18

 

»Er ist vergangenen Montagmorgen zum Haus gekommen, als Dan nicht da war. Er hat mir ein Foto von Kevin und mir gezeigt und gesagt, er wolle zehntausend Dollar. Ich habe erwidert, dass ich nicht die Frau auf dem Foto wäre und dass er zusehen soll, dass er verschwindet.« Claudia griff in ihre Handtasche und zog einen weißen Umschlag heraus, der ein Foto enthielt. »Auch wenn es nicht gerade das beste Bild ist – ich bin es.«

Mit zitternder Hand hielt sie ihrer Schwester das Foto hin.

»Bist du sicher, dass ich das sehen soll?«, fragte Grace.

»Natürlich will ich nicht, dass du das siehst«, erwiderte Claudia. »Mir wäre am liebsten, das alles wäre nie passiert. Aber ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche; also solltest du dir anschauen, wie tief deine Schwester gesunken ist ... wie dumm sie ist.«

Grace nahm das Foto. Sie sah ein Paar in zärtlicher Umarmung und dachte an Daniel, einen großen, kantigen Mann mit grünen, kurzsichtigen Augen, der nach Jahren der Arbeit an Zeichentischen ein wenig gekrümmt ging; dennoch war er noch immer attraktiv und, so glaubte Grace, stets liebevoll gewesen. Doch sie verdrängte das Bild.

»Du könntest durchaus behaupten«, sagte sie, »dass die Frau auf dem Foto eine andere ist.«

»Vielleicht«, erwiderte Claudia leise. »Wenn es das einzige Foto wäre ...«

»Sprich weiter«, sagte Grace. Sie fürchtete sich vor dem, was noch kam.

»Jerome sagte, er habe noch jede Menge weitere Fotos, und darauf könne jeder Blinde sehen, dass ich es bin. Wenn er an meiner Stelle wäre, würde er noch mal eingehend darüber nachdenken, denn ich hätte eine Menge zu verlieren. Aber da er und ich verwandt sind, gibt er mir noch ein bisschen Zeit. Sollte ich dann nicht mit dem Geld rüberkommen, würde ich es bereuen.«

»Und was ist dann geschehen?«

»Er ist gegangen«, antwortete Claudia, »und ich habe mich in den letzten fünf Tagen verrückt gemacht und darauf gewartet, dass er wiederkommt. Ich habe Dan alles beichten wollen in der Hoffnung, dass er mir verzeiht. Dann wieder sagte ich mir, dass es egoistisch sei, weil nur ich selbst mich nach einer Beichte besser fühlen würde, nicht aber Dan. Natürlich weiß ich, was für ein Unsinn das ist, aber ...«

»Du hast nichts mehr von Jerome gehört?«, fragte Grace.

»Das war die andere Sache, die ich mir immer wieder gesagt habe ... dass Jerome seine Meinung geändert und erkannt hat, dass er das Geld nicht so leicht bekommt, wie er vielleicht gehofft hat ... dass er sich vielleicht fürchtet, ich würde es Dan erzählen oder sogar die Polizei rufen.«

»Warum bist du dann gegangen?«, hakte Grace nach. »Wie konntest du das riskieren, wo Jerome jederzeit auftauchen kann?«

»Ich konnte mich dem einfach nicht stellen«, antwortete Claudia. »Ich konnte Dan nicht ins Gesicht sehen.« In ihren braunen Augen funkelten Tränen. »Ich konnte ihn nicht ständig anlügen.«

»Was hast du ihm denn gesagt, warum du gehst?«

»Ich habe ihm gesagt, du leidest noch immer unter postnatalen Depressionen und dass ich dir eine Zeit lang helfen will.«

Zum ersten Mal war Grace wütend auf ihre Schwester. »Darüber bin ich schon lange hinweg, Claudia, und das weißt du. Und du wirst es wohl auch Daniel schon gesagt haben. Nicht mehr lange, und ich nehme wieder Patienten an.«

»Irgendetwas musste ich doch sagen«, rechtfertigte sich Claudia. »Tut mir leid.«

Grace sah die Verzweiflung in den Augen ihrer Schwester, und ihr Zorn verrauchte. »Ich verstehe immer noch nicht, wie du riskieren kannst, dass Jerome auftaucht, wenn du nicht da bist. Das will mir einfach nicht in den Kopf.«

»Mir auch nicht«, erwiderte Claudia, die sich sichtlich mies fühlte. »Aber ich verstehe ja nicht einmal, was überhaupt mit Kevin passiert ist.«

