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Cal war fertig.

Er hatte sein Schlimmstes getan.

Zitternd vor Erschöpfung hatte er vor einiger Zeit innegehalten.

Und dann hatte er gesehen, was er getan hatte, und es hatte ihm den Magen umgedreht ...

Er hatte die Bürste genommen – über und über bedeckt von Fetzen des Mannes, der Tabby gewesen war, Haut, Fleisch und Blut – und begonnen, sich selbst zu bestrafen.

Diagonal fuhr er sich über die Brust, von der linken Schulter, vorbei am Herzen – wegen des Tattoos – bis zum Bauch.

Er harkte sich sauber.

Aber er war zu schwach, um es ordentlich zu machen, so, wie Jewel es getan hätte.

Und dann hörte er auf und wurde sich der Welt um ihn herum wieder bewusst.

Der Zeit.

Des Toten auf dem Quilt zu seinen Füßen.

»101 Dinge, die man mit einer toten Katze machen kann«, sagte er laut und glaubte, damit irgendeinen alten Bestsellertitel zu paraphrasieren.

Plötzlich widerte seine eigene Frivolität ihn an.

Mehr noch als seine Tat.

Dabei war es vermutlich die einzige Möglichkeit, wie er mit dem, was er noch tun musste, fertig werden konnte.

Am besten dachte er gar nicht groß darüber nach, sagte er sich – weder über das Töten noch über den Diebstahl der hundertachtzig Dollar in Tabbys Gucci-Börse. Kurz spielte Cal mit dem Gedanken, sich der Okamato-Kondome des Mannes zu bedienen, doch irgendwie fand er die Vorstellung abstoßend.

Am besten gar nicht darüber nachdenken.

Vor allem nicht über die Vorsätzlichkeit der ganzen Sache.

Cal hatte nicht nur den Strick bereitgelegt, sondern auch den Rest seiner Gerätschaften, und er hatte sich überlegt, wie er am besten vorgehen sollte.

Er war eindeutig besser vorbereitet gewesen als beim letzten Mal, doch perfekt war es noch immer nicht gelaufen.

Man könnte ihn jederzeit schnappen.

Verdammt gefährlich das Ganze.

Beim letzten Mal hatte er das Glück der Doofen auf seiner Seite gehabt.

Cal trank einen kräftigen Schluck aus der Flasche Bombay Sapphire, die er seit Wilmington für besondere Gelegenheiten aufbewahrte. Dann wickelte er die Leiche in den Quilt und band das Ganze mit einem Nylonstrick zusammen. Cal war unendlich erleichtert, den Kopf des Toten nicht mehr sehen zu müssen – irgendwie war es sehr viel weniger verstörend, die Füße zu sehen. Tatsächlich hatte deren Anblick sogar etwas Lächerliches. Dieser dumme arme Sack ...

Seine Wut auf Tabby war fast vollständig verflogen.

Als Cal beim letzten Mal hinterher mit der Baby rausgefahren war, hatte er einfach nur Glück gehabt, denn soviel er wusste, hatte niemand bemerkt, wie er mitten in der Nacht den Motor angelassen hatte. Außerdem war es sehr schwierig, im Dunkeln sicher zu navigieren und in der Fahrrinne zu bleiben, die von der Küstenwache im sich ständig verändernden Flachwasser vor Miami ausgewiesen war. Cal hatte sich in jener Nacht für viele Dinge bedankt, vor allem für den mehrstündigen Fahrkurs, den er zusammen mit dem Boot gekauft hatte, aber auch dafür, dass sein Verstand offenkundig wesentlich schärfer war, als er bis dahin gewusst hatte – und sicherlich schärfer, als Jewel ihm je zugestanden hätte.

Um ein Boot in diesen Gewässern sicher steuern zu können, musste man mehr lernen als nur seine Funktionsweise. Nur wenn man die Regeln des Meeres verstand, der Biscayne Bay, des Intracoastal Waterway und des Hafens von Miami war man auf der sicheren Seite. Man musste auf das Wetter achten, auf Tanker, Multimillionendollarjachten und Segelboote, auf Schwimmer, Delphine und die verdammten, unter Naturschutz stehenden Seekühe – vor allem aber musste man nach der Küstenwache und Marinepatrouillen Ausschau halten.

Nach dem Gesetz.

Natürlich galt das besonders, wenn man einen frisch Ermordeten an Bord hatte.

Rückblickend schien es Cal, als habe er damals zunächst geplant, aufs Meer hinauszufahren und die Leiche einfach zu versenken. Tatsächlich hatte er entsprechende Vorbereitungen getroffen und sich unmittelbar vor der Nase der Milliardäre von Star Island hinausgeschlichen, sogar durch Staatsgewässer. Dabei waren sein Gesicht und sein Haar noch immer silbern gewesen, und er hatte einen toten Mann an Bord gehabt.

Man stelle sich das vor!

Und dann hatte er das Ruderboot gesehen, erhellt vom Mondlicht und vertäut an einem Segelboot, das mitten im Nirgendwo vor Anker lag. Und niemand schien ihn zu beobachten, außer vielleicht Gott, und der, so dachte Cal, hatte gerade in die andere Richtung geschaut, als er den Anker geworfen hatte und zu dem Ruderboot geschwommen war, um es mit einem Messer loszuschneiden.

Damals war ihm das wie eine geniale Idee erschienen, erinnerte er sich nun, obwohl die eigentliche Tat ihn beinahe umgebracht hätte. Seine Anspannung war schier unerträglich gewesen, als er das kleine Boot an der Baby festgemacht hatte, um mit ihm aufs offene Meer hinauszufahren und dort die Leiche ins Boot zu legen. Das tote Gewicht über die Reling zu wuchten hatte viel Kraft erfordert – so viel, dass Cal sich fast übergeben hätte, und sein Herz schlug so schnell, dass er geglaubt hatte, er müsse sterben, doch er hatte überlebt.

