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Wir starrten schweigend die Linden auf der anderen Straßenseite an. Ab und zu nippte Mader an ihrem Weinglas. Sie war die erste und einzige Kollegin, die mich je zu Hause besucht hatte. Von Kollegen ganz zu schweigen. Außer Lily hatten bislang nur ein Klempner und der Hausmeister einen Blick in meine Wohnung geworfen. Keine Familie, die sich an Geburts- oder Feiertagen die Treppe hoch quälte. Mutterseelenallein auf der Welt und auf dem besten Wege, ein einsamer alter Mann zu werden, dessen Fehlen wohl als Erster der Weinhändler bemerken würde, wenn mein regelmäßiger Wochenendeinkauf dauerhaft unterbliebe. Oder Ferdinand, mit dem ich mich einmal im Monat auf ein Bier traf.
Einsam in einer tobenden Stadt, deren Zeitungen täglich mit Geschichten von der vergeblichen Jagd paarungswilliger Singles auf Artgenossen gefüllt wurden. Wirklich bedrückend war allerdings die Erkenntnis, nichts zu vermissen, nicht mehr hungrig aufs Leben ohne je satt geworden zu sein. Am Überfluss verhungert, könnte dereinst meinen Grabstein schmücken.
Ich konnte 25 Sorten Rotwein am Geschmack unterscheiden und blickte voller Verachtung und Unverständnis auf das Treiben um mich. Zuviel gesehen, zuviel erlebt, zuviel gekannt, um mich noch täuschen zu lassen. Und nun war auch Lily fort, für immer verloren.
Mader räusperte sich und ich begann zu erzählen, von Gozo, wie schnell die Jahre vergehen. Ich hatte ein Farmhaus gemietet, lag tagsüber auf den Felsen, schnorchelte um die Insel und ging abends zum Engländer nach Xlendi. Schlafen, Essen, schwimmen – Ruhe. Ein guter Ort, um die Bilder zu vertreiben.
Die Stille unter Wasser, das schwerelose Gleiten, der kurze Frieden. Ich ließ ich mich in die Tiefe fallen, folgte der Spur des Lichts bis meine Lungen zu bersten schienen. Aus der Welt sein, dem Sog ins Dunkle entlang schroffer Klippen folgen. Die Verheißung der Tiefe so unmittelbar, mit jedem Flossenschlag verliert die Zeit ihre Bedeutung, schwerelos aufgefangen und mit jeder Pore auf Grenzerkundung, der Ohnmacht nahe und doch völlig unbeschwert. Von Tag zu Tag zog es mich tiefer herab, wurde der Wunsch zu atmen um fünf, zehn Sekunden verschoben auf der Skala der Selbstüberwindung. Und dann war es doch wieder die Natur, die die Führung übernahm und all dem ein Ende setzte.
Die Muräne schob langsam ihren Schlangenkopf aus der Höhle. Das Maul leicht geöffnet, gleichmäßig die spitzen Zähne. Ich schwebte, wir fixierten uns. Sie ließ den Kopf kreisen, als sei sie sich unsicher über den Nährwert des vor ihr treibenden bleichen, schwabbeligen Fleisches.
Plötzlich traf mich ein Schlag auf den Hinterkopf.
Ich blickte nach oben und schon kam ein Fuß direkt auf meine Nase zu. Alles, was ich sah, bevor ich die Augen schloss, war eine Lilie.
Ich hatte seit Tagen keinen sinnvollen Satz mehr formuliert und stotterte: „Muräne, da unten! Kommt gleich raus! Weg hier!“
Ein kurzer Blick über die Schulter: „Eine was?“
„Eine Muräne. Und außerdem,“ ich spuckte Wasser, „zweimal getreten!“
„Oh!“
Ihr Lächeln, frei von Schuld, ein kurzes Winken, dann schwamm sie mit kräftigen Zügen ans Ufer. Ich folgte ihr.
„Tut es weh?“
Ich nahm die Taucherbrille ab und erntete ein erneutes „Oh“, mit einem unüberhörbaren ironischen Unterton.
Meine Nase schwoll an und ich rieb mir das Salzwasser aus den Augen.
„Wir haben wohl kein Glück miteinander. Immer geht was schief, wenn wir uns begegnen. Werde ich jetzt angezeigt, wegen -“, sie zog die Augenbrauen leicht nach oben, als müsse sie überlegen: „Widerstand gegen die Staatsgewalt?“
Dann streckte sie mir ihre Hand entgegen: „Lily.“
Sie war jetzt Mitte zwanzig, trug kurze Haare und einzig die Lilie erinnerte noch an das Mädchen auf dem Parkplatz.
