Armbanduhr bewundern. Machs nicht so spannend, dachte ich: „Also, was hat Sie so in Aufregung versetzt?“
Wo lernte man nur diesen distinguierten Gesichtsausdruck, dieses leichte Ziehen der rechten Augenbraue? „Etliches. Vielleicht möchten Sie erst austrinken. Es erscheint mir sinnvoller, Ihnen zu zeigen, was wir gefunden haben.“
Ich nahm den Espresso in einem Zug und stand auf. Spencer lotste mich durch eine Tapetentür, um drei Ecken und schon war es mit der Orientierung vorbei. Eine Treppe hinunter bis wir vor einer Stahltür stoppten. Er hielt seine Sicherheitskarte vor einen Scanner, die Tür glitt auf: „Was Sie jetzt sehen, bitte ich Sie freundlicherweise sofort wieder zu vergessen.“
Die sichtbare Überwachungstechnik war also nur ein Teil des Systems. Für die unauffällige Überwachung des Personals gab es weitere Kameras, von denen nur eine Handvoll Leute Kenntnis hatte.
„Gutes Servicepersonal ist halt selten, da schaut man gern genauer hin. Diesen Bereich kennt nur die Geschäftsführung. Und natürlich unser Sicherheitsdienst. Wäre schön, wenn es dabei bliebe.“
Spencer schaltete einen Monitor ein und nach einigen Mausklicks flimmerte eine Videosequenz über den Bildschirm.
„Der Wareneingangsbereich. Jetzt, da, sehen Sie!“
Der Mann, schlank, ist vielleicht 1,90 Meter groß und hat es eilig. In seiner linken Hand ein kleiner Koffer. Unauffällig wie tausend andere.
„Wenn Sie das Penthouse mit dem Lift verlassen und in der zweiten Etage aussteigen, sind es nur wenige Meter bis zur Servicetreppe. Woher er die Karte hatte, ist mir schleierhaft. Wir arbeiten noch daran. Dreißig Stufen und schon ist man im Lieferanteneingang. Um diese Zeit herrscht dort kein Betrieb. Dann noch durch die Schleuse, und schon sind Sie auf der Straße.“
Der Mann lief direkt auf die Kamera zu. Mit dem rechten Arm hielt er das Mädchen fest an sich gepresst. Ein schmales, ovales Gesicht, blonde Zöpfe. Immer wieder schien sie zusammenzusacken, knickten ihr die Beine weg. Jetzt schob er seine Hand unter ihre Achsel, ohne den Schritt zu verlangsamen.
„Woher weiß ich, dass das keine Fälschung ist?“
Spencer zuckte mit den Schultern.
„Ihr Problem. Wichtiger ist, was machen Sie damit? Was Sie hier sehen, gibt es nämlich gar nicht. Verstehen Sie, wie überflüssig Ihre Frage ist?“
Ich verstand nur zu gut: „Kopie?“
Er öffnete eine Schublade und zog einen Umschlag heraus: „Macht wenig Sinn, wenn wir Ihnen das ausdrucken. Zu unscharf. Sie haben sicherlich andere Möglichkeiten. Sieht ganz schön jung aus. Aber es gibt es noch etwas.“
Er ließ die Aufnahme weiterlaufen, stoppte. Das Mädchen schien mich direkt anzusehen, seine linke Gesichtshälfte war eindeutig geschwollen.
Spencer wechselte die Aufzeichnung: „War eine Heidenarbeit.“ Jetzt lief eine Reinigungskraft den Gang entlang, den Blick gesenkt: „Die gehört auch nicht dorthin. Gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten bei 350 Leuten und unzähligen Aushilfen. Jedenfalls haben wir ein kleines Leck im Sicherheitsmanagement entdeckt. Insofern, hat sich die Arbeit gelohnt.“
Sie hatten sich keine besondere Mühe gegeben. Der Wagen mit Reinigungszubehör, ein weißer Kittel, schwarze Perücke. Dilettantisch. Ich konnte es kaum glauben.
Spencer bemerkte mein ungläubiges Staunen: „Sie kennen die Frau?“
„Ja, leider.“
„Arbeitet die für Sie?“
Spencer konnte Fragen stellen.
„Sagen wir mal so, wir werden beide von Ihren Steuern bezahlt.“
„Verstehe.“
Irgendwie mochte ich ihn, seinen trockenem Humor. Ich schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter. Nur ein Blitzen in seinen Augen verriet mir, dass er sich geehrt fühlte.
„Es gab ja eigentlich auch keinen Mord.“
Fünf Minuten später stand ich wieder im prallen Sonnenlicht. Auf dem Gendarmenmarkt wechselten sich japanische, englische und russische Sprechgesänge ab. Die typischen Touristenführer-Regenschirme wogten über den Platz. Im Schlepptau schwitzende Touristen. Unbeschwert in einer der sichersten Städte der Welt auf der Suche nach den Resten einer längst vergangenen Kultur. Ich machte mich auf den Weg zu Hanschke.