Das ist es also, das Ende, dachte Annabelle. Eine köstliche Wärme durchflutete sie, prickelte in ihren Adern wie Champagner und stand im absoluten Widerspruch zu der Hoffnungslosigkeit, die sie empfand. Der Wind peitschte ihr wild durchs Haar, brannte schneidend auf ihrer wunden Haut. Und … und … oh, gütiger Gott, ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Brust, quetschte ihr Herz zusammen wie mit einer grausamen Faust. Vergessen waren die Wärme und das Prickeln. Augenblicklich verkrampft, stieß sie einen Schmerzensschrei aus.
„Ruhig, Annabelle.“
„Was ist los … was hast du gemacht … Oh Gott!“
„Das Wasser kann wehtun, während es dich heilt.“
Diese verfluchten Dämonen, die für all das verantwortlich waren. „Aber ich … bin nicht verletzt.“
„Doch, das bist du. Wahrscheinlich hast du es nur durch den Adrenalinschub nicht bemerkt.“
„Kannst du uns … sicher runterbringen?“ Oh Gott, sie konnte kaum sprechen vor Qualen. Diese Dämonen mussten mehr getan haben, als sie bloß zu kratzen.
„Nein, nicht kontrolliert und aus eigener Kraft. Der Aufprall wird schmerzen, und ich will ehrlich sein: Dieser Schmerz wird schlimmer sein als alles, was du je erlebt hast.“
Ich werde nicht schreien, ich werde nicht schreien, ich werde wirklich, wirklich nicht schreien. „Gibt’s auch eine gute Nachricht?“
„Der Schmerz wird nicht lange anhalten. Bald wirst du gar nichts mehr spüren, das schwöre ich.“
„Weil ich … tot sein werde.“ Atmen, immer weiteratmen. Doch selbst das verstärkte nur den schraubstockartigen Druck um ihr Herz. Schweiß trat aus ihren Poren und gleichzeitig verwandelte sich ihr Blut in Eiswasser. Dagegen würde der Aufprall die pure Erlösung sein.
„Ich habe dafür gesorgt, dass du überleben wirst.“ Zacharels Arme um ihren Leib waren stark und tröstlich. Einen seiner Flügel hatte er um sie gezogen, als wollte er den Aufprall dämpfen. Der andere flatterte hilflos im Luftzug umher, als würde er jede Sekunde abreißen.
Sie wünschte, ihr Herz würde endlich Nägel mit Köpfen machen und ihr aus der Brust springen. Was auch immer er ihr da eingeflößt hatte, musste schlimmer sein als jeder Aufprall und … Ohhh, wieder peitschte eine Woge der Qual durch ihren Leib.
So, das war’s also. Gleich bist du tot. Nach all den Kämpfen, die sie überlebt hatte, all den schweren Zeiten, war sie wirklich sauer, dass es auf diese Weise enden sollte. Mit einem solchen Knall, ha ha. Bis heute hatte sie nicht das Grab ihrer Eltern besuchen können. Hatte den Dämon, der sie ermordet hatte, nicht umgebracht, weil er nie wieder aufgetaucht war; und gefangen in ihrer Zelle in der Anstalt hatte sie ihn nicht jagen können. Nicht dass sie gewusst hätte, wie sie das anstellen sollte. Nicht einmal ihrem Bruder hatte sie Lebewohl sagen können, selbst wenn er kein einziges Wort erwidert hätte.
Immer näher kam die Erde. So grün, so wunderschön. Tränen brannten ihr in den Augen. Die Brust wurde ihr noch enger. Näher … jeden Moment …
„Es tut mir leid“, sagte Zacharel und drehte sich im nächsten Augenblick in der Luft, sodass sein Rücken dem Boden zugewandt war und ihr Blick in den Himmel ging. Ein verschwommener Eindruck von hübschem Blau und Weiß. Dicke Wolken, die sich überall türmten. „Der Schmerz, den du gleich erleiden wirst, so kurz er auch dauern wird … es tut mir leid“, wiederholte er.
