31. KAPITEL

Gedämpft hörte Annabelle Männerstimmen durch die Tür, während sie das Badezimmer nach irgendetwas zum Anziehen durchsuchte. Was sie fand, waren zwei Waschlappen und noch ein Handtuch. Nicht unbedingt ein angemessenes Outfit für eine Unterhaltung mit Engeln. Aber wenn sie so tun müsste, als wären Waschlappen die neueste Mode, wäre es eben so. Auf keinen Fall würde sie wie ein schmutziges kleines Geheimnis hier drinnen bleiben.

Zacharel musste ihre wachsende Frustration und Entschlossenheit gespürt haben, denn er öffnete die Tür, lugte herein, musterte sie von oben bis unten, zwinkerte und warf dann ein Gewand herein.

Verträumt seufzte sie, als sie es überzog, völlig aus der Bahn geworfen von dem, was sie und Zacharel miteinander getan und einander gesagt hatten. Natürlich hatte sie längst gewusst, dass er sich in sie verliebt hatte, aber es ausgesprochen zu hören, war etwas so Berauschendes … Zu wissen, dass sie, Annabelle Miller, dieses seltene Exemplar gezähmt hatte. Einen eiskalten Krieger, erfüllt von einer Fleischeslust, die, einmal aus dem Käfig gelassen, nie wieder Ruhe geben würde.

Mit zitternden Händen zupfte sie den Stoff zurecht, bevor sie aus dem Bad ging.

„… habe Unversöhnlichkeit ausfindig gemacht“, erklärte Koldo gerade.

Augenblicklich suchte ihr Blick nach Zacharel. Auch er trug ein Engelsgewand. Golden lag das Kunstlicht auf seiner Haut, als sei er eine Skulptur der Perfektion und Macht.

Auch Zacharel hatte den Blick auf sie gerichtete anstatt auf seinen Soldaten. Er winkte sie zu sich. Offenbar reichte es jedoch nicht, neben ihm zu stehen, denn er legte den Arm um ihre Taille und zog sie so eng an sich, als wollte er mit ihr verschmelzen.

Als deutlich wurde, dass keiner der Männer bereit war, die Unterhaltung wieder aufzunehmen, beschloss sie, es selbst zu tun. „Also, wo ist Unversöhnlichkeit und wie lautet der Plan?“

Drückende Stille. „In der Hölle“, verkündete Koldo schließlich. „Er ist in der Hölle, und er behauptet, er würde dich freigeben, wenn Zacharel sich bereit erklärt, zu fallen.“

Eis machte Annabelles Blut träge, scheuerte stechend durch ihre Adern. „Keine Chance. Absolut keine Chance.“ Er würde seine Unsterblichkeit verlieren. Seine Fähigkeit, Dämonen zu sehen – und zu bekämpfen. Aber sie könnten ihn immer noch sehen und angreifen. „Er wird nicht fallen.“ An Zacharel gerichtet fügte sie hinzu: „Du wirst nicht fallen. Warum will der Dämon das überhaupt?“

„Weil ich dann leichter zu töten bin, nicht mehr so ein Dorn im Auge. Aber diese Entscheidung wirst du nicht für mich treffen, Annabelle.“

„Du wärst der dümmste Mann aller Zeiten, wenn du dich damit einverstanden erklärst. Er lügt. Du weißt, dass er lügt. Er wird mich niemals freiwillig gehen lassen.“ Das war nur geraten, aber eins wusste sie: Dämonen waren nicht in der Lage, die Wahrheit zu sagen.

„Für eine Chance, dich zu befreien, würde ich alles tun.“

„Nein!“ Dass Zacharel auch nur in Erwägung zog, zu fallen, verstörte sie. Jedes andere Mädchen hätte wahrscheinlich vor Begeisterung Luftsprünge veranstaltet, weil ein solches Opfer der ultimative Beweis seiner Liebe wäre. Doch Annabelle war nicht irgendein Mädchen, und sie wusste von all dem, was sein Fall nach sich ziehen würde. Nicht bloß Zacharels Ruin, sondern auch den seiner Männer.

