Was ist denn mit dir passiert?“ Thane war gerade in Koldos unterirdisches Zuhause bei Half Moon Bay, Kalifornien, geflogen, als er den Krieger entdeckt hatte. Ausgestreckt lag er auf dem Bett, den Kopf geschoren und den Rücken in Fetzen.
Blutstropfen waren auf seinen Wimpern verkrustet und zerbrachen, als dunkle, glasige Augen sich öffneten und versuchten, sich auf Thane zu richten. „Wasser des Lebens“, lautete die krächzende Antwort.
Hätte ich mir auch denken können. Nur einmal hatte er den Himmlischen Hohen Rat um Erlaubnis ersucht, zum Fluss des Lebens zu gehen. Sie hatten von ihm verlangt, als Sterblicher zu leben, mitten unter den Menschen, einen ganzen Monat lang. Eine Bedenkzeit hatte er nicht gebraucht. Er hatte sich geweigert, also war ihm die Erlaubnis verwehrt worden. Sterbliche waren hilflos, und nichts war diese Hilflosigkeit wert.
Nachdenklich verschränkte er die Arme vor der Brust und sagte: „Sie haben dir dein Haar genommen.“ Das war offensichtlich, doch sein Schock war einfach zu groß.
„Ja.“
„Und du hast es geschehen lassen.“
„Ja.“
„Warum?“
Koldo schloss die Augen. „Warum bist du hier, Krieger?“
Das Ausweichmanöver überraschte Thane nicht. Koldo war niemand, der seine Probleme preisgab. Das war keiner von ihnen. Was ihn allerdings überraschte, war die Ungezwungenheit, mit der Koldo zu ihm sprach. Normalerweise bekam man nicht mehr als ein gebelltes „Ja“ oder „Nein“ aus ihm heraus. „Zacharel hat mir befohlen, herzukommen.“
„Du hast ihn knapp verpasst. Er war mit dem Mädchen hier.“
Die Tatsache, dass Zacharel freiwillig eine Menschenfrau durch die Weltgeschichte schleppte … Was würde wohl als Nächstes kommen? „Ging es ihnen gut?“
„Ja“, antwortete Koldo erneut, doch diesmal kam das Wort nur zögerlich. „Er wollte sie bei sich haben, in Sichtweite. Die Tatsache, dass ich sie berührt hatte, auch wenn es vollkommen unschuldig war, gefiel ihm gar nicht.“
So viele Wörter auf einmal. Die Schmerzen mussten seine Hemmungen abgebaut haben.
Doch das war nichts gegen das, was er gesagt hatte. Zacharel, der noch nie die geringste Emotion gezeigt hatte, war besitzergreifend und eifersüchtig.
Was für menschliche Empfindungen würden noch in Zacharel entfesselt? Vor allem, wenn er das Mädchen verlor? Und er würde sie verlieren. Sterbliche waren empfindlich, so leicht zu zerdrücken wie eine Fliege; Engel nicht.
„Wo sind deine Jungs?“, fragte Koldo. „Normalerweise sind sie nicht weit von dir, wo immer du auch steckst.“
„Björn ist auf der Suche nach Jamila. Vor ein paar Tagen hat sie Zacharels Wolke verlassen und ist seitdem nicht mehr gesehen worden. Xerxes untersucht die Überreste einer Rotte von Dämonen, die unter genau dieser Wolke gefunden wurden.“
„Und du suchst Zacharel, um seinem Befehl zu folgen.“
„Nicht ganz.“ Er hatte in Zacharels Geist gesprochen, genau wie Zacharel es bei ihm getan hatte. Das könnte er wieder tun und fragen, wo Zacharel war, ob es ihm gut ging oder ob er Hilfe brauchte, aber das würde er nicht. Diese Art der Verbundenheit mit irgendjemandem außer Björn und Xerxes verstörte ihn genauso wie vermutlich auch Zacharel. „Hat er gesagt, wohin er wollte? Oder was er vorhatte?“
„Wenn, dann war ich zu sehr damit beschäftigt, hier ohnmächtig herumzuliegen, um drauf zu achten.“
Thanes konnte nicht anders. Er grinste. Ein Witz aus dem Mund des stets ernsten Koldo. Das war fast so verblüffend wie Zacharels Besessenheit von diesem Mädchen. Und es bewegte Thane zu etwas, von dem er wusste, dass er es nicht tun sollte.