„Das muss es nicht. Du hast alles getan, was in deiner Macht stand …“
Da verspannte er sich, und sie wusste es. Der Aufprall.
Bumm! Sie krachten durchs Geäst, schleuderten von einem Baum in den nächsten; mit jedem Schlag mischte sich ihr keuchender Atem, bis sie keine Luft mehr den Lungen hatten – oh, Moment, da war doch noch etwas gewesen, bewies der nächste Aufprall, der sie dann vollständig ausleerte.
Immer weiter schleuderten sie in die Tiefe, ohne langsamer zu werden, bis … bumm! Der zweite Aufprall war weit härter, harscher, ging ihr bis ins Mark. Doch jetzt bewegten sie sich nicht mehr. Einfach so.
Schwärze zog sich wie ein Spinnennetz über ihr Blickfeld. Fürs Erste konzentrierte sie sich darauf, ihre Lungen wieder in den Griff zu kriegen. Einatmen, ausatmen, anfangs zu schnell, doch nach ein paar Minuten wurde sie langsamer, atmete regelmäßiger. Minuten wurden zu Stunden, Stunden zu Ewigkeiten, bevor sie die Kraft fand, sich aufzusetzen. Das war ein Fehler. Eine Woge des Schwindels rollte durch sie hindurch, stellte ihre Welt auf den Kopf. Sie war nass. Vollkommen durchnässt, wenn man es genau nahm. Und, oh Baby, jetzt kamen die versprochenen Schmerzen. Eine bunte Mischung aus Brennen, Stechen und Pochen.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie sich um.
Zersplitterte Äste direkt über ihr machten einen schnurgeraden Weg für die Sonne frei. Heiß lagen die Strahlen auf ihrer Haut und ließen sie glühen wie im Scheinwerferlicht. Vor ihr lag still und wartend ein tiefer Wald. Smaragdgrüne Blätter strichen übereinander, taubedeckt, und der Duft von Wildblumen lag in der Luft.
Neben ihr … neben ihr lag Zacharel hingestreckt, die Augen geschlossen, sein Körper regungslos. Beide seiner Flügel zeigten in seltsamen Winkeln von ihm weg. Sein weißes Gewand war nicht länger weiß, sondern blutrot.
Blut, so viel Blut. Überall. An ihrem gesamten Körper – seinetwegen. Es lief ihm aus dem Mundwinkel, tropfte ihm vom Kinn. Dort, wo sein Gewand zerrissen war, quoll es in Massen hervor wie aus einer rostigen Handpumpe. Sein Oberkörper war verstümmelt, einer seiner Oberschenkel aufgerissen. An seinem gebrochenen Fußgelenk war der nackte Knochen durch die Haut gestoßen und ragte zersplittert empor.
Ihre Eltern, aufgeschlitzt, mit leerem Blick.
Ihre Eltern in einer Pfütze aus langsam gerinnendem Blut.
In ihr stieg ein hysterisches Lachen auf. Wieder einmal würde Annabelle aus einer grauenhaften Szene hervorgehen, ohne großen Schaden davongetragen zu haben.
Nein. Nein! So würde sie Zacharel nicht zurücklassen. Sie würde ihn nicht sterben lassen.
Er ist längst tot, schaltete sich ihr gesunder Menschenverstand ein.
Nein! widersprach ihr sturer Kern. Sie kannte ihn noch nicht besonders lange, aber er hatte ihr das Leben gerettet. Zweimal. Hatte für sie gesorgt. Er, der Mann, der behauptete, seinen eigenen Bruder getötet zu haben. Er, der Mann, der gesagt hatte, er könnte sie ohne Zögern töten. Er, der Mann, die niemals log.
Sie würde nicht den Fehler begehen, ihn zu vermenschlichen. Zu versuchen, ihm akzeptable Gründe dafür zu unterstellen, dass er sie bedroht hatte. Doch ebenso wenig würde sie ihn verlassen. Er hatte sein Bestes gegeben, um sie zu beschützen.