Das könnte er sich niemals verzeihen. Er hatte bereits seinen Bruder verloren, und die Tatsache, dass er selbst ihm den letzten Stoß versetzt hatte, war ein ständiger Stachel in seiner Seite, rieb ihn wund, ließ ihn niemals heilen.

„Wir verschwenden nur Zeit“, befand sie. „Ich will, dass du zu deiner Gottheit gehst – und nicht fällst!“

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“

„Bitte ihn, etwas, ich weiß nicht, Mächtiges zu unternehmen. Etwas Großes.“

Er schüttelte den Kopf und das schwarze Haar tanzte ihm um die Schläfen. „Mir steht eine Strafe zu, nicht Hilfe. Außerdem ist alles, was er tun kann, mir den Zutritt zur Hölle zu erlauben, und das wird uns gar nichts helfen.“

„Eine Strafe?“ Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Wofür?“

Sein Griff um ihre Hand wurde fester – seine Art, zu sagen: Nicht jetzt, Weib. Später. Zur Antwort kniff sie ihn. Ihre Art, zu sagen: Das werde ich nicht vergessen, Engel.

Sie drehte sich, um die Hände an seine Wangen zu legen und ihn zu zwingen, sie anzusehen. „Weißt du noch, worüber wir gesprochen haben?“, fragte sie und sprach nicht aus, was sie meinte: Unversöhnlichkeit einsperren. „Warum es so wichtig ist, dass wir genau diesen Weg wählen? Also sprich mit deiner Gottheit, in Ordnung? Bitte. Er hat dir eine Armee gegeben, hat dich befördert. Ob er nun wütend auf dich ist oder nicht, es muss doch noch mehr geben, was er tun kann.“

Er öffnete den Mund – um zu protestieren, sie wusste es genau.

„Wenn du es nicht tust, wird irgendwann jemand anders mit Unversöhnlichkeit kämpfen und ihn besiegen.“ Wenn das geschah, würde sie sterben – und Zacharel würde sich die Schuld daran geben.

In seinen Augen flackerte Unschlüssigkeit, verwandelte das Grün in einen stürmischen Ton von Jade. Sie manipulierte ihn und wusste es, doch sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Er sollte Unversöhnlichkeit bekämpfen, nicht alles verlieren.

„Ich will dich nicht allein lassen“, wich er aus.

„Bitte, Zacharel. Tu es für mich. Für uns. Koldo wird bei mir bleiben.“

Er massierte sich den Nacken. „Also gut. Ich werde mit der Gottheit reden, aber ich kann nicht versprechen, dass etwas Gutes für uns dabei herauskommt.“ Suchend blickte er den großen, starken Krieger an ihrer Seite an. „Bleib hier. Bewach sie. Ich werde nicht lange fort sein.“

Ja!

Koldo nickte.

„Ich liebe dich“, sagte Zacharel und küsste sie.

„Ich liebe dich auch. So sehr.“

Einen Moment lang hielt er inne, als könnte er es nicht ertragen, sie zu verlassen. Dann breitete er die Flügel aus und sprang in die Luft, schoss durch die Decke, war nicht mehr zu sehen.

„Hoffst du, dass ich dich umbringe, solange Zacharel fort ist?“, fragte Koldo. „Hast du ihn deshalb fortgeschickt? Du bist mit Unversöhnlichkeit verbunden, und durch deinen Tod würdest du auch ihn töten – und Zacharel retten.“

„Bisher hatte ich nicht daran gedacht.“

„Warum nicht?“

„Weil Zacharel sich die Schuld daran geben würde – und dir.“

„Es gibt Wege, dafür zu sorgen, dass er niemals erfährt, was vorgefallen ist.“

„Drohst du mir?“

Er zuckte nur mit den breiten Schultern.

Um Zacharel vor dem Fall zu bewahren, würde sie so ziemlich alles tun. Sogar sterben. Zacharel würde sich die Schuld geben, egal was Koldo sagte, und er würde um sie trauern. Doch er würde ein langes Leben haben. Alles in allem schien das ein fairer Tausch zu sein. Er würde weiterhin seine Männer anführen. Irgendwann würde er einer anderen Frau begegnen – Annabelle verabscheute sie schon jetzt – und wieder Liebe erfahren.