Er marschierte in die Küche und suchte sich alle Zutaten für ein Sandwich zusammen. Eigentlich sollte er in diesem Augenblick auf der Jagd nach einem weiteren Dämon sein, den sie foltern könnten. Es war ein ziemlicher Schock gewesen, als der letzte, den er gefangen hatte, nicht ein Wort verraten hatte. Was auch immer er ihm angetan hatte, der Lakai hatte es stoisch ertragen. Über diese Neuentwicklung würde er seine Kameraden in Kenntnis setzen müssen. Doch auf irgendeine Weise wollte er Koldos Qualen lindern, wenigstens ein bisschen.
„Du darfst mir nichts zu essen geben“, erinnerte Koldo ihn vom Bett aus.
Nein, das durfte er nicht, sosehr er sich auch wünschte, es wäre anders. Bis Koldos Rücken verheilt war, dürfte ihm kein anderer Engel auf irgendeine Weise helfen. Anderenfalls würde derjenige bis in alle Ewigkeit die Schmerzen ertragen müssen, die er zu lindern gehofft hatte. „Ich hab Hunger und brauch was zu beißen. Wenn du meine Reste essen willst, ist das deine Sache.“ Wie er langsam begriff, konnte man jede Regel irgendwie umgehen.
Genüsslich biss Thane in das Puten-Käse-Sandwich, während er zurück zum Bett schlenderte. Er nahm einen weiteren Bissen und dann noch einen, bevor er den Rest beiläufig auf dem Nachttisch ablegte. Dann ging er wieder in die Küche und goss sich ein Glas Orangensaft ein. Die Hälfte stürzte er hinunter, bevor auch das Glas ein neues Heim auf dem Nachttisch fand.
Für einen langen Moment betrachtete Koldo schweigend das Essen. Dann sah er auf zu Thane. „Ich werde dir sagen, warum ich das Wasser des Lebens wollte, wenn du schwörst, niemals auch nur ein Wort von dem wiederzugeben, was du hören wirst.“
Ein Eid war heilig für ihr Volk. Nur zu oft fühlte sich Thane wie ein Mann ohne die geringste Ehre, als gäbe es nichts, was er nicht tun würde. Keine Grenze, die er nicht überschreiten würde. Doch das stimmte nicht ganz. Einen Schwur hatte er noch nie gebrochen, und das würde er auch niemals tun. „Ich schwöre es.“
Nach einer bedeutungsschweren Pause setzte Koldo an: „Zacharel lag im Sterben. Das Mädchen hat geschworen, ihn für einen Monat aus dem Himmel fernzuhalten, wenn ich ihn heile. Ich wusste, dass das Wasser des Lebens das Einzige wäre, das ihn heilen könnte, also habe ich etwas davon für ihn beschafft.“
Stumm nahm Thane die Worte in sich auf, versuchte, einen Sinn dahinter zu erkennen, jedoch ohne Erfolg. „Warum einen Monat lang?“
„Ich brauche Zeit, um gesund zu werden. Zeit, um zu suchen … zu handeln.“
Die tiefe Inbrunst in den Worten des Kriegers ließ keinen Zweifel daran, dass das „Handeln“ mit Blutvergießen einhergehen würde. „Raus damit.“
„Dein Eid der Geheimhaltung erstreckt sich auch darauf?“
Was bedeutete, dass er diese Unterhaltung nicht einmal Björn und Xerxes gegenüber erwähnen würde. „Das tut er.“
Ein fast unmerkliches Nicken. „Alle glauben, ein Dämon hätte mir vor all den Jahren die Flügel ausgerissen. Ich lasse sie in ihrem Glauben, weil ich keine Fragen über die wahren Begebenheiten beantworten will.“
„Und die wahren Begebenheiten waren … was?“, fragte Thane und wusste, dass Koldo ihm antworten würde. Nicht aufgrund seines Schwurs, sondern weil die Wahrheit wie ein Gift in Koldo brodelte, das er verzweifelt auszumerzen versuchte.