Schwankend kämpfte Annabelle sich auf die Knie und tastete nach seinem Puls. Sein Herz schlug zwar unregelmäßig, doch es schlug. Es gab noch Hoffnung!
Gott, wenn du zuhörst, ich danke dir! Mit zitternden Händen flickte sie Zacharel so gut wieder zusammen, wie sie konnte – unter Würgen, unter Tränen, unter Schluchzen. Bleib nur noch ein bisschen länger bei uns. Er braucht Hilfe.
„Du wirst wieder gesund“, versprach sie Zacharel. „Du wirst überleben.“
Suchend blickte sie sich im sie umgebenden Wald um. Wenn sie eine Trage baute, eine Art Schlitten, könnte sie ihn … wohin ziehen? Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Egal. Sie würde ihn hinter sich herziehen, bis sie jemanden fand, der Hilfe holen konnte.
„Was hast du mit ihm gemacht?“
Harsch schnitt die Stimme hinter ihr durch die Luft, traf sie so voller Hass und Zorn, dass sie vor Schreck vornüberkippte und sich mit den Händen auffangen musste. Blut spritzte auf. Schnell richtete sie sich auf und wirbelte herum. Wieder packte sie der Schwindel und die Spinnennetze kehrten zurück. Diesmal blitzten blendende Lichtpunkte darin auf.
Keine zwei Meter von ihr entfernt lauerte ein Tier von einem Mann auf sie.
Keuchend fuhr sie mit den Händen in die Schlitze in ihren neuen Kleidern und packte zwei von den Messern, mit denen die Wolke sie versorgt hatte. Gut. Die hatte sie im Fallen nicht verloren. Sie richtete beide auf den beängstigend aussehenden Neuankömmling, während sie sich auf die Füße kämpfte. „Komm mir nicht näher. Sonst wirst du’s bereuen.“
Unregelmäßige Schürfwunden zogen sich über seine Wangen, sie sahen an den Rändern aus wie verbrannt, doch beim Anblick seiner übrigen Haut musste sie an polierte Kupfermünzen denken. In seinen schwarzen Augen brodelten Wut und Hass. Das dunkle Haar trug er in langen, perlenbesetzten Zöpfen, und obwohl er ein weißes Gewand trug, war er kein Engel. Er konnte kein Engel sein. Über seinen massigen Schultern ragten keine Flügel empor.
Hasserfüllt starrte er erst sie, dann Zacharel an. Als er diese unergründlichen Augen wieder auf sie richtete, verengte er sie, und jetzt knisterten orange-goldene Flammen darin. Irgendwie war dieses Feuer um ein Vielfaches schlimmer als die Emotionen zuvor.
Sie blinzelte, und dann stand er vor ihr – ohne auch nur einen Schritt gemacht zu haben. Lange, kräftige Finger legten sich um ihre Handgelenke und drückten zu. Doch sie klammerte sich weiter an ihre Waffen.
„Lass mich los!“, forderte sie und versuchte, ihm das Knie in die Eier zu rammen.
Er wich der Berührung aus. „Lass die Waffen fallen.“
Damit sie – und Zacharel – ihm hilflos ausgeliefert waren? „Niemals!“
Sein Griff wurde fester. Noch als ihre Knochen brachen und ihr ein grausamer Schmerz bis in die Schultern fuhr, weigerte sie sich, die Finger von den Messern zu lösen.
Ich habe schon Schlimmeres ertragen. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie gegen die Benommenheit und die immer dichter werdenden Spinnennetze mit den blitzenden Lichtern darin an. Noch einmal fand sie die Kraft, zu versuchen, ihm eins in die Weichteile zu verpassen. Offenbar hatte er angenommen, sie wäre vom Schmerz überwältigt und würde sich geschlagen geben – denn diesmal war er unvorbereitet und sie traf.
Doch statt sich zusammenzukrümmen, schleuderte er sie beiseite, sodass ihr sowieso schon malträtierter Körper gegen einen Baum krachte und nutzlos zu Boden sackte.
