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Das Telefon klingelte im selben Augenblick, als Sam zur Haustür hereinkam.
»Ich geh schon!«, rief Grace. Sie war bereits im Flur, denn sie hatte Martinez’ Chevy in der Auffahrt gehört.
Sams Arme waren leer.
Grace drehte sich um, drängte sich an David und Saul vorbei in die »Höhle« und schnappte sich das Telefon. »Ja?«
»Tut mir leid«, sagte eine Männerstimme.
Grace erkannte die Stimme sofort.
»Jerome«, sagte sie und begann zu zittern.
Sam, der direkt hinter ihr war, bedeutete ihr, Jerome Cooper am Apparat zu halten. Dann verließ er leise den Raum und ging in die Küche, um am zweiten Mobilteil mitzuhören, während die beiden Beamten am Tisch stumm auf die Fangschaltung warteten.
»Ich hatte nicht vor, das Baby zu nehmen«, sagte Jerome zu Grace. »Ganz und gar nicht.«
»Wo ist er?« Grace’ Stimme klang hoch und scharf. »Was hast du ...«
»Wenn du ihn zurückhaben willst«, unterbrach Jerome sie, »dann halt den Mund.«
»In Ordnung«, sagte Grace.
Ihr Verstand konzentrierte sich auf zwei Dinge gleichzeitig. Einerseits drehte sich alles um Cooper. Sie wollte, dass er weitersprach, wollte durchs Telefon greifen und die Worte, die Wahrheit aus ihm herausreißen. Gleichzeitig war sie sich der Vorgänge im Haus bewusst, als Martinez hereinkam, die Situation erfasste und sich leise zu den anderen in der Küche gesellte.
»Erinnerst du dich noch an die Geschichte von Moses als Säugling?«, fragte Jerome.
Grace musste an Schilf denken, dann an Boote.
»Du hast ihn in einem Boot ausgesetzt?«, stieß sie hervor.
»Ich habe gesagt, du sollst den Mund halten!«, zischte Jerome, und ein Knistern war in der Leitung zu hören.
»Tut mir leid«, sagte Grace und hörte sogar auf zu atmen.
»Er ist näher, als du denkst«, sagte Jerome ...
... und beendete das Gespräch.
Grace stieß einen Schrei aus, warf das Telefon auf die Couch, drängte sich an den Uniformierten in der Küche vorbei und sah an Sams Gesichtsausdruck, dass das Gespräch zu kurz für eine Fangschaltung gewesen war.
»Die Zeit hat nicht gereicht«, bestätigte einer der Beamten.
»Er ist auf einem Boot«, sagte Sam und nahm Grace’ linke Hand. »Joshua ist auf einem Boot.«
»Nicht er hat das gesagt, sondern ich.« Grace riss sich von Sam los. »Er hat gesagt: ›Erinnerst du dich noch an die Geschichte von Moses als Säugling?‹«
»Er ist auf einem Boot«, erklärte Sam mit finsterer Entschlossenheit.
»Die Verbindung war schlecht«, bemerkte Grace. »Es gab Störungen.«
»Das Unwetter«, sagte Sam.
Draußen donnerte es noch immer.
»Er ist näher, als du denkst.«
»Miami-Dade und die Küstenwache können ihre Hubschrauber bei Sonnenaufgang starten lassen«, sagte Martinez.
»Jemand soll mir ein Boot besorgen«, drängte Sam. »Sofort.«
»Es ist zu dunkel«, gab Mary Cutter zu bedenken.
»Glaubst du vielleicht, ich warte, bis es hell wird?«, erwiderte Sam.
»Ich fürchte, du hast keine andere Wahl, Sohn«, sagte David vom Flur her. »Bei dem Sturm und ...«
»Drew Miller hat ein Powerboot«, warf Grace ein.
Drew war ihr Nachbar, drei Häuser weiter.
Sam war schon auf halbem Weg zur Tür.
Grace folgte ihm auf dem Fuß.
Er drehte sich um und umarmte sie.
»Spar dir die Mühe«, sagte sie. »Ich komme mit.«