„Ein Engel hat mir meine Flügel genommen, und ich habe vor, sie dafür zu töten.“
Schon öfter hatte Thane sich gefragt, warum der stoische Koldo, der unerschütterliche, unbeugsame Krieger, auf den sich jeder verlassen konnte, in diese Armee der letzten Chancen versetzt worden war. Gerüchten zufolge hatte er jemanden zusammengeschlagen, aber noch nie hatte Thane den Krieger in irgendeiner Weise jähzornig erlebt. Jetzt fanden ein paar Puzzleteile an ihren Platz. Ob nun diese Prügelei damit zu tun hatte oder nicht – Koldo war ein Soldat in Zacharels Armee, weil er Rache im Herzen trug.
„Wenn Zacharel auch nur den Hauch einer Ahnung davon hätte, würde er versuchen, dich aufzuhalten.“
„Ja.“
„Und du glaubst, ich werde das nicht tun?“
Ohne Zögern erwiderte Koldo: „Ja, das glaube ich. Du kennst den Wert von Vergeltung.“
Und die Hoffnungslosigkeit. Nach ihrer Rettung aus dem Kerker, als ihre Körper wieder verheilt waren, waren Thane, Björn und Xerxes dorthin zurückgekehrt. Drei Tage und drei Nächte lang hatte ein erbitterter Kampf um die Vorherrschaft in jenem Kerker getobt. Natürlich hätten sie die Dämonen darin einfach töten können, das Gebäude anstecken und allem binnen einer Stunde ein Ende setzen, doch das hatten sie nicht gewollt. Keinem ihrer Folterer hatten sie einen schnellen, leichten Tod gegönnt.
Also hatte ihn auch keiner bekommen. Zu dritt hatten sie den Kerker erobert, jeden darin lebendig in ihre Gewalt bekommen. Bis heute hallten die gequälten Schreie manchmal in Thanes Kopf wider. Doch mit seiner Vergangenheit hatte er dadurch keinen Frieden geschlossen … Und er wusste, dass auch seine Jungs keinen Frieden gefunden hatten.
„Du wirst tun, was du für notwendig hältst“, antwortete er schließlich. „Ich werde es Zacharel nicht erzählen.“ Nachdenklich hielt er inne und neigte den Kopf zur Seite. „Wer ist sie, diese Frau, die dich verraten hat?“
„Das werde ich dir nicht sagen.“
„Weil du denkst, ich würde sie schützen wollen. Interessant. Ich muss sie kennen. Aber egal. Eine Sache über mich kannst du dir merken: Zwei Männer sind mir wichtig – und niemand sonst.“ In dem engen Gefängnis seines Herzens war kein Platz für andere. „Deine Engelfrau bedeutet mir nichts.“
Schweigen.
Thane seufzte. „Du wirst mich wissen lassen, wenn ich etwas tun kann, um dir bei deiner Mission zu helfen.“ Eine Forderung.
„Es gibt nichts, was du tun kannst. Das muss ich allein schaffen. Sie versteckt sich vor mir, und ich werde niemand anderem gestatten, sie aus den Schatten hervorzuzerren. Ich will derjenige sein, der sie aufspürt.“
Verstanden. „Also gut. Ich lass dich jetzt allein und …“Plötzlich durchzuckte ihn ein Gefühl der Vorahnung, gefolgt von abgehackten Bildern, die in seinem Kopf aufblitzten. Zwischen ihm und Zacharel musste weiterhin eine starke geistige Verbindung bestehen, denn er spürte die Furcht und den Zorn seines Anführers.
Zacharel, projizierte er in dessen Geist. So viel zum Thema seelischer Abstand.
Nichts, keine Antwort.
Zacharel, was ist los?
Wieder kam keine Erwiderung.
Ignorierte Zacharel ihn? Oder war er zu schwer verwundet, um zu antworten?
„Ich muss gehen“, sagte er zu Koldo. Er würde den Engel auf die altmodische Art aufspüren müssen.