„Bleib da.“ Angespannt behielt er sie im Blick, als er sich neben Zacharel kniete.
„Nein! Ich lass nicht zu, dass du ihm wehtust“, schrie sie und rappelte sich wieder auf die Füße. Und Danke, Gott! Noch immer hielt sie die Messer in ihren schmerzenden, anschwellenden Händen.
Überraschung leuchtete in diesen gefährlichen Augen auf. Über ihre Worte oder wegen ihrer Hartnäckigkeit? Was auch immer der Grund sein mochte, als Nächstes war sie überrascht, als er Zacharel in einer weichen Bewegung vom Boden aufhob. Eine solche Sanftheit hätte unmöglich sein sollen für jemanden, der mehr Monster als Mann zu sein schien.
Trotzdem hielt sie weiter eins der Messer auf ihn gerichtet. „Ich weiß nicht, wer du bist oder was du hier machst, aber wie ich schon sagte, ich werde nicht zulassen, dass du ihm wehtust.“
„Ich bin Koldo, und ich würde ihm niemals wehtun.“
Vor Erleichterung wäre sie fast in die Knie gegangen. Koldo. An den Namen erinnerte sie sich. Er mochte kein Engel sein, doch er war Zacharels Freund. Ihr Krieger hatte gesagt, sie solle sich nicht gegen ihn wehren, kurz bevor er seiner Wolke befohlen hatte, zu verschwinden. „Wohin bringst du ihn? Was hast du mit ihm vor?“
„Weg. Ihn retten.“
Diese harsche Stimme musste bei Zacharel irgendetwas in Gang gesetzt haben, denn flatternd hoben sich seine Lider. Schwach versuchte er, sich zu befreien, und murmelte: „Das Mädchen.“ Dann hustete er, und Blut blubberte aus seinem Mund.
Er war noch am Leben!
Mit einem erleichterten Seufzen stürzte sie zu ihm. Bloß dass sie ihn nicht erreichte. Beide Männer verschwanden, als wären sie nie da gewesen. Eine Woge der Panik und des Kummers überrollte sie, während sie noch herumwirbelte, nach irgendeiner Spur von ihnen suchte – und nichts entdeckte.
So ist es am besten. Koldo würde Zacharel die Hilfe holen, die er brauchte. Ohne sie würden die Dämonen ihn in Ruhe lassen und …
Starke Arme schlossen sich um sie und zogen sie ruckartig an eine ebenso starke Brust. Instinktiv schlug sie um sich, rammte den Hinterkopf ans Kinn ihres Gegners. Er grunzte, gab jedoch nicht nach. Dann löschte ein Vorhang aus unerträglich blendendem Weiß den Wald aus. Als Nächstes verschwand das Gras unter ihren Füßen. Mehrere qualvolle Sekunden lang konnte sie nicht atmen, sich nicht rühren, und wurde umspült von einem grauenvollen Eindruck des Nichts.
Die Panik kehrte zurück, stärker, überwältigend, doch als sie den Mund zu einem Schrei öffnete, erstrahlte eine neue Welt um sie herum. Ein Märchen. Über ihr erhob sich ein Deckengewölbe aus rosa Kristallen, in dessen Mitte ein diamantenbesetzter Kronleuchter hing. Die Wände waren mit feinstem Samt bezogen, die Fenster aus satiniertem Glas mit kunstvoll drapierten weißen Vorhängen. Dahinter war … Sie war sich nicht sicher, sah nichts als Schwärze durch die Scheiben. Auf dem Mahagoni-Fußboden lagen mehrere dicke Teppiche in Pastelltönen.
Der Raum war so riesig, dass er in mehrere Bereiche aufgeteilt war. Neben einem Schlafbereich gab es eine Sitzgruppe, die aus einer halbkreisförmigen Couch mit Blumenmuster und drei dazu passenden Sesseln bestand, die um einen quadratischen Glastisch herum angeordnet waren. Auch eine Küche gab es. Auf dem Esstisch stand eine Kristallvase mit einem üppigen frischen Blumenstrauß, dessen herrlicher Duft die Luft erfüllte.