»Was das betrifft, bin ich nicht sicher, ob es stimmt«, sagte Grace. »Du hast gesagt, du wärst ziemlich down gewesen, hättest dich ›kalt‹ gefühlt und ...«

»Bitte«, unterbrach Claudia sie rasch, »sei nicht so verächtlich. Ich weiß nicht, ob ich das ertragen kann.«

»Wird Daniel es ertragen können, wenn er die Fotos sieht?«, entgegnete Grace leise. »Wenn er erkennt, dass du ihn angelogen hast? Weshalb du hergekommen bist? Dass du geflohen bist? Weggerannt?«

»Bei dir hört sich das an, als wollte ich ihn verletzen.«

»Das war nicht meine Absicht«, sagte Grace. »Ich weiß, dass du nicht der Typ bist, der anderen wehtut, erst recht nicht einem Menschen, den du so liebst wie Daniel ... vorausgesetzt, du liebst ihn noch.«

»Natürlich!«, rief Claudia. »Deshalb bin ich doch gegangen, verstehst du denn nicht? Wäre ich geblieben, hätte ich keine andere Wahl gehabt, als ihm alles zu erzählen, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, sein Gesicht dabei zu sehen. Und ich weiß auch, dass es die Sache nicht besser macht, wenn er es von dieser Schlange erfährt. Tatsächlich wird es sogar schlimmer sein, aber wenigstens bin ich dann nicht dabei.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe dir ja gesagt, ich bin ein Feigling. Jetzt weißt du es.«

Joshua begann plötzlich zu weinen, und Grace stand rasch auf, um ihn aus dem Laufstall zu heben. Woody wedelte mit dem Schwanz, als sie näher kam, legte sich dann wieder hin und fand sich damit ab, nicht beachtet zu werden.

»Wahrscheinlich habe ich gehofft«, fuhr Claudia fort, »Jerome würde nicht zu Daniel gehen. Was hätte das auch für einen Sinn? Sobald Dan die Wahrheit weiß, kann er das Geld vergessen.«

Das Baby hatte zu weinen aufgehört. Grace, die das Gefühl des kleinen warmen Körpers in ihren Armen genoss, ging im Zimmer auf und ab, wobei sie dem Baby immer wieder auf den Kopf küsste und sich von ihm trösten ließ.

Schließlich blieb sie stehen und schaute ihre Schwester an. »Und was jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Meinst du, ich soll Frank anrufen?«, fragte Grace leise, denn der Gedanke stieß sie ab.

»Um Himmels willen, nein!«, rief Claudia. »Warum solltest du?«

»Damit er etwas unternehmen kann.«

»Er ist der Letzte, mit dem ich darüber reden will«, sagte Claudia. »Und ich glaube auch nicht, dass er das geringste Interesse daran hätte, mir zu helfen.«

»Da hast du wohl recht«, räumte Grace ein. »Was ist mit Roxanne? Wenn sie wüsste, was ihr Sohn im Schilde führt ...«

»Das würde bedeuten, ihr zu sagen, was ich getan habe«, unterbrach Claudia sie.

»Vielleicht weiß sie es ja schon«, sagte Grace, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Nein, das ist wohl keine gute Idee.« Sie hielt kurz inne. »Lass uns abwarten, wie Sam darüber denkt.«

»Müssen wir es ihm wirklich sagen?«

»Ja«, erklärte Grace. »Schließlich bist du ja aus diesem Grund zu uns gekommen.« Sie sah wieder den kläglichen Ausdruck im Gesicht ihrer Schwester. »Ich weiß, dass es etwas Persönliches ist, aber nun hast du es mir erzählt, und ich halte nichts vor Sam geheim.«

»Na schön«, sagte Claudia.

»Du hast gesagt, du brauchst meine Hilfe, Schwesterlein.« Grace setzte sich wieder aufs Sofa, nahm Joshua auf den Schoß und gab ihm seine Rassel. »Ich weiß nur nicht, wie genau ich dir helfen soll, außer für dich da zu sein.«

»Das weiß ich auch nicht.« Claudia holte kurz Luft. »Vielleicht kannst du mir ja helfen herauszufinden, warum das alles passiert ist. Warum habe ich so selbstzerstörerisch gehandelt? Warum habe ich mich überhaupt mit Kevin eingelassen?«

Joshua war wieder zufrieden. Er nuckelte an seiner Rassel und wedelte mit den Ärmchen.

Von Grace’ Verzweiflung war nichts mehr übrig.

»Warst du wirklich so unglücklich?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Claudia. »Ich glaube schon.«