„Es gibt Ärger?“
„Mach dir keine Sorgen, das ist nichts, was dich betrifft“, wich er aus. Er würde nicht zulassen, dass der Mann von Sorgen zerfressen wurde, während er nichts ausrichten konnte. „Ich komme wieder, sobald ich kann.“
Annabelle stand in der Mitte des Schlachtfelds, erschöpft und trotzdem noch voller Adrenalin, während schwarzes Blut in Rinnsalen um ihre Füße floss. Abwesend rieb sie sich die Brust, um endlich die Glut zu lindern, die sich in der Höhle dort festgefressen hatte, als Zacharel … als er … Und es wurde noch heißer in ihrer Brust, während sie verzweifelt rieb.
Denk nicht darüber nach. Um sie herum türmten sich die Leichen von Dämonen, und stechend hing der Gestank verfaulter Eier in der Luft – so durchdringend, dass sie würgen musste. Genau. Darüber würde sie nachdenken. Das war wesentlich erfreulicher.
Zacharel hatte sein Feuerschwert hervorgezaubert und den Monstern wortwörtlich die Hölle heiß gemacht. Er hatte niemanden entkommen lassen. Zu ihrer Überraschung hatte er auch ihr zwei Messer in die Hand gedrückt, nachdem sie ihr eigenes, ihr letztes, hatte fallen lassen, sodass sie weiterkämpfen konnte.
Und wie sie gekämpft hatte. Immer wieder waren die scharfen Klingen durch Halsschlagadern gefahren, hatten Bäuche aufgeschlitzt und selbst Kniekehlen zerschnitten, damit sie ihre lahme Beute leichter erledigen konnte. Was ihr an Können fehlte, hatte sie wettgemacht durch Kreativität und Entschlossenheit.
„Bist du verletzt?“, fragte Zacharel eindringlich, während er über die reglosen, kopflosen Körper hinweg zu ihr stapfte.
Bevor er auf den Gedanken kam, seine Messer zurückzuverlangen, schob sie die Klingen durch die Schlitze in ihren Hosentaschen, hinein in die Scheiden darunter. „Mir geht’s gut.“ Okay, sie war zerschnitten und blutete, und gut, einer ihrer Knöchel war verdreht und pochte fies. Aber Schmerzen dieser Art würde sie auf ewig ertragen, wenn das bedeutete, dass sie ihre Feinde besiegte. „Und du?“
Aufmerksam musterte er sie von oben bis unten, um sich selbst eine Meinung zu bilden. Gleichzeitig betrachtete auch sie ihn genauer. Er war genauso blutbespritzt wie sie, Schweiß lief ihm von der Stirn, und sein Gewand klebte ihm am Leib.
„Ich komme schon zurecht. Komm, wir müssen dich saubermachen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.
Wenigstens zwang er sie nicht, die Finger mit seinen zu verschränken, sondern wartete, bis sie den Kontakt herstellte. Sie leckte sich die Lippen und wünschte sich, es gäbe einen anderen Weg, diesen Ort zu verlassen. Doch soeben hatte er das einzige Wort ausgesprochen, das sie jetzt noch erreichen konnte. Saubermachen. Das schwarze Blut brannte auf ihrer Haut, ließ sie anschwellen.
Ausdruckslos sagte er: „Es tut mir leid, was ich dir angetan habe, Annabelle. Aus tiefstem Herzen. Ich wollte nicht … Ich hab mich mitreißen lassen … Es tut mir leid“, wiederholte er.
Eine solche Ehrlichkeit aus seinem Mund hätte sie überraschen sollen, doch das tat sie nicht. „Das weiß ich doch“, erwiderte sie. Und jetzt, wo ihr Geist von den Fesseln der Furcht befreit war, stimmte das auch. Es war sein erster Kuss gewesen, seine Empfindungen hatten ihn vollkommen übermannt, genau wie sie … bis er ihr das Oberteil zerrissen und ihre Brüste entblößt hatte und die Erinnerungen an Fitzpervers und seine Kamera wieder hochgekommen waren. „Aber nur dass du’s weißt, ich werde dich nicht noch mal küssen wollen.“
Dieser Teil ihrer Beziehung war vorbei. Auch wenn Zacharel ihr nicht hatte wehtun wollen, er hatte es getan. Hatte das überaus zerbrechliche Vertrauen missbraucht, das sie ihm gegenüber aufgebaut hatte. Er hatte nicht aufgehört, als sie ihn darum gebeten hatte, und so etwas konnte sie nicht noch einmal riskieren.