Was das Schlafzimmer anging, fasste dort derselbe geraffte Stoff wie an den Fenstern das riesigste Bett ein, das sie je gesehen hatte.
Bett. Düster hallte das Wort in ihrem Kopf wider, eine Erinnerung an all das, was einem dort widerfahren konnte … Und jetzt war sie mit ihrem Gegner allein.
Steh da nicht so blöd rum. Wehr dich!
Mit der Kraft eines erneuten Adrenalinstoßes riss Annabelle den Arm hoch und schlug ihrem Entführer die geschwollene Faust aufs Auge. Endlich ließ er die Arme fallen, und sie wirbelte herum, um ihm gegen den Kehlkopf zu schlagen und ihn außer Gefecht zu setzen. Ihr gegenüber stand Koldo, doch als seine Identität bei ihr ankam, war es schon zu spät, ihre Bewegung zu stoppen. Schon rasten ihre Hände auf ihn zu, die vergessenen Messer auf seine Halsschlagadern gerichtet. Damit würde sie ihn bis zum Rückgrat durchbohren.
Er musste mit dem Angriff gerechnet haben, denn er bog den Oberkörper zurück, außer Reichweite.
Danke, Gott, schon wieder. Aber so richtig. Schwer ließ sie die Arme sinken. „Tut mir leid, hab ich nicht gewusst und konnte nicht mehr aufhören. Wo ist Zacharel?“ In einem einzigen Atemzug sprudelten die Worte aus ihr heraus.
„Steck zuerst deine Waffen weg“, befahl er. Noch immer kochte in seiner Stimme eine tief verwurzelte Wut, die er nicht verbergen konnte, wahrscheinlich nicht einmal verbergen wollte. Pure Emotion, die für nichts anderes Platz ließ.
„Okay. Ja.“ Auch wenn sie keine Angst vor ihm hatte – na ja, jedenfalls nicht viel –, hämmerte ihr das Herz gegen die Rippen, als sie versuchte, ihm zu gehorchen. Doch was sie auch versuchte, ihre Finger blieben unbeweglich um die Messergriffe gekrümmt. Sie waren zu geschwollen, um sie zu bewegen.
„Weib! Jetzt.“
„Ich kann nicht“, sagte sie mit brechender Stimme. Er hatte schon bewiesen, dass er alles tun würde, um seinen Freund zu beschützen. Wie zum Beispiel eine fremde Frau durch den Wald schleudern, nachdem er ihr die Handgelenke gebrochen hatte. „Meine Hände machen da nicht mit.“
Vom Bett her ertönte ein Stöhnen, das sofort ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Die reinweißen Decken gerieten in Bewegung, erinnerten sie plötzlich an einen heftigen Schneesturm.
Nein, das waren keine Decken, erkannte sie. Zacharel. Er lag mitten auf dem Bett. Sie hatte ihn übersehen, weil sein Gewand weiß war. Irgendwie war das Blut in den paar Minuten ihrer Trennung verschwunden. Hastig stürzte sie auf ihn zu.
Koldo streckte einen Arm aus und bremste sie.
Kampfbereit hob sie die Messer, ungeachtet der Tatsache, dass sie auf derselben Seite standen, doch er benutzte seine freie Hand, um die Waffen aus ihren Fingern zu schälen. Erst dann trat er beiseite. Sie krabbelte aufs Bett und versuchte, dabei nicht ihre Hände zu belasten. Vorsichtig, ganz vorsichtig, um nur ja nicht die Matratze ins Schaukeln zu bringen.
