78
In Maritas Kneipe waren alle Tische belegt. Mein prall gefüllter Wäschesack beschäftigte für die nächsten 90 Minuten einen Waschautomaten zwei Querstraßen weiter. Dort gehörte ich wie hier zur Stammkundschaft und konnte mich darauf verlassen, dass niemand Hand an meine Boxershorts legen würde. Ebenso verlässlich war die Küche bei Marita. Hier wechselte die Karte nur, wenn der Koch kündigte oder das Zeitliche segnete.
Ich setzte mich an die Bar, legte eins meiner wenigen Bücher, die nicht aus dem lilyschen Programm zur Horizonterweiterung stammten, zwischen meine aufgestützten Ellbogen und begann zu lesen. Branson, der Mann, der in kurzen Sprüngen erklärt, wie alles zusammenhängt. Von der Amöbe über den Killerwal bis zum erwartbaren Ende aller Mühen, wenn dereinst ein intergalaktischer Findling uns jäh aber erwartbar rammen wird. Marita rumorte in der Küche, wenn die Schwingtür aufging, hörte ich ihre unmissverständlichen Kommandos.
„Und?“ Ja, es konnte sprechen und befand sich ungefähr 50 Zentimeter vor meiner Stirn. Kein „Guten Tag, Sie wünschen, wie kann ich Ihnen helfen?“, nur ein trockenes Berliner „Und?“ Da lohnte auch kein Augenkontakt: „Kleines Pils, Schnitzel mit Pommes.“
„Essen is nich anne Theke!“
Gott, sie hatte es wieder getan. Marita mit ihrem Faible für gestrauchelte Existenzen beschäftigte immer wieder Aushilfskräfte, deren einziges Talent darin zu bestehen schien, die Vorurteile über die Reste der hiesigen Urbevölkerung zu bestätigen.
Ich weigerte mich, auch nur den Kopf zu heben: „Is doch und zwar presto!“
Zumindest hatte sich der Neuzugang die Haare gewaschen. Denn er kam näher und verbreitete einen Duft von frischer Melone. Ich spürte, wie ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war.
„Ick presto Dir gleich wat, wenn de dich nich schleunigst vom Acker machst, sonst landeste inne Furche.“
Es hatte mein Interesse geweckt: Eine Drohung hatten wir lange nicht. Ich ließ das Buch Buch sein, auch weil ich einen leichten Luftzug an meiner Stirn spürte. Wir waren uns schon sehr nahe gekommen. Meine Hoffnung auf eine Überraschung wurde jedoch enttäuscht. Auch die schweren Fälle tragen Uniform: graue Augen in einer Kajal-Grube, die Haare grün-pink. Ihre Oberarme verrieten mir allerdings, dass es durchaus ein sonst geben könnte, die obligatorischen Tattoos aus asiatischen Schriftzeichen spannten über durchtrainierten Muskeln.
Ich linste zur Seite. Inzwischen war Marita aus der Küche gekommen und stand schweigend im Türrahmen. Die Nachgeburt des typischen Berliner Charmes sah sich um. Was zwischen den zwei Frauen innerhalb weniger Sekunden wortlos geklärt wurde, blieb mir verborgen. Das Ergebnis ließ jedenfalls keine Sekunde auf sich warten. Ein freundschaftlich-rustikaler Klaps auf den Oberarm: „Nischt für unjut. Ick bin die Silke. Pils jeht uff mich, allet klar!“
„Na denn, ick bin Gallert.“
„Ookay.“
Marita stand neben mir, hob den Buchdeckel an und grinste: „Na, Zeit für ‘n Hobby?“
Ich klappte das Buch zu.
„Wo ist denn Deine Freundin, mit der Du immer schnurstracks hier vorbei bist.“
Die Frage traf mich ebenso unvorbereitet wie die Antwort meines Körpers. Mein Mund war schlagartig trocken, Tränen suchten sich ihren Weg und Marita erschrak. Mehr als „tot“ brachte ich nicht heraus.
Ihre Hände legten sich erst zaghaft um meinen Kopf, dann zog sie ihn auf ihre Schulter und strich mir behutsam über den Rücken. „Ruhig“, flüsterte sie, „ruhig.“
Ich verlor jedes Zeitgefühl, spürte nur ihre Hände, die langsam über meinen Kopf, meinen Rücken strichen. Silke verfrachtete die Belegschaft des Stammtischs lautlos an die Theke und Marita zog mich in die dunkle Ecke. Ich erzählte, sie hörte zu.
Stunden später übertönten Nachtigallen das späte Wispern der Partygänger. Letzte Autos rollten auf der Suche nach einem Parkplatz die Straße entlang. Ich starrte in den blauschwarzen Nachthimmel.
Was ich gerade sah, waren Lichter, die vor Jahrtausenden zu einer Reise durchs Universum aufgebrochen waren, ohne Ziel, ohne Sinn. Der Zufall brachte ihr Abbild in diesem Augenblick auf meine Netzhaut. Ich stellte mir vor, dass auf der anderen Seite des Alls jemand ebenso in diesen unendlichen Himmel starrt. Vielleicht hatte er ein Teleskop, ein Riesenteleskop, mit dem er Abend für Abend die Erde beobachtete. Wenn er nur weit genug weg war, dann sah er vielleicht in diesem Moment Lily durch die abendlichen Straßen laufen. Er würde versuchen, sie noch näher ins Bild zu holen, sehen, wie Schweiß über ihr Dekolleté perlt, sich wünschen, das Ziel ihres späten Spaziergangs zu sein. Möglich, dass er sich vorstellt, ihr Minuten später die Bluse von der Schulter streifen zu dürfen, während sie ihren Kopf nach hinten legt. Für irgendwen da draußen lebte sie noch, als ferner, aber lebendiger Traum. Er ahnte nichts von ihrem Ende. Ihr Abbild geistert noch Wochen, Monate, Jahre mit Lichtgeschwindigkeit durchs All, bis es immer schwächer wird und verlischt. Erst dann ist sie wirklich tot.
Sie noch einmal sehen, nur noch ein letzter Blick. Ich schloss die Augen und plötzlich war sie über mir, spürte, schmeckte ich sie. Meine Schenkel spannten sich, ich bekam unwillkürlich eine Erektion bei dem Gedanken an ihr Schlüsselbein, ihre Brüste. Das Nächste, was ich fühlte, war die Kante des kleinen Metalltisches. Der Stuhl hatte nachgegeben und ich war seitlich weggekippt. Der Bauch der leeren Weinflasche drückte auf meine Rippen und etwas Hartes bohrte sich in mein Becken.
Ich war so besoffen, dass ich gefühlte fünf Minuten brauchte, bis ich Flasche, Tisch und meinen handlungsunwilligen Körper voneinander gelöst hatte.
Danach befahl ich meiner Hand, meine Tasche zu durchsuchen. Wie schnell man doch die Kontrolle verliert, dachte ich, und betrachtete Lilys Schlüsselbund. Der Doppelbartschlüssel war es, der sich in meine Lenden gebohrt hatte. Zehn Meter bis zu Dusche, wenigstens das müsste noch zu schaffen sein.