Am ersten Abend saßen wir in Victoria unter den Platanen und tranken Campari, am nächsten Abend lästerten wir beim Engländer am Hafen über die Küche. Sie war, ja, sie war bezaubernd. Erzählte dies und jenes, Schnurren, Anekdoten, Absonderlichkeiten. Ich hörte zu. Wenn sie den Tisch für einen Augenblick verließ, wurde ich unruhig, beobachtete die Umgebung und musste mir eingestehen, dass ich fürchtete, sie würde sich, meiner überdrüssig, still und leise davonstehlen.
Nach drei Tagen gab sie ihr Appartement auf und zog kurzerhand, als wäre sie nur verspätet angereist, in mein Farmhaus ein. Wir waren im wahrsten Sinne des Wortes aufeinander zu getrieben. Nach zwei Tagen hatte ich mich an sie gewöhnt und begann innerlich den drohenden Count-down zu verfluchen, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren.
Lily hatte sich verändert. Sie arbeitete immer noch in dem, was sie ihren Beruf nannte, aber schon lange nicht mehr auf der Straße. Sie hatte studiert, ein wenig Kunst, ein wenig Betriebswirtschaft für später und nach fünf Semestern aufgegeben. Jetzt also vier Wochen Sommerurlaub, ein ganz normales Leben mit Rentenfonds und Girokonto.
Irgendwann meinte sie, ich hätte sie damals vor der Straße gerettet. Wir sprachen nie wieder darüber.
„Vier Jahre ist das jetzt her.“
„Und wo hat sie sonst gewohnt?“
„Ich weiß es nicht – ich weiß nur, dass Lily ihr richtiger Name ist. Aber ihr Familienname, Fehlanzeige. Es spielte keine Rolle. Sie kam und ging. Manchmal sah ich sie vier Wochen nicht, dann blieb sie zwei, drei Tage und verschwand wieder. Unvorstellbar, ich weiß. Keine Telefonnummer, nichts. So war das.“
Mader schüttelte den Kopf.
„Kaputt“, sagte sie, „total kaputt. Wie kann man so leben?“
„Zuerst wollte ich sie nicht ausfragen, keine Forderungen stellen, und dann war es irgendwann egal. Alles war so normal. Wenn sie da war, haben wir gekocht, ferngesehen, sind joggen gegangen, haben uns morgens beim Zeitunglesen angeschwiegen. Wie ein normales Paar. Alles, was ich wissen müsse, würde sie mir erzählen. Das war ihre Antwort, wenn ich mal fragte. Und, sie sah sofort, wie es mir ging. Ich musste nichts erklären, keine Rechtfertigungen. Ich war, ich war glücklich. Und sie vielleicht auch.“
Sie hatte mir plötzlich wieder Halt gegeben, mich aus dem ziellosen Dahingeworfenwerden errettet. Vielleicht ging es ihr genauso. Lily hatte zuviel hinter sich, um noch den Schein wahren zu wollen und wir waren uns unserer Abgründe bewusst, ohne je darüber sprechen zu müssen.
Mader griff nach einer neuen Zigarette. Inzwischen rauchte sie ruhiger, nestelte nicht mehr nervös herum.
„Den Glaubwürdigkeitswettbewerb gewinnst Du damit nicht.“
Ich nickte nur hilflos. Was half es, wenn ich wusste, welche Bücher sie gelesen hatte, welche Maler sie mochte, welche Musik.
„Du hast also hier gesessen und gewartet, bis sie sich meldet. Keine Briefe?“
„E-Mail, aber das hilft uns auch nicht weiter. lily@gmx.com.“
Mader schüttelte verständnislos den Kopf.
„Gut. Dann lass uns einen Plan machen. Jetzt wissen wir zumindest beide, woran wir sind.“
„Warum bist Du zu Ferdinand gegangen?“
„Ich hab ihm vertraut.“
„Mir nicht?“
„Wie denn? Hast Du mir vertraut!“
Wir waren quitt.
„Da ist noch etwas.“
Ich erzählte Mader, wie Lily vor zwei Wochen zu mir gekommen war und wieder verschwand. Inzwischen war es drei Uhr morgens, die Nachtigallen krakeelten über den Grabsteinen. Ich ging ins Zimmer und zog die Schlafcouch aus. Mader sah mich fragend an.
„Frühstück um acht.“
Sie zog meinen Kopf mit beiden Händen zu sich herunter und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Ihr Haar duftete nach Zitronen.