Cal war klüger und kräftiger gewesen als erwartet.

Er wünschte nur, er hätte Jewel davon erzählen können.

Na ja, nicht ganz.

Dabei hätte es durchaus schiefgehen können. Der Tote hätte das Ruderboot verfehlen, hätte es zum Kentern bringen oder gar zerschmettern können; aber dann wäre er ohnehin auf den Meeresgrund gesunken, vermutete Cal, also war auch das kein Problem.

Aber wie dem auch sei, es hatte es funktioniert.

Diesmal ging Cal auf Nummer sicher. Er hatte Kleider zum Wechseln dabei – ein schwarzes T-Shirt, graue Shorts und Sneakers –, dazu Make-up-Entferner für seinen silbernen Mascara, Seife und Feuchtigkeitscreme für seine Haut. Die Tür zum Abgang hatte er verriegelt und mit einem Schloss versehen – nicht dass ein einfaches Vorhängeschloss die Cops aufgehalten hätte, sollte jemand sie rufen, aber Cal war zumeist recht optimistisch.

Und vielleicht war er ein Spieler.

Im Augenblick zum Beispiel spekulierte er darauf, dass seine tote Tigerkatze während der Fahrt auf der Baby unentdeckt blieb, solange er zu Fuß nach einem kleinen Boot suchte. Er wusste von ein paar Dingis, die ein Stück weiter südlich an größeren Booten vertäut waren.

Bingo!

Cal fand nicht nur einen, sondern zwei Kandidaten, die nahezu perfekt für seine Zwecke waren. Eines der Boote sah ein wenig teurer aus als das andere; also war es vermutlich mit einer Alarmanlage gesichert. Das zweite Boot war viel schlichter. Es verfügte über zwei Ruder und einen Außenbordmotor, und es war nicht an einem anderen Boot vertäut, sondern direkt am Anleger.

Kein Problem.

Cal wartete kurz, beobachtete und lauschte.

Alles ruhig.

Die Entscheidung war getroffen, und er schlich sich an das Boot heran. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er das Boot vielleicht behalten könnte. Er könnte Tabby einfach versenken und mit der Baby sowie dem Dingi als kleines Extra davonsegeln.

Doch ein Plan war ein Plan. Und wenn alles so lief wie beim letzten Mal, war Cal schon neugierig darauf, was diesmal geschehen würde, wenn man die Leiche fand.

Falls man sie fand. Das Dingi könnte von einer großen Welle erfasst werden, sodass Tabby doch noch spurlos versank; aber auch das war okay. Letztlich wäre es für Cal sogar sicherer.

Aber nicht so interessant.

Das Hochgefühl trieb ihn bis zum Ende an. Es war ein stetig wachsendes Gefühl des Erfolgs, wie er es noch nie empfunden hatte, besser sogar als letztes Mal, denn da hatten die Anspannung und das Wissen um sein Anfängerglück ihm irgendwie die Laune verdorben. Diesmal wusste er, was er tat.

Er ruderte mit dem Dingi durch das dunkle Wasser zurück zur Flamingo Marina und zur Baby, wo er das Boot an einer Klampe festmachte.

»Klampe«, sagte er laut. »Kla-, Kla-, Klampe.«

Das hätte eine nette, rhythmische Melodie gegeben, aber jetzt war nicht die richtige Zeit zum Singen oder Tanzen, jetzt war die Zeit für stumme Konzentration. Cal kletterte an Bord der Baby und überlegte, zu was für einem Seemann er sich entwickelte. Mann, inzwischen könnte er sogar als Matrose anheuern!

Sex-Matrose.

Aber nun lief ihm erst einmal die Zeit davon. Die Nacht würde nicht ewig dauern, und in Jachthäfen begann der Tag stets früh. Tabby musste noch vor Sonnenaufgang von hier verschwinden, und so schickte er sich an, seine brillanten seemännischen Kenntnisse in die Tat umzusetzen. Vorsichtig stieß er vom Anleger ab, ließ den Motor an und manövrierte das Boot von seinem Liegeplatz, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht gegen die Stoßfänger eines anderen Bootes zu stoßen aus Angst, sonst noch vor dem Frühstück in einer verdammten Zelle zu landen ...

Doch alles ging glatt. Anschließend navigierte Cal entlang der Bojen in die Bucht hinaus. Mit gleichmäßiger Geschwindigkeit fuhr er unter der East Bridge des Julia Tuttle Causeway hindurch und lenkte die Baby unter dem 79th Causeway hindurch nach La Gorce Island. Von da aus ging es diesmal in Richtung Baker’s Haulover Inlet. Beim letzten Mal war er durch Staatsgewässer gefahren, doch er wollte sein Glück nicht noch einmal auf die Probe stellen. Baker’s Haulover war zwar schwieriger zu befahren, aber sicherer – zumindest für Cal. Irgendwann würde er dann auf dem Atlantik Anker werfen, wo die größte Gefahr für seine Arme und Beine bestand – und vielleicht für seinen Verstand –, wenn er wieder mal ein totes Gewicht die Treppe hinaufschleppen, es aus dem Quilt wickeln und den nackten, zerschundenen Leib sehen musste, bevor er ihn über die Reling und ins Dingi wuchtete.

Doch er schaffte es und machte seinen Job perfekt.

»Na? Wer ist jetzt der dumme Hund, Jewel?«, brüllte Cal in die Nacht hinaus.

Niemand hörte ihn außer den Vögeln und Fischen.

Und vielleicht Gott.