Unter seinen frostig grünen Augen zuckten winzige Muskeln, ein Zeugnis von mit purer Willenskraft im Zaum gehaltener Wut. „Du wirst deine Meinung ändern.“
Sollte diese Willenskraft je nachlassen … „Nein, das werde ich nicht, und ich werde nicht mit dir gehen, bis du das akzeptierst. Ach, weißt du eigentlich, dass du wieder schneist?“
Zuerst zeigte er weder auf ihre Worte noch auf ihre Zurückweisung eine Reaktion. Dann breitete er mit einem machtvollen Schulterzucken die Flügel aus und betrachtete eingehend die Federn des einen, dann des anderen. „Ich muss etwas getan haben, das von Neuem das Missfallen meiner Gottheit erregt hat. Und ich kann mir denken, was das war.“
Enttäuschung machte seine Züge weicher, ließ ihn so jungenhaft aussehen wie in der Höhle, als er sie so verzweifelt begehrt hatte. Ich werde nicht weich werden. Doch langsam, endlich, verblasste das Brennen in ihrer Brust.
„Also darum ging es bei dem Schnee?“, hakte sie nach. „Womit hast du denn ursprünglich ihr Missfallen erregt?“
„Ich habe Menschen getötet, um Dämonen zu töten. Menschen, die einer Rettung wert gewesen wären, auch wenn ich das damals nicht erkannt habe. Menschen, die möglicherweise genauso waren wie du. Ich bin froh, dass ich dich nicht einfach ohne Weiteres für schuldig befunden und getötet habe.“
Während sie darüber nachdachte, überbrückte Zacharel die restliche Distanz zwischen ihnen und wartete nicht länger darauf, dass sie die Finger in seine Hand legte. Als er mit seinem starken Körper immer näher kam, stolperte sie zurück, verfing sich mit dem Fuß in einer der Leichen und fiel auf den Hintern. „Wäre auch eine ziemliche Schande gewesen.“
Sofort sprang sie wieder auf und blieb in Bewegung, um den Abstand zu vergrößern, was ihr jedoch nicht gelang. Schließlich spürte sie in ihrem Rücken einen Baumstamm. Hämmernd schlug ihr das Herz an die Rippen, doch sie hatte keine Angst. Vielleicht, weil sie wusste, dass er nicht mehr im Taumel der Lust war. Vielleicht auch, weil er so unermüdlich an ihrer Seite gekämpft hatte, nach jedem geschlagen hatte, der an sie heranzukommen versucht hatte, während sie durch den Kampf mit einem anderen abgelenkt war.
Er hatte sogar Verletzungen in Kauf genommen, nur um zu verhindern, dass sie verletzt wurde.
„Was machst du da?“, fragte sie.
Grünes Feuer loderte auf sie herab. „Du wirst mich wieder küssen, Annabelle, denn ich gebe dir mein Wort, dass ich kein zweites Mal die Kontrolle verlieren werde. Ich habe meine Lektion gelernt, und zwar gründlich.“
„Deine positiven, mit Glauben erfüllten Behauptungen wirken bei mir nicht.“
„Tatsächlich? Versuch nicht, mir zu erzählen, du würdest mich nicht mehr begehren. Ich weiß, dass es nicht so ist. Ja, das alles ist neu für mich, aber ich bin nicht dumm. Deine Pupillen sind geweitet, dein Puls hämmert wie verrückt dort an deinem Hals, und was ich gemacht habe, hat dir gefallen, bis ich zu weit gegangen bin. Mir klingt immer noch dein Stöhnen in den Ohren.“
Sie schluckte, überlegte kurz, zu lügen, dachte Scheiß drauf und knallte ihm die Wahrheit vor den Latz. Lügen würden ihr nur Probleme bereiten. „Ja, anfangs hat es mir gefallen. Da hast du recht. Aber dann war es mir wirklich verdammt unangenehm.“
„Aus deinem Ton kann ich nur schließen, dass du mir meine Chance, mich zu beweisen, verweigern willst.“ Er lehnte sich ein winziges Stück näher. Zu nah, denn sie spürte seinen Atem wie ein betörendes Streicheln auf ihrer Haut. „Dass du mich bestrafen willst. Nun gut, ich nehme meine Strafe an. Für eine Weile.“ Sie schluckte.