„Woher weißt du überhaupt, dass ich mit ihm verbunden bin?“, fragte sie. Erst vor Kurzem hatte sie es selbst herausgefunden, und sie hatte niemandem davon erzählt. Genauso wenig wie Zacharel.

Er überhörte ihre Frage. „Nur damit du es weißt, mit einem bloßen Dolchstich ist es nicht getan, Weib. Davon wirst du nicht sterben.“

„Hey, niemand redet hier von Dolchen!“, bremste sie ihn stirnrunzelnd. Aber wenn sie es tat, wie würde sie vorgehen?

„Aber du bist bereit, dich für Zacharel zu opfern?“

„Natürlich.“

„Selbst dazu, gegen Unversöhnlichkeit anzutreten?“

„Das vor allem. Warum willst du das wissen?“

Wieder ignorierte er ihre Frage. „Selbst wenn Unversöhnlichkeit dir Schmerzen zufügt, bevor du stirbst?“

„Ja, aber ich könnte ihn auch plattmachen, nur um das mal festzuhalten.“

„Nein, das könntest du nicht.“

Sie hob den Arm und zeigte ihm ihren Bizeps. „Hast du den hier gesehen? Und wie ich das könnte.“

„Damit könntest du nicht gewinnen. Dazu bräuchte es noch etwas. Etwas, von dem ich mir nicht sicher bin, ob du es besitzt. Also warum bist du bereit, dein Leben aufs Spiel zu setzen?“, bohrte er nach. „Ich verstehe das nicht.“

Das war leicht. „Ich liebe Zacharel, und ich will ihn vor jeglichem Leid bewahren – auch vor Leid, das er sich selbst zufügen könnte. Ich weiß nicht, ob er dir von seinem Bruder erzählt hat …?“

Mit einer scharfen Kopfbewegung verneinte Koldo. „Er hat es mir nicht erzählt, aber wir alle wissen von Hadrenials Tod.“

Aber wusste irgendeiner von ihnen, wie Hadrenial genau gestorben war? Wenn nicht, würde sie nicht diejenige sein, die es ausplauderte, also beließ sie es bei: „Sein Verlust hat Zacharel fast vernichtet, und noch immer kämpft er mit Scham und Schuldgefühlen. Wenn er fällt, wird seine Armee – dich eingeschlossen – mit ihm fallen, und damit wird er nicht leben können.“

Finster starrte Koldo sie an. „Nein. Das hätte er uns gesagt.“

Das würde sie verraten müssen, denn es war der einzige Weg, es Koldo verständlich zu machen. „Ihm wurde die Verantwortung für euch übertragen, und sein Schicksal wird auch eures sein. Euer aller Schicksal.“

„Woher willst du das wissen?“ Zorn ging pulsierend von ihm aus, scharf wie ein Messer.

„Er hat es mir gesagt, und du weißt, dass er niemals lügt.“

Ein Augenblick verstrich in Stille. Dann nickte er, als hätte er gerade eine Entscheidung getroffen. „Du bist sehr tapfer. Annabelle.“ Es war das erste Mal überhaupt, dass er ihren Namen ausgesprochen hatte, und der tiefe Respekt in seiner Stimme verschlug ihr die Sprache. „Vielleicht besitzt du tatsächlich dieses besondere Etwas.“

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr, blickte auf und hätte fast geschrien. Ein Schlangendämon lauerte in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers und beobachtete sie.

Einen Sekundenbruchteil schwebte sie zwischen Kampf und Flucht, doch ihr Kampfinstinkt gewann die Oberhand. Breitbeinig stellte sie sich hin und ballte die Hände zu Fäusten, machte sich bereit.

Doch der Dämon fauchte nur in ihre Richtung, dann in die von Koldo, und schlängelte sich davon.

„Warte hier. Ich werde zurückkommen und dir deinen Wunsch erfüllen“, grollte Koldo – und verschwand.