„Ich bin hier, und ich werde so lange über dich wachen, wie ich kann“, versprach sie mit sanfter Stimme, als sie bei Zacharel war. Zu ihrem Erstaunen wurde er wieder ruhig. „Aber ich bin mir nicht sicher, wie lange das sein wird“, fügte sie mehr an Koldo gerichtet hinzu. „Ich ziehe die Dämonen an, und offenbar finden sie mich, wo immer ich auch bin. Noch einen Angriff wirst du nicht überstehen. Nicht in diesem Zustand.“
Seine Flügel waren immer noch gebrochen, und jetzt, wo das Blut fort war, konnte sie mehrere Stellen sehen, an denen ihm Federn fehlten. Kalkweiß war er, die einzige Farbe in seiner Haut waren die dunklen Schatten unter seinen Augen. In seiner Unterlippe klaffte ein scharf umrissenes Loch. Ein Ast musste sich bis in sein Zahnfleisch gebohrt haben.
„Wieso bin ich ohne einen Kratzer davongekommen und er sieht so aus?“, fragte sie leise.
Koldo baute sich am Fußende des Betts auf. „Hast du irgendetwas getrunken, bevor ihr auf dem Boden aufgetroffen seid?“
Sie versetzte sich zurück, erinnerte sich, wie Zacharel ihr diesen einen Tropfen Wasser eingeflößt hatte. Die Wärme, die sich in ihrem Körper ausgebreitet hatte, der Schmerz. „Ja. Aber nicht viel.“
„Nicht viel war immer noch genug.“
Ein sehr guter Einwand. „Was war das für ein Zeug?“
Wieder ein Moment des Schweigens. Statt ihre Frage zu beantworten, wechselte Koldo das Thema. Anscheinend machten Engel das so. „Er hat keine Ruhe gegeben, bis ich ihm versichert habe, dass du am Leben bist. Außerdem hat er mich schwören lassen, ich würde dafür sorgen, dass du an seiner Seite bleibst.“
Aber … aber … Warum machte Zacharel das? „Gibt es einen Weg, seine Genesung zu beschleunigen?“
Als Koldo nicht weitersprach, warf sie ihm einen aufgebrachten Blick zu. „Ja und? Was wäre das? Das Wasser, das er mir gegeben hat?“ Das Wasser, von dem er ihr den letzten Tropfen eingeflößt und dann die Flasche weggeworfen hatte?
Auf Koldos Zügen, hart geworden in vermutlich unzähligen Schlachten, war nicht die Spur einer Emotion zu entdecken. Doch das Feuer in seinen Augen konnte er nicht verbergen. „Diese Information werde ich nicht an einen Menschen weitergeben, erst recht nicht an die Gemahlin eines Dämons.“
„Aber das bin ich nicht!“
„Selbst an eine Dämonengemahlin, die Zacharel zu beschützen beschlossen hat, werde ich diese Information nicht weitergeben“, fügte Koldo hinzu und runzelte die Stirn, als hätte er gerade etwas Seltsames gespürt.
Aus einem Engel Antworten herauszukitzeln, war, als würde man einen Felsbrocken einen Berg hinaufrollen, befand Annabelle – ein verdammter Haufen Arbeit ohne besonders großen Erfolg. „Dieses geheimnisvolle Etwas, das Zacharels Heilung beschleunigen würde. Kannst du das besorgen? Oder hast du es sogar schon?“
„Ja, ich kann es beschaffen. Nein, ich habe es nicht.“
Schweigen.
Einen Felsbrocken mit Stacheln. „Ja, dann beschaff es doch!“
„Nein.“
Uuund noch mehr Schweigen.
„Es sei denn“, setzte er – Wunder über Wunder – ohne eine weitere Frage ihrerseits hinzu, „du leistest einen Eid, Zacharel für einen Monat aus dem Himmel fernzuhalten, ohne ihm etwas von unserer Vereinbarung zu verraten. Die einzige Ausnahme wäre im Fall einer Schlacht.“
„Warum willst du ihn weghaben?“ Und warum glaubte Koldo, sie könnte Zacharel zu irgendetwas zwingen? Na gut, der Engel wollte, dass sie bei ihm blieb. Er hatte außerdem versprochen, ihr beizubringen, wie man gegen Dämonen kämpfte, also ja – was das Zusammenbleiben anging, war sie voll dabei. Aber das bedeutete nicht, dass er tun würde, was sie von ihm wollte.