„Aber du wirst mir wieder vertrauen, Annabelle. Du wirst mich wieder begehren, und wir werden zusammen sein. Ich werde mich benehmen. Du wirst schon sehen.“
Eigentlich hätte seine Arroganz sie auf die Palme bringen sollen. Doch das Wissen, dass er sie so sehr wollte, dass er bereit war, alles zu tun, um mit ihr zusammen zu sein, wirkte wie ein Aphrodisiakum. Und wenn irgendjemand die Willensstärke besaß, sich in letzter Sekunde die Befriedigung zu verweigern – oder sonst etwas –, dann Zacharel. Von jetzt an würde er die Kontrolle behalten.
Vielleicht hatten seine glaubenserfüllten Worte bereits gewirkt.
„Ich bin mir nicht sicher, warum wir einander überhaupt wollen“, grummelte sie.
„Genauso wenig wie ich, aber es ist trotzdem eine Tatsache, dass wir einander wollen.“
„Vielleicht bin ich einfach bloß oberflächlich. Du bist ganz hübsch.“
„Das reicht fürs Erste.“
Der Mann brachte sie zur Weißglut. Nicht eine Beleidigung verstand er so, wie sie gemeint war. Seufzend legte Annabelle ihm die Arme um den Hals. „Na gut, ich komme mit.“
Hauptsächlich war es Befriedigung, die in seinem Gesichtsausdruck lag, als er sie an seinen starken Körper zog und mit ihr nach oben schoss.
„Warte! Meine Sachen“, rief sie aus, als sie erkannte, dass er nicht zurück zu der Höhle flog.
„Ich will nicht das Risiko eingehen, zurückzufliegen und noch mehr Dämonen vorzufinden. Wir werden dir neue Sachen kaufen.“
Noch eine Shoppingtour? „Das klingt irgendwie nach Bestechung.“
„Was immer nötig ist.“
Fast hätte sie gelacht. Fast. „Zu dem Spiel gehören aber zwei. Stell dich auf Ausgaben im fünfstelligen Bereich ein – ohne Gegenleistung.“
„Solange wir nicht nur Kleider, sondern auch Cookies kaufen, ist das für mich in Ordnung.“
Cookies. Hinterlistiger Engel, dass er ihr ausgerechnet damit kam; sie an seinen Genuss erinnerte, seine sinnliche Freude.
Dann warnte er sie: „Zeit für dein Bad. Halt die Luft an.“ Er glitt hinab, tauchte in einen glasklaren See, bevor sie fragen konnte, warum.
Augenblicklich war sie umgeben von eiskaltem Wasser, sogar noch kälter als seine Flügel, keuchte, würgte und schauderte. Und gerade als sie dachte, sie würde es nicht länger aushalten, durchbrach er wieder die Oberfläche und stieg hinauf in die Wolken.
Dass er so mühelos dahinschwebte, obwohl seine Flügel klatschnass sein mussten, zeugte erneut von seiner unglaublichen Kraft. „Nächstes Mal … ein bisschen … früher warnen“, brachte sie unter Hustenkrämpfen hervor.
„Ich bitte um Verzeihung. Wie viel mehr Zeit hättest du gern?“
„Vielleicht eine Stunde. Eher zwei.“ Auch wenn keine Zeit der Welt sie auf ein so eisiges Bad vorbereiten könnte.
„Sehr wohl. Aber ich muss gestehen, sich um eine Frau zu kümmern ist schwieriger, als selbst ich mir vorgestellt hatte.“
„Hey! Ich bin nicht anstrengend. Ich hab Feuer.“
Sein Blick bohrte sich tief in ihren. „Für einen Mann, der niemals für jemand anderen als sich selbst sorgen musste, bist du in der Tat anstrengend, aber interessanterweise macht mir diese Anstrengung nichts aus.“