Davon abgesehen: Wagte sie es überhaupt, sich für einen festgelegten Zeitraum an ihn zu binden? Wie sie gesagt hatte, folgte die Gefahr ihr im Augenblick auf Schritt und Tritt, und diese Gefahr hatte ihn bereits fast umgebracht. Ein anständiges Mädchen würde sich bei der ersten Gelegenheit von ihm trennen.
Koldo nahm die Hände zurück und ballte sie zu Fäusten, die Beine schulterbreit aufgestellt. Eine Kampfhaltung, die sie erkannte, denn sie hatte genau dasselbe getan, jedes Mal, wenn sie in der Anstalt einen Dämon entdeckt hatte. „Alles, was ich brauche, ist ein Ja oder Nein, Weib. Mehr nicht.“
Suchend schoss ihr Blick zurück zu Zacharel, dessen Qualen so sichtbar waren wie das Schimmern ihrer Messer auf dem Boden. Die Lippen hatte er zu einer Grimasse verzerrt, und langsam wurden sie blau. Verdreht krümmten sich seine gebrochenen Finger über der Decke, zu schwach, um daran zu zerren. Er brauchte dieses „Etwas“ von Koldo, was auch immer es sein mochte. Anderenfalls würde er sterben.
Lieber sollte er mit ihr und ihrer Gefahr leben als ohne sie zu sterben.
„Ja“, erwiderte sie schließlich. Ich schulde Zacharel etwas, und meine Schulden begleiche ich immer. Zumindest war das ihr neues Motto. „Meine Antwort lautet Ja.“ Doch konnte sie Koldo trauen? Würde er sich an seinen Teil der Abmachung halten? Hatte sie überhaupt eine Wahl?
Koldo nickte, ein einziges steifes Beugen seines Kopfes, bei dem die Perlen in seinem Bart leise klickend aneinanderschlugen. „Dann soll es so sein. Noch eine Frage: Wenn ich euch verlasse, was wirst du mit Zacharel machen?“
Sie verlassen? Und damit sie, die Frau ohne Hände, als Zacharels einzigen Schutz zurücklassen? „Wie lange wirst du fort sein?“
„Das weiß ich nicht.“
Was sechs Stunden heißen konnte oder sechs Tage. Oder sogar sechs Jahre. „Ich werde mich um ihn kümmern, so gut ich kann.“
„Der Ausdruck ‚um ihn kümmern‘ kann vieles bedeuten. Ihn töten, retten, rächen. Allein zurücklassen. Ich brauche eine explizitere Aussage von dir.“
Natürlich brauchte er das. Genau wie Zacharel verlangte er Details, während er selbst sich weigerte, welche preiszugeben. „Ich meine, ich werde ihn pflegen, für ihn sorgen. Ich würde ihm niemals absichtlich Schaden zufügen, und ich werde ihn nicht hilflos allein zurücklassen.“
Er bewegte die Zunge im Mund, als wollte er die Wahrheit ihrer Worte erschmecken, bevor er nickte. „Wüsste er, dass du ihn als hilflos bezeichnest, würde er dich hassen“, erklärte er – und verschwand.
Hey! „Koldo? Krieger?“
Nichts, keine Reaktion.
In ihr wuchs die Frustration, und sie knackte mit dem Kiefergelenk. Weder wusste sie, wie lange er fort sein würde, noch wo sie war oder was sie tun sollte, wenn hier Dämonen auftauchten, bevor er zurückkehrte. Denn mit ihm hatten sich auch ihre Messer in Luft aufgelöst. So was von misstrauisch.
Doch sie war es gewohnt, dass man an ihr zweifelte oder sie ignorierte, und sie weigerte sich, das als verletzend zu empfinden. Statt sich in ihrem Elend zu wälzen, würde sie über Zacharel wachen. Den Engel, der ihr das Leben gerettet hatte. Den Mann, in dessen Schuld sie stand. Die erste Person, die in ihr mehr als eine Mörderin zu sehen schien.
Sie würde ihn verteidigen – was auch immer dafür